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Viele offene Fragen

Titelthema - Viele offene Fragen
Butterspende: Berlin, November 1953: Hanna Reuter, Ehefrau des kürzlich verstorbenen Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, verteilt bei einer deutschamerikanischen Lebensmittelspende Butter an bedürftige Rentner aus dem Ostsektor © picture alliance/akg-images

Die Frage nach der DDR-Geschichtsforschung in Deutschland meint auch: Wie gehen wir mit unserer eigenen Geschichte um?

Ulrich Mählert01.06.2023

In der alten Bundesrepublik prägten Historiker, Politikwissenschaftler und Publizisten die DDR-Forschung, für die das SEDRegime ein Lebensthema war: weil sie es von seiner repressiven Seite kennengelernt hatten, weil sie ihm zeitweilig verbunden waren oder weil sie sich mit der Teilung nicht abfinden wollten. Wer sich dagegen vor 1989 zwischen Elbe und Oder wissenschaftlich oder publizistisch mit der DDR befasste, hatte sich der SED derart unterzuordnen, dass die meisten der daraus hervorgegangenen Publikationen heute allenfalls noch als Quellen dienen, wenn es darum geht, die Indienstnahme der Geschichte durch das Regime zu beschreiben. In der DDR sorgte der Parteistaat für die Alimentierung seiner Geschichtspropagandisten. In der Bundesrepublik hatte sich seit den 1950er Jahren ein von Bund und Ländern finanziertes Institutionengeflecht entwickelt, das DDR-Forschern innerhalb und außerhalb der Universitäten ein gutes Auskommen sicherte. Mehrere Zeitschriften gaben der Zunft eine Stimme. Großzügige Druckkostenzuschüsse und Garantieabnahmen sorgten für Reichweite, Tagungsreihen für kontinuierlichen Austausch. Zwar setzte in den 1970er Jahren eine verstärkte Akademisierung der DDR-Forschung ein. Dennoch führte die Zunft bis zum Ende ihres Forschungsgegenstandes in der Geschichtswissenschaft ein Eigenleben.


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Die Wiedervereinigung und die Öffnung der ostdeutschen Archive lösten einen Forschungsboom aus. Es war zugleich die Zeit der Abrechnung mit der SED-Diktatur: Konservative DDR-Forscher warfen dem bis dahin tonangebenden linksliberalen Flügel vor, die DDR bis 1989 schöngeredet, ihren repressiven Charakter geleugnet und das Ideal der Einheit verraten zu haben. Die neu hinzugekommenen DDR-Historiker verkomplizierten die Schlachtordnung: Ein kleiner Teil von ihnen war 1989 auf die Straße gegangen und sprach danach den meisten anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten die Legitimation ab, weiter im Fach zu arbeiten. Diese wiederum sorgten sich zu Recht um ihre berufliche Zukunft. Immerhin hatte sich die kleine, arme DDR im Verhältnis zur Einwohnerzahl weit mehr Historiker geleistet als die große, reiche Bundesrepublik.

Die alten Forschungszentren verschwanden

Zugegeben, das hier gezeichnete Bild ist holzschnittartig. Aber ebenso holzschnittartig waren viele der damals erhobenen Vorwürfe. Die DDR-Forscher waren jedenfalls viel zu sehr mit sich selbst und den neuen Akten beschäftigt, als dass sie sich um eine stärkere Anbindung an die allgemeine Geschichtswissenschaft gekümmert hätten. Warum auch?

Und plötzlich war der Boom vorbei. Irgendwann Ende der 1990er, Anfang der Nullerjahre. Das enorme Interesse nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Medien und der Politik am SED-Staat ebbte ab. Viele „weiße Flecken“ in der DDR-Geschichte waren zwischenzeitlich koloriert, die großen Stasi-Verstrickungen enthüllt, die Zeit der parlamentarischen Enquete-Kommissionen war vorbei. Wie bei allen konjunkturellen Überhitzungen hatten diejenigen, die am meisten vom Boom profitierten, die Zeichen der Zeit zuletzt erkannt. Entsprechend groß war der Katzenjammer. Denn plötzlich wurde deutlich, dass sich die Forschungslandschaft, durch die zeitweilig ein eigenes Vademecum führte, grundlegend verändert hatte. Die Zentren der alten westdeutschen DDR-Forschung waren verschwunden, in Mannheim, im alten West-Berlin, in Köln, Bonn oder Erlangen.

