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Ruhe vor dem Sturm

Titelthema - Ruhe vor dem Sturm
Dezember 1954: Ein älteres Ehepaar wärmt sich am Kohleofen. 68 Jahre später könnten Öfen ein Comeback erleben, wenn die Fernwärme ausfällt. © bpk/fotoarchiv ruhr museum/marga kingler

Österreich ist schlecht auf den Winter vorbereitet. Zwar lagern riesige Gasvorräte unter dem Weinviertel, doch sie zu fördern gilt als Tabu.

Josef Urschitz01.09.2022

Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen, sonst nicht gerade ein Freund großer öffentlicher Statements, fand neulich überraschend klare Worte: Auf das Land komme im Winter ein massives Energie- und Teuerungsproblem zu, das wegen seiner gesellschaftlichen Spaltungstendenzen durchaus demokratiegefährdend sein könne, warnte das Staatsoberhaupt bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele. Der Grund der präsidentiellen Sorge: Haushalte und Industrie in der Alpenrepublik sind in sehr hohem Ausmaß von Erdgas abhängig. Und dieses Erdgas kommt immer noch zu mehr als 80 Prozent aus Russland.


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Das heißt, es kommt eben nicht mehr. Zumindest nicht in ausreichendem Maß, seit Russlands kriegführender Präsident Wladimir Putin den Gashahn als wirksames Instrument gegen „unfreundliche“ Staaten in Westeuropa entdeckt hat.

Bleiben die Lieferungen gänzlich aus, was nicht unwahrscheinlich ist, dann droht im kommenden Winter tatsächlich so manche Wohnung kalt zu bleiben und so mancher Industriebetrieb stillzustehen. Denn die teils kindischen Gas-Spartipps der amtierenden grünen Energieministerin Leonore Gewessler („beim Kochen unbedingt Deckel auf den Topf“) werden nicht reichen, die drohende Energielücke zu füllen. Die Gasspeicher sind erst zu 60 Prozent gefüllt. Und die Regierung ist, nach anfänglich lähmender Untätigkeit, nun zwar auf der Suche nach Alternativen fündig geworden. Aber ob die schnell genug operativ werden können, steht in den Sternen.

Die fast völlige Energieabhängigkeit von Russland, eine der höchsten in der EU, ist dem Land freilich nicht einfach so passiert: Eine Gruppe von Politikern und Managern (vielfach aus der Autozuliefer- und Papierindustrie) hat das Land im vergangenen Jahrzehnt ganz bewusst in die fast völlige Abhängigkeit von Russland getrieben. „Diese Leute haben ihre eigenen finanziellen Interessen über jede Moral gestellt“, sagte der ehemalige Chef des österreichischen Energiekonzerns OMV, Gerhard Roiss, in einem Interview mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin Profil. Der Lohn waren unter anderem eine ganze Reihe von lukrativen Aufsichtsratsposten in russischen Unternehmen für österreichische ExPolitiker und staatsnahe Manager. Und der von Putin persönlich verliehene „Orden der Freundschaft“ für den Roiss-Nachfolger an der OMV-Spitze, den von Wintershall geholten deutschen Manager Rainer Seele.

In der Vor-Seele-Ära war Österreich in Sachen Energieversorgung nämlich auf einem sehr vielversprechenden Diversifizierungsweg unterwegs. Die OMV hatte sich an großen Gasfeldern in Norwegen und im rumänischen Teil des Schwarzen Meers beteiligt und entsprechende Pipelineprojekte vorangetrieben. Die beiden Beteiligungen hätten den österreichischen Gasbedarf zu mehr als zwei Dritteln gedeckt und die Abhängigkeit von Russland in diesem Bereich auf deutlich unter 20 Prozent gedrückt.

Fast eine Million Gasheizungen

Nachdem eine einflussreiche „Gruppe von PutinVerstehern“, wie das Roiss nannte, Seele auf den Chefposten der OMV gehievt hatte, war diese Strategie Geschichte: Die Pipeline- und Explorationspläne im Schwarzen Meer wurden eingestellt, die klare Strategie lautete jetzt „Russland über alles“. Seele wollte sogar die norwegischen Gasfelder der OMV verklopfen, die ein Drittel des österreichischen Gasbedarfs liefern würden, wenn das dort geförderte Gas nicht ausschließlich anderswo verkauft würde. Der Plan, einen substanziellen Teil des Norwegen-Geschäfts an die Gazprom zu verhökern und im Gegenzug eine Beteiligung an einem sibirischen Gasfeld einzugehen, wurde glücklicherweise von der norwegischen Regierung gestoppt: Die Norweger wollten begreiflicherweise keine Russen in ihrem Teil der Nordsee.

