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Titelthema

Treffpunkt am Rande der Gesellschaft

Titelthema - Treffpunkt am Rande der Gesellschaft
Bochum: Kiosk an der Zeche Lothringen in Gerthe, Bochum, im Mai 1961. Wo Menschen in Massen arbeiteten, kamen Kioske dem Bedarf nach einfacher Versorgung nach © Anton Tripp/Potoarchiv Ruhr Museum

In der großstädtischen Welt sind Kioske soziale Knoten, an denen sich neben einer mobiler werdenden auch eine sich soziokulturell schnell fragmentierende Gesellschaft zeigt.

Jürgen Hasse01.07.2023

In jeder Stadt gibt es ekstatische und fade Orte, extravagante wie glamouröse Bauten, und nicht weit davon unauffällige wie langweilige. Oft trügt der Schein jedoch. Es empfiehlt sich daher, Zweck und Funktion zu unterscheiden. Was in seinem baulichen Gesicht öde aussieht, kann in seinem Inneren Wichtiges beherbergen. Was von großer Bedeutung ist, wird leicht übersehen, wenn es unauffällig erscheint. Kioske gehören – jedenfalls nach ihrem Zweck – zu den wohl banalsten Orten einer Stadt. Dagegen kann ihre Architektur höchst eigenartig und facettenreich sein. Sogar große Architekten sahen sich in ihrem Entwurf ästhetisch und konstruktiv herausgefordert. Dennoch ist ein Kiosk das Andere einer gotischen Kathedrale oder eines schillernden Bankenturms. Auch wenn er noch so unscheinbar sein mag, nimmt er im städtischen Leben für zahlreiche Menschen eine vielfältige und wichtige Aufgabe wahr.

Vom heiligen Ort zum Wasserhäuschen

Was uns heute in nahezu jeder Stadt als Kiosk vertraut ist, kommt erst Mitte des 19. Jahrhunderts ins gewöhnliche Mobiliar der urbanen Welt. Lange davor verstand man unter einem Kiosk etwas ganz anderes: einen vornehmen Gartenpavillon im Lustgarten eines Sultans. Die Kioske des Adels waren in ihrer Ästhetik und Funktion weit von den nun in den Städten stehenden „Wasserhäuschen“ und „Büdchen“ entfernt. Noch größer ist der Unterschied zu den numinosen Orten der alten Ägypter, die in ihrer religiösen Bedeutung mit den heiligen Stätten der Römer vergleichbar sind. Elisabeth Naumann hat die historischen Wandlungen des Kiosks in einer Dissertation rekonstruiert, vom antiken Tempel und Mausoleum über den persischen Gartenpavillon bis zum aktuellen Verkaufsbüdchen, das nicht viel mehr als ganz Gewöhnliches und höchst Normales anzubieten hat: Zigaretten, Zeitungen, Süßigkeiten, Kaugummi, gemischte Tüten, Souvenirs und Brötchen bis hin zum Dosenbier und Flachmann. Manche sind auch noch Abholstation der Post. Spezielle Kioske sind an ihren Eigennamen zu erkennen, wie der „Imbiss-Kiosk“, der das Spektrum der Straßengastronomie bereichert.

Einfache, billige, umstandslose Versorgung

Seit dem 13. Jahrhundert werden Kioske als profane, aber ästhetisierte Bauten in den Gärten Wohlhabender sowie in aristokratischen Park- und Schlossanlagen errichtet. Erst im 19. Jahrhundert begann sich in zahlreichen Großstädten ein neuer und zugleich durch und durch profaner Gebäudetyp auszubreiten: der sich an der baulichen Gestalt des orientalischen Kiosks orientierende Verkaufspavillon. Nach Vittorio Lampugnani waren die ersten Pariser Kleinbauten (ab 1857) auf den Grand Boulevards reine Zeitungskioske, die es bis in die Gegenwart in Südeuropa gibt. Von nun an sollte der Kiosk ein fester kommerzieller Ort im architektonischen Bild der Stadt sein. Aus dem Spektrum meist einfacher Nischen-, Lücken- und Eckbauten ist er nicht mehr wegzudenken. Die meisten von ihnen sind in ihrer architektonischen Ausführung unauffällig. Dennoch gibt es eine Vielzahl kunstvoll arrangierter Kleinode. Bauhistorisch herausragende Objekte stehen sogar unter Denkmalschutz.

Der Grundriss der antiken Gebäude war entweder polygonal, viereckig oder rund; nach vorne waren sie offen und zu den Seiten mit einem Gitterwerk geschlossen. Historisch und baukulturell bemerkenswerte Bauten standen auf Säulen. Die heute eher einfachen Häuschen werden im Allgemeinen oft schnörkellos und improvisierend mit dem gebaut, was sich leicht beschaffen lässt. Der so kontrastreich verlaufende kulturhistorische Wandel des Kiosks spiegelt sich in der Etymologie des Wortes „Kiosk“ allerdings nicht wider. Was in der persischen Sprache ehemals „kusk“ hieß, wurde im Türkischen „kjosk“, im Französischen „kiosque“, im Italienischen „chiosco“, im Spanischen „quiosco“, im Englischen „kiosk“ und in der deutschen Sprache schließlich Kiosk.

Der Bautyp „Kiosk“ war im 19. Jahrhundert nicht nur eine architektonische Innovation. Er drückte zugleich einen tiefgreifenden industriekulturellen Wandel aus, der die alltäglichen Zeitregime der Leute veränderte. Die fortschreitende Industrialisierung löste soziale Veränderungen aus, die unter anderem mit der räumlichen Trennung von Wohn- und Arbeitsort einhergingen und eine noch ungewohnte zeitliche Taktung des Arbeitstages zur Folge hatten (Stechuhr, Fließband, kurze Pausen). Mit Standorten an großen Kreuzungen, bei den Bus-, Tram- und U-Bahn-Haltestellen sowie in der Nähe großer Betriebe kam der Kiosk einem neuen Bedarf nach prompter, einfacher, billiger und umstandsloser Versorgung nach. Die Betreiber boten an, was in unseren Tagen allzumal in den Fast-Food-Ketten und Dönerbuden gekauft wird. Durch das Verbot des Handels mit alkoholischen Getränken sollte sich der Kiosk zur Zeit des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland aber auch als idealer Ort der Alkoholismus-Bekämpfung erweisen. Der Verkauf von Sprudelwasser in Flaschen (daher auch der Name „Wasserhäuschen“) hatte aber einen weiteren gesundheitspolitischen Grund, denn das Trinken von nicht abgekochtem Leitungswasser galt seinerzeit als riskant.

Im „Dritten Reich“ wurden die Trinkhallen-Kioske als minderwertige Architektur angesehen. Sie entsprachen nicht dem gewünschten Bild der adretten Stadt und mussten abgerissen werden. Umso entschlossener vollzog sich in den 50er und 60er Jahren die Rekonstitution der gewohnten und liebgewonnenen informellen Treffpunkte. Allerdings setzte sich ausgerechnet da, wo um die Jahrhundertwende Hotspots der Alkoholismus-Bekämpfung entstanden waren, nun der Verkauf von Bier und Schnaps wieder durch, mit allen damit verbundenen sozialen Problemen.

Ab den 1970er Jahren entwickelte sich der Kiosk schnell zu einem universellen Mikroladen. Bis heute bildet er eine Facette im chaotisch-bunten Kaleidoskop urbaner Orte. Regional sind für den Kiosk auch andere Bezeichnungen gebräuchlich: Büdchen, Trinkhalle (nicht zu verwechseln mit den Trinkhallen des frühen 19. Jahrhunderts, die in Kurorten dem Ausschank von Heilwasser dienten), Wasserhäuschen oder als Ausdruck einer Spezialisierung zum Beispiel Zeitungs- oder Blumenkiosk. Zu spezifischen Charakteristika zählen lange abendliche Öffnungszeiten. Deshalb hat sich in Berlin der Name Späti eingebürgert. Wer vergessen hat, die Tüte Mehl für den Pizzateig frühzeitig zu besorgen, den „rettet“ der Kiosk auch am Abend noch. Mittlerweile konkurrieren die Häuschen mit den rund um die Uhr geöffneten Tankstellen-Shops, die ihrerseits Getränke, Süßwaren, Tabak und allerlei Kleinkram anbieten.