Diese schienen auf den ersten Blick durch die neuen außeruniversitären Einrichtungen in Berlin, Potsdam und Dresden mehr als kompensiert worden zu sein. Doch während sich Berlin (und sein „Vorort“ Potsdam) zur Hauptstadt der (DDR-)Aufarbeitung entwickelte, verlor das Thema an den Universitäten immer mehr an Boden. Professoren fernab von Berlin-Brandenburg wollten nicht mit den dortigen Institutionen um wissenschaftliche Aufmerksamkeit und knapper werdende Fördermittel konkurrieren. In den 1990er Jahren gingen in Westdeutschland die Hochschullehrer in den Ruhestand, die seit den 1970er Jahren über die DDR geforscht und gelehrt hatten. Im zweiten Jahrzehnt der deutschen Einheit folgten ihnen die Kollegen, die in den 1990er Jahren auf ostdeutsche Lehrstühle berufen worden waren. Im Osten wie im Westen rangierte das Thema DDR bei Neuberufungen unter ferner liefen. Der untergegangene ostdeutsche Teilstaat versprach kein wissenschaftliches Kapital mehr und litt bei vielen Historikern unter einem schlechten Image. Nach außen hin wurde diese Entwicklung durch die große Zahl von Dissertationen verdeckt, die zum Thema DDR geschrieben wurden und werden. Hinzu kommt, dass die NS-Forschung bis heute zumeist sorgsam darauf achtet, dass die wissenschaftliche und erinnerungskulturelle Aus einandersetzung mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts möglichst „sortenrein“ betrieben wird. Erst in jüngerer Zeit konnten etwa die von Hitler und Stalin verantworteten „Bloodlands“ in Ostmitteleuropa der 1930er und 1940er Jahre gemeinsam betrachtet und beschrieben werden, ohne dass der Autor automatisch unter Revisionismusverdacht geriet.

Es braucht neue Fragen an die Vergangenheit

Im dritten Jahrzehnt der deutschen Einheit änderten auch die großen Forschungstanker den Kurs, die die DDR-Forschung seit den 1990er Jahren geprägt hatten, insofern ihre Existenz – wie im Falle des Forschungsverbundes SED-Staat – nicht gänzlich mit dem beruflichen Netzwerk ihrer Vorderleute verbunden gewesen war. Die DDR-Expertise, die das Militärgeschichtliche Forschungsamt in das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr eingebracht hatte, ging mit ihren Protagonisten in den Ruhestand. Bei der Überleitung der Stasi-Unterlagen-Behörde in das Bundesarchiv wurde die Chance verpasst, die zuletzt stiefmütterlich behandelten Haushistoriker an die Universitäten „auszuwildern“.

Und die drei akademischen Forschungszentren in Berlin (Institut für Zeitgeschichte), Potsdam (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung) und Dresden (Hannah-Arendt-Institut)? Zwar sucht man auf deren Webseiten in den Selbstdarstellungstexten vergeblich nach den Begriffen „DDR“ oder „SEDDiktatur“, aber alle drei Einrichtungen ordnen das SED-Regime in der Kommunismusgeschichte des 20. Jahrhunderts ein und befördern so dessen professionelle Historisierung. Dennoch ist es beklagenswert, dass nur wenige Lehrstühle die DDR- und Teilungsgeschichte als einen Forschungsschwerpunkt unter mehreren ausweisen und dass zumindest dem Autor keine Professur bekannt ist, die der Geschichte des Kommunismus gewidmet ist. Alle Forschungsthemen durchlaufen Konjunkturen und wehleidige und/oder sentimentale Bestseller über die deutsche Einheit und/ oder die kommunistische Diktatur werden irgendwann jüngere Forscherinnen und Forscher dazu motivieren, neue Fragen an die Zeitgeschichte nach 1945 zu stellen.

Ulrich Mählert
Dr. Ulrich Mählert ist Historiker. Er übernahm 1998 die Organisation des Geschichtsforums „Getrennte Vergangenheit – gemeinsame Geschichte“. Seit 1999 ist er bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.