Glücklicherweise deshalb, weil das Nordseegas jetzt einer der Rettungsanker für die österreichische Gasversorgung sein könnte: Die OMV hat sich ausreichende Pipelinekapazitäten gesichert, um ihr in der Nordsee gefördertes Gas ab Oktober erstmals auch tatsächlich nach Österreich zu bringen. Und gleich noch Kapazitäten, um LNG von Terminals in den Niederlanden und Italien ins Land zu holen. Das wird, wenn es funktioniert, die Lage entspannen. Für Entwarnung ist es aber eindeutig zu früh.

Dafür, dass das Land in einer derart prekären Lage steckt, ist die Bevölkerung erstaunlich ruhig. Es gibt kaum Proteste und gejammert wird höchstens über die stark gestiegenen Preise. Die Angst vor kalten Wohnzimmern und Küchen scheint sich noch in Grenzen zu halten. Das ist seltsam. Denn in Österreich ist nicht nur die Industrie bei der Prozesswärmebereitung extrem von Gas abhängig, auch in sehr vielen Privathaushalten bleibt es ohne (derzeit noch überwiegend russisches) Gas kalt: Fast eine Million Gasheizungen sind im Land in Betrieb. Ein Viertel aller Haushalte ist solcherart von Putins Wohlwollen abhängig. In Wien sogar annähernd die Hälfte.

Schnelle Alternativen gibt es nicht: Wärmepumpen sind in vielen älteren Bauten nur mit sehr hohem Aufwand einbaubar. Abgesehen davon, dass es die Geräte in ausreichender Zahl nicht gibt. Pelletheizungen sind in Stadtwohnungen nur schwer realisierbar und Fernwärme wird überwiegend mit russischem Gas erzeugt.

Eine verzwickte Situation, die von der Bevölkerung aber noch relativ gelassen hingenommen wird. „Wird schon irgendwie gehen“, lautet offenbar die zutiefst österreichische Devise. Diese Einstellung hat übrigens dazu geführt, dass hierzulande nach der russischen Invasion in der Ukraine viel Zeit verloren ging: „Während etwa deutsche Politiker mit wechselndem Erfolg schon hektisch um die Welt jetteten, um neue Gasversorgungsquellen aufzutun, lag in Wien der Fokus noch auf einem gemeinsamen Gaseinkauf der EU. Die anderen werden es schon richten …

Die Wirtschaft handelt, die Politik nicht

Auch jetzt ist vieles noch unklar und die politischen Strategien, so sie überhaupt kommuniziert werden, sehen ziemlich erratisch aus. Glücklicherweise warten die Unternehmen nicht länger auf die Politik. Zahlreiche große Betriebe haben den alternativen Gaseinkauf für ihren Eigenbedarf in die Hand genommen und füllen Speicher auf. Dort, wo das möglich ist, werden Gaskraftwerke für den Kohleeinsatz fit gemacht. Die Möglichkeiten sind aber eingeschränkt. Während Deutschland die Möglichkeit hat, Kohle- und Kernkraftwerke länger am Netz zu lassen, um zumindest in der Stromerzeugung den Gaseinsatz zu verringern, hat Österreich ein einziges reaktivierbares Kohlekraftwerk. Und Kernkraft ist seit den 70er Jahren tabu, wenngleich sich jede Menge importierter Atomstrom im Netz tummelt.

Und über einer Quelle schwebt das große Tabu: Im Weinviertel, nordöstlich von Wien, lagern Gasvorräte, die die Totalversorgung Österreichs für 30 Jahre sichern würden. Gewinnbar allerdings nur per Fracking. Ausgerechnet die österreichische Montanuniversität in Leoben hat ein umweltverträgliches Fracking-Verfahren entwickelt und patentieren lassen, das ohne Chemikalien auskommt. Aber diskutiert wird darüber nicht. Da kauft man lieber schmutziges Fracking-Gas aus den USA. Alpenländische Energiepolitik eben.