Ein Ort ohne Kraft sozialer Bindung?

Auf den ersten Blick scheint der Kiosk der „Nicht-Ort“ par excellence zu sein. Nach Marc Augé ein Ort ohne soziale Bindungskraft – ein Ort, an dem eher zufällig und dann auch bloß für einen Moment „hängen bleibt“, wer auf die Schnelle eine Zeitung oder eine Dose Bier kauft. Augé spricht unter anderem am Beispiel von Bahnhöfen und Flughäfen von transitorischen Orten ohne Identität. Sie bedeuten ihm das Gegenteil eines „nachhaltig von sozialen Beziehungen“ geprägten „anthropologischen Ortes“. Sobald man seine Zuschreibung jedoch eingehender bedenkt, verliert sie an Überzeugungskraft, verlangt zumindest eine tiefergehende Differenzierung im Hinblick auf den Sozialtyp der Kioskkunden. Für viele Menschen, die am unterprivilegierten Rand der Gesellschaft leben und nicht in einem sozioökonomischen Speckgürtel, bewährt sich der Kiosk als Ort mit geradezu pointiert sozialen Ankerqualitäten.

Soziale Knoten

Deshalb erschöpft sich, was man am Schiebefenster des Kiosks bekommen kann, auch nicht in seinem monetären Wert. Insbesondere im Quartier sind die Büdchen und Trinkhallen soziale Institutionen, Orte der Begegnung und Kommunikation. Wenigstens für ein paar Minuten beziehungsweise die Dauer des Aufenthalts vermitteln sie ein bergendes Gemeinschaftsgefühl und sedieren das Bewusstsein einer Existenz am Rande der Stadtgesellschaft. Upperclass-Medien hat ein Kiosk nicht zu bieten. In seiner ausgeprägten Banalität ist er da beliebt, wo die Menschen wohnen. Deshalb ist er aber noch lange kein typischer Brennpunkt-Ort. Dazu ist er im Raum der Stadt viel zu dispers verteilt. So gab es etwa in Frankfurt am Main zeitweise um die 800 Trinkhallen. In der Gegenwart sind es immerhin noch rund 300, ungefähr ebenso viele wie in Hannover. Im Ruhrgebiet sollen es um das Jahr 2000 rund 18.000 gewesen sein.

In einer sich sozioökonomisch spaltenden Gesellschaft pluralisieren sich auch die Ortspräferenzen. Sozioökonomische Gewinner, die mit ihrem GeldStatus beeindrucken wollen, suchen repräsentationstaugliche Bühnen und gehen in die Shops eleganter Mode-Labels; Menschen mit prekären monetären Handlungsspielräumen wollen nicht selten in ihren milieuspezifischen Nischenwelten unter sich bleiben. Der schillernde Glamour in der Mitte der Metropolen hält ihnen nur den Spiegel dessen vor, was sie sich nicht leisten können. In der großstädtischen Welt sind Kioske soziale Knoten, an denen sich neben einer mobiler werdenden auch eine sich soziokulturell schnell fragmentierende Gesellschaft zeigt.

Zwar „bedient“ der Kiosk alle Kunden, den Passanten (im Sinne des Wortes) wie den Stammkunden aus der Nachbarschaft. Letzterer ist der Antipode derer, die genug Geld für alles und nichts haben. So gesehen „funktioniert“ der Kiosk wie ein sozialer Mikrokosmos in einer sich diversifizierenden Gesellschaft überaus flexibel und situationsangepasst. Kioske gibt es zwar auch auf dem Dorf und in der Kleinstadt am Rande der Peripherie. In erster Linie sind sie aber urbane Orte.

Jürgen Hasse

Univ.-Prof. em. Dr. Jürgen Hasse lehrt und forscht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Mensch-Natur-Verhältnisse, phänomenologische Raumforschung und die Stadt als gelebter Raum. Hasse ist Autor zahlreicher Bücher.