Titelthema
Von der Vernunftehe zur Zwangsehe
Die Deutschen sind den Franzosen fremd geworden. Kann Friedrich Merz für eine Annäherung sorgen? Es gibt Zweifel
Vor ein paar Tagen schrieb mir die Redaktionsleiterin einer in Frankreich angesehenen Zeitschrift und bat mich um einen Beitrag zur Bundestagswahl: „Gerade jetzt brauchen wir eine gründliche Analyse der Situation in Deutschland. Deutschland ist ein Rätsel für uns“, gestand sie mir. Eine regelrechte „Obsession“, ja, aber ein Rätsel? Nach mehr als 60 Jahren Élysée-Vertrag? Auf einmal wurde mir klar: Die „incertitudes allemandes“, von welchen der Germanist (und spätere Botschafter) Pierre Viénot in seinem 1931 veröffentlichten Buch sprach, sie sind wieder da. Der Kontext ist ja ein anderer, aber der Befund ist der gleiche: Frankreich blickt über den Rhein und entdeckt ