Titelthema
Speicher für die Ewigkeit
Böden besitzen ein enormes Erinnerungsvermögen. Wer sie ein wenig lesen kann, dem dienen sie als Archive der Natur- und Kulturgeschichte.
Normalerweise sieht man Böden nicht. Denn Böden sind mehr als die dünne Humusschicht, auf der wir laufen. An Wegeböschungen oder auch in Baugruben kann man, zum Beispiel an der kräftig braunen Farbe, erkennen, dass sie teilweise mehrere Meter dick sind, es sind also dreidimensionale Objekte. Gleichwohl werden einem in Norddeutschland andere Böden begegnen als etwa am Alpenrand. Woran liegt das? Die meisten unserer heutigen Oberflächenböden sind in den vergangenen 12.000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, entstanden. Sie bestehen aus mineralischer Festsubstanz, sind gleichzeitig aber porös und locker, weshalb sie Wasser speichern können, das wiederum für die Vegetation von großer Bedeutung ist. Zahlreiche Bodenorganismen leben in den Böden und sorgen unter anderem für die Humusbildung. Seit Jahrtausenden laufen in Böden Prozesse ab, die von unterschiedlich wirksamen, sogenannten bodenbil- denden Faktoren gesteuert werden. Deren Wirkungsgefüge muss über einen längeren Zeitraum anhalten, damit sich ein dynamisches Gleichgewicht einstellt, das den verschiedenen Böden letztlich ihr unterschiedliches Aussehen verleiht.
Rot und 2,5 Millionen Jahre alt
Einen besonderen Einfluss auf die Bodenentwicklung hat dabei das Klima. Es steuert maßgeblich die bodenbildenden Prozesse, in deren Folge typische Bodenmerkmale entstehen, in denen die klimatischen Bildungsbedingungen archiviert sind. So lassen sich bereits an der Bodenfarbe vergangene Klimabedingungen ablesen. Die meisten Böden an der heutigen Geländeoberfläche sind braun gefärbt, hervorgerufen durch das Eisenoxid Goethit, das bei der Verwitterung unter den heutigen gemäßigten Klimabedingungen entsteht. Gelegentlich finden sich hierzulande aber auch rotgefärbte Böden. Dafür ist ein anderes Eisenoxid, der Hämatit, verantwortlich, der sich aber meist nur im Zuge einer intensiven chemischen Verwitterung un- ter tropischem Klima bildet. Solche Klimabedingungen haben in Mitteleuropa im Tertiär, das vor etwa 2,5 Millionen Jahren endete, geherrscht. Die roten Bodenfarben wurden in den alten Böden archiviert und zeugen heute vom warmen Klima – lange vor dem Eiszeitalter.
Oft zeigen die roten tertiären Bodenreste noch ein weiteres Phänomen, das mit der lang andauernden intensiven chemischen Verwitterung zusammenhängt: das ehemals feste Gestein im Untergrund ist so intensiv chemisch zersetzt, dass es butterweich geworden ist und mit Schaufeln oder Baggern abgegraben werden kann. In den Mittelgebirgen, zum Beispiel im Rheinischen Schiefergebirge, Erzgebirge oder Bayrischen Wald, lassen sich damit Reste alter tropischer Landoberflächen belegen.
Die beste Erde
Über vielen älteren Gesteinen, vor allem in Becken und Senken, liegt ein viel jüngeres Sediment: Löss. Dieser eiszeitliche Flugstaub kann in großer Mächtigkeit vorkommen, zum Beispiel in den Börden am Nordrand des Rheinischen Schiefergebirges, im Thüringer Becken, Kraichgau, entlang der Donau und in Niederösterreich. Oft umfasst die Lössdecke mehrere Eiszeiten. Dann kann man zwischen einzelnen Lössschichten fossile Böden erkennen, die mehrfache Klimaschwankungen mit wechselnden Warm- und Kaltphasen innerhalb der Eiszeiten belegen. Berühmte Beispiele sind die Lösswände bei Krems oder Stillfried in Österreich. In Lössgebieten finden sich heute die besten Böden überhaupt, mit mächtigen Humushorizonten, die sogenannten Schwarzerden oder Tschernoseme. Auch sie tragen ihren Namen wegen ihrer Farbe und bezeugen besondere Bildungsbedingungen. Das Klima hat zwar wieder seine Finger im Spiel, hier kommen indes mehrere Faktoren zusammen. Schwarzerden entstehen unter sogenannten kontinentalen, das heißt sommertrockenen und winterkalten Klimabedingungen. Dazu kommt, dass unter diesen Bedingungen grasreiche Vegetation Wäldern überlegen ist und außerdem der Humusabbau gehemmt ist, so dass der Humus, der die schwarze Farbe ausmacht, im Laufe der Zeit zunimmt. Eine wühlende Bodenfauna sorgt dafür, dass der Humus tief in die Böden eingemischt wird. Im Umkehrschluss lässt sich das Zusammenspiel dieser Faktoren aus dem Erscheinungsbild der Böden ableiten.
