Titelthema
Süßer die Glocken nie klingen ...
... als zu Gottesdiensten an Weihnachten und Ostern, zu Hochzeiten und anderen Festtagen. Wer kann sich ihrem feierlichen Klang schon entziehen? Glocken faszinieren die Menschen weltweit seit Jahrtausenden. Ihr langer Weg in unseren Kulturkreis begann vor etwa 4500 Jahren in China.
Natur und Kunst in Einklang zu bringen, das war der anspruchsvolle Auftrag, den Chinas legendärer Gelber Kaiser den Glocken vor etwa 4500 Jahren mit auf ihren Weg gab. Dafür ließ er zwölf Glocken gießen. Die Natur stellt Lehm zum Formen und die Bronze, eine Legierung aus Kupfer und Zinn, zum Gießen bereit. Der menschliche Geist vollendet mit Glockenform- und -Gießkunst das Werk. Die Glocke wurde zum Leitton für die Musik, ihr Durchmesser war das Maß der Länge, ihr Hohlraum die Maßeinheit für eine Schütte Reis.
Im buddhistischen Kulturraum gibt die Glocke dem Tempel „Gewicht“. Der Drache sollte keine Chance haben, das Fundament des Heiligtums von der Erde zu lösen. Zum Beispiel die legendäre Mingun-Glocke. Sie wiegt über 87.000 Kilogramm bei einem Durchmesser von über fünf Metern. Für diese größte klingende Glocke der Welt erbauten die Mönche die größte Pagode. Beide waren so erdrückend, dass Birma gesellschaftlich und finanziell daran zerbrach. Die Pagode wurde nie fertiggestellt und blieb als gigantische Bauruine erhalten.
Von Asien nach Bethlehem
In Asien war die Glocke das Symbol der Harmonie, und dort, wo die Harmonie ihren Klangteppich ausbreitet, kann das Böse nicht eindringen. Dieser Gedanke begleitet die Völker Mesopotamiens, Assyriens und das Reitervolk der Skythen. Sie ziehen mit glockenbehangenen Elefanten, Dromedaren oder Pferden seit dem 7. Jahrhundert vor Christus durch Steppen und Wüsten nach Vorderasien, bei dem dumpfen, bedeutungsvollen Klange der Glocken, die gleich dem Ticken des Sekundenpendels den Gang der Zeit und die uns dem Ziele zuführenden Schritte angeben, wie der Reiseschriftsteller Sven Hedin beschreibt. Auf diesem Weg fand die Glocke ins Land der Bibel, auf dem auch die Heiligen Drei Könige nach Bethlehem reisten, um als Erste die Ankunft des Herrn und das Weihnachtsfest zu feiern. In dieser Zeit trugen die Hohen Priester Israels einen mit Glöckchen gezierten Umhang, wie im Buch Sirach geradezu lyrisch zu lesen: „Der Herr kleidete mit herrlichen Gewändern: Deren Saum verzierte er mit Glöckchen und mit Granatäpfeln ringsum.“ Sie sollten bei seinen Schritten lieblichen Klang geben, damit er im Heiligtum zu hören war und sein Volk aufmerksam wurde. Zwölf Glöckchen sollen es gewesen sein. Die Zahl Zwölf steht im Judentum für die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die Vier, die Zahl der Welt, vervielfacht mit der Drei, der Zahl des Göttlichen, ergibt die Zwölf.
Die christlichen Schriftsteller Justinus und Origenes – und mit ihnen das frühe Christentum – weben weiter am bunten Faden ihrer Kulturgeschichte, Pachomius, mit dem heiligen Antonius Urvater des Mönchtums, formuliert um das Jahr 300 die zeitlose Bedeutung der Glocke: Ohne das klingende Zeichen, das den Rhythmus von Gebet, Arbeit und Muße vorgibt, verkommen die Menschen zu unmenschlichen, unkultivierten Wesen. Zur Zeit des heiligen Benedikt war es dann bereits eine heilige Gewohnheit gottseliger Mönche, mit einer wohlklingenden Glocke, dem „signum“ zum Gebet zu rufen.