Doch nicht in allen Gebieten, wo man diese Böden heute antrifft, sind diese Bedingungen noch wirksam. Von besonderem Interesse sind daher Böden mit Zeit- und Klimamarken für einzelne Phasen des Holozäns. In der Wetterau etwa herrschen aktuell feuchtere Klimabedingungen. Die Lössschwarzerden dort sind bereits vor mehr als 8000 Jahren entstanden, aber noch heute lässt sich an einem Teil der aktuellen Böden ihre Vergangenheit erkennen, obwohl die Böden sich seitdem verändert haben. Die Schwarzerden im deutlich kontinentaleren Wiener Raum hingegen haben ihre Merkmale bewahrt. An ihnen lässt sich das Zusammenspiel der bodenbildenden Faktoren gut studieren und auf die früh-holozäne Situation in der Wetterau übertragen, weil die Böden dort die alten Merkmale über Jahrtausende archiviert haben. Wir wissen also, dass die Böden durch Klimaveränderungen umgewandelt wurden, was sich etwa durch Humusabbau, Entkalkung und Tonverlagerung im Bodenprofil erkennen lässt. Allerdings braucht es dafür viel Zeit, da viele Bodenprozesse nur sehr langsam ablaufen.
Lössböden sind die besten Ackerstandorte. Deshalb besteht eine besondere Koinzidenz von Lössgebieten und vom Menschen verursachten Bodenveränderungen. Als die ersten Ackerbauern im Frühneolithikum, vor etwa 7500 Jahren, nach Mitteleuropa einwanderten, haben sie zuerst die Lössgebiete aufgesucht. Seitdem werden Böden landbaulich genutzt. Seitdem wurde auch die Landschaft tiefgreifend verändert – von einer Naturlandschaft zu einer Kulturlandschaft. Wälder wurden gerodet und mit der wachsenden Bevölkerung nahm auch die ackerbaulich genutzte Fläche zu. Damit waren zunehmend Bodenerosionsprozesse vor allem durch Niederschläge verbunden, die auf vegetationslose Oberflächen trafen und die Ackerkrume mobilisierten. Das abgeschwemmte Bodenmaterial wurde als Kolluvium in Mulden, Senken und an Hangfüßen wieder abgelagert und wurde mit der Zeit auch in die Flusstäler transportiert, in denen heute weit verbreitete Auenlehmdecken liegen.
In hügeligem Gelände wurden Bodenprofile gekappt, stellenweise sind die Böden der Erosion vollständig zum Opfer gefallen und haben ihre ursprüngliche Fruchtbarkeit eingebüßt. Die durch die Landnutzung entstandenen Sedimentpakete überdecken andernorts die natürlichen Böden und stellen wertvolle Archive der Kulturentwicklung dar. Heute ist man in der Lage, mit einer Vielzahl von Methoden deren Geschichte(n) zu erhellen und die gespeicherten Informationen abzurufen. Dabei helfen neben Datierungsmethoden auch Bodenfunde wie etwa Keramikbruchstücke oder Holzkohlen, die anzeigen, wie Menschen früher gelebt und gewirtschaftet haben und wie die Böden genutzt wurden.
Auch in Wäldern lassen sich bei genauem Hinsehen Spuren früherer Eingriffe in die Landschaft ausmachen, denn dort findet man neben alten Ackerterrassen auch geköpfte Bodenprofile, die von einer ursprünglichen ackerbaulichen Nutzung zeugen. Auch eine jahrhundertelange Holz- und Streuentnahme hat ihre Spuren in Waldböden hinterlassen. Davon zeugen nicht zuletzt die häufig anzutreffenden Meilerplatten, die eine intensive historische Holzkohleproduktion belegen. Da- durch sind die Böden an Nährstoffen verarmt und die Humusbildung war lange Zeit gestört. Die Auswirkungen zeigen sich noch heute in verminderter Wuchsleistung des modernen Waldes.
Folgen des menschlichen Eingriffs
Besonders stark waren Böden in ohnehin nährstoffarmen Sanden der eiszeitlichen Gletschervorfelder betroffen. Die landwirtschaftliche Nutzung war in diesen Gebieten immer schon mühsam. So behalf man sich, indem man in ortsfernen Bereichen die humosen Oberböden abtrug, auch als „Abplaggen“ bezeichnet, und als Einstreu zunächst in die Viehställe einbrachte, um sie mit dem Dung der Tiere zu vermischen. Danach wurden sie auf die ortsnahen Felder aufgebracht, um dort die Nährstoffgehalte der Böden zu verbessern. Dadurch wurden im Laufe der Jahrhunderte die ursprünglichen, nährstoffarmen Böden mit einer wachsenden humosen Schicht überdeckt, es bildeten sich sogenannte Plaggenesche aus. Das Nachsehen hatten die „abgeplaggten“ Böden, denen immer wieder die wenigen Nährstoffe abgegraben wurden. Fern der Siedlungen bildeten sich deshalb Podsole aus, extrem versauerte Böden mit einem hellgrauen, aschefarbenen, ausgelaugten Oberboden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Bodenverteilung in der Lüneburger Heide. Beide Bodentypen haben auf ihre Weise die langjährige Kulturtechnik archiviert. An der Situation wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern, da Bodenentwicklungsprozesse nur sehr langsam ablaufen, die anthropogenen Eingriffe dagegen sehr rasant.
Prof. Dr. Heinrich Thiemeyer lehrt am Institut für Physische Geographie der Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Er forscht zum Thema Bodenfunktionen und ihrer nachhaltigen Nutzung sowie zu Böden als Archive der Umweltgeschichte.