Robert Schuman, einer der Urväter Europas, würdigt im Jahre 1950 die Bedeutung des Mönchtums für das christliche Abendland. Er rühmt den irischen Wandermönch Columban, der wie alle irischen Mönche auch mit einer Glocke von Irland durch Europa wanderte, als den Inspirator des modernen Europa: „Columban schuf die Grundlagen für eine spirituelle Einheit zwischen den bedeutenden europäischen Ländern seiner Zeit. Er gilt als Schutzheiliger all derer, die ein Vereintes Europa aufbauen wollen.“ Der wohl bedeutendste Beitrag zur Aufgabe des Glockenläutens kommt von Papst Sabinian um das Jahr 604: „Mit abendlichem Läuten sei an das Leiden und Sterben Jesu zu erinnern, ein Morgenläuten an die Auferstehung Jesu.“ Ihre Klänge sollten den Menschen Mut zurufen bei ihrer Suche nach dem richtigen Weg durch den Tag. Dieses Läuten hatte bisweilen auch die Aufgabe des Zeitläutens. Ein Beispiel ist die Hosanna des Freiburger Münsters,auch„Spätzles-Glocke“ genannt. Die wohl älteste Angelus-Glocke Deutschlands erinnert mit ihrem Läuten an das Gebet für den Frieden. Ihre Klänge bitten Maria um Hilfe, ist in ihrer Inschrift zu lesen. Sie ist klangvolles Zeugnis der gerade aufkeimenden Marienverehrung zur Mitte des 13. Jahrhunderts und für den Bauern auf dem Feld das Zeichen, dass die Spätzle zum Mittagessen bereitet sind.
Die „Gloriosa“ rief zur Weihe Luthers
Der berühmteste Glockengießer des Mittelalters ist zweifelsohne Gerdt van Wou. Er goss eine frühe Glocke für den Dom von Osnabrück. Legendären Ruhm erlangte er mit den drei Glocken für den Braunschweiger Dom und vor allem mit dem Guss der „Gloriosa“. Über den Guss der „Königin aller Glocken“ auf dem Domberg zu Erfurt, dessen Zeremonie beispielhaft ist für diese Zeit, schreibt der Chronist Konrad Stolle: „Am Tage vor St. Kilian, am 7. Juli 1497, mittags um zwei Uhr wurde das Feuer in den beiden Öfen angezündet, und um 10 Uhr abends war die Glockenspeise flüssig. Da kamen die Domherren in feierlicher Prozession unter Gesang und Gebet. Ein Tisch war mit mancherlei Blumen und wohlriechenden Kräutern und Kerzen schön geziert. Als es eins schlug, stieß der Meister den ersten Zapfen aus. Um zwei Uhr war das Werk gelungen, und die Herren sangen das Te Deum laudamus.“ Die „Gloriosa“ ist der Höhepunkt mittelalterlicher Gießkunst. Sie ist die klangschönste Glocke Europas, mit ihren bewegenden Klängen hat sie Martin Luther bei seiner Priesterweihe begleitet.
Der „Dicke Pitter“ in Köln war bis vor wenigen Jahren mit 24 Tonnen die größte freischwingende Glocke der Welt, für die Orthodoxe Kirche in Bukarest formte die Glockengießerei Grassmayr aus Innsbruck nun eine Glocke mit 25 Tonnen. Die polnische Vox Patris mit 55 Tonnen Gewicht, bestimmt für den Wallfahrtsort Trindade in Brasilien, wird wohl niemals freischwingend läuten, ihr Klang blieb bislang im Dunklen. Glocken sind Musikinstru mente und bei denen zählen Ton und Klang. Und deshalb ist der „Dicke Pitter“ nach wie vor die tontiefste freischwingende Glocke der Welt und die klangvollste dieser schweren Glocken.
In dieser Größenordnung erklingt auch das schönste Geläut Russlands in Rostow Welikij. Die Große Glocke („Sysoy“) hat ein Gewicht von fast 33 Tonnen. Beim Glockenschlagen werden die Klöppel an den Glockenrand gezogen. Der orthodoxe Glöckner (Kolokolist) versteht sein Läuten, besser gesagt das Schlagen der Glocken, als heiligen Dienst. Dabei werden nicht nur unterschiedlich viele Glocken angeschlagen und Melodien gespielt. Genauso wichtig ist die Lautstärke des Anschlags und der Rhythmus der Tonfolge, je nach Temperament des Glöckners. Diese Tonfolgen finden sich dann auch in den Werken bedeutender Russischer Komponisten.
Zu den schönsten Glocken Europas zählt auch die „Emmanuel“ von Notre Dame in Paris. Ein Großteil des Metalls für den Guss rekrutierte Ludwig der XIV von Kanonen und Glocken, die seine Truppen am Oberrhein erobert und nach Paris gebracht hatten. Gemeinsam mit ihrer in ganz Frankreich verehrten Schwester „Marie“ von 1396, läutete sie in den Türmen von Notre Dame. Acht Arbeiter waren sechs Wochen mit einer dafür konstruierten Glockenzerstörungsmaschine im Auftrag der Revolutionäre damit beschäftigt, „Marie“ zu vernichten. „Emmanuel“ überlebte als Staatsglocke. Victor Hugo verdanken wir das Überleben von „Marie“ im Glöckner von Notre Dame. Wie er sie erklingen lässt, das ekstatische Läuteerlebnis Quasimodos schildert, ist literarische Meisterschaft.
Weihnachten 1925 ging unrühmlich in die Geschichtsbücher ein. Der „Völkische Beobachter“ schrieb in der Weihnachtsausgabe: „Nicht Frieden sollte zu diesem Weihnachtsfest gelehrt und mit tausend Glocken verkündet werden, sondern Unfriede und Kampf gegen die ‚Schmach von Versailles‘.“ Weihnachtsglocken läuten den zweiten Weltkrieg ein. Um die Schmach von Versailles zu tilgen und „zur Stärkung der deutschen Metallreserve“ zur Kriegsführung auf lange Sicht, wurden, einschließlich der besetzten Gebiete, etwa 100.000 Kirchenglocken abgehängt. Die Glocken kamen vor allem auf den Glockenfriedhof in Hamburg. Heute sollten uns Glocken wieder daran erinnern, dass sie in ihrer Sprachlosigkeit nie allein waren. Mit ihnen verloren wir Freiheit, Menschenrechte und die Menschenwürde.
Mit den Weltkriegen ist für die in Karlsruhe geborene Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz das alte Europa untergegangen. Für sie war „Europa die Heimat kühner Gedanken, der brennenden Worte und der Schönheit“. Nun sehnt sie sich nach einer „Welt von ewigem Frieden“, in der die Glocken langsam wieder zu singen beginnen. Sie geben ihrer Hoffnung wieder eine Stimme: Nur die Glocken, die Frieden singen, die Tod singen und Weihnacht singen. Im Gegensatz zu diesen lyrischen Gedanken, lässt Goethe Mephisto schimpfen: Jedem edlen Ohr/Kommt das Geklingel widrig vor/ Und das verfluchte Bim–Bam–Bimmel/Umnebelnd heitern Abendhimmel/Mischt sich in jegliches Begebnis/Vom ersten Bad bis zum Begräbnis.
Heute werden Glocken von vielen Lärmquellen wie Straßenlärm, Handyklingeln und Autoradiobässen übertönt. Dennoch klagen Bürger gegen Glocken, weil sie sich in ihrer individuellen Zeiteinteilung gestört fühlen. Grundsätzlich: Die Kirchen haben das Recht, mit Glocken zum Gottesdienst einzuladen, Gebete, Taufe, Tod und die Liturgie, mit Geläut zu begleiten. Jedes Recht impliziert eine Verpflichtung, sorgsam damit umzugehen und deshalb Rücksicht zu nehmen, wie und wo immer es möglich ist. Aber das Abschalten ist keine Option.
Nicht nur in Zeiten von Corona schafft die Glocke Zeitgleichheit in Gedanken und im Gebet. Sie schafft Verbindung zu Menschen, denen wir – warum auch immer – nicht mehr begegnen wollen oder können. Sie erinnert uns innezuhalten, von Zeit zu Zeit, Schlag für Schlag, Gedanken an Unvergängliches, also an Dinge zu verschwenden, die wir nicht an den zehn Fingern unserer Hände abzählen können. Gerade an Weihnachten wollen uns ihre Klänge Zeit schenken für das Unbegreifliche. Glocken mit heiligem Klang – tönet die Erde entlang.
Kurt Kramer ist Glockensachverständiger und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Campanologie (Glockenkunde). Kramer verfasste das Standardwerk zur Kulturgeschichte der Glocken: „Klänge der Unendlichkeit“ (Butzon & Bercker, 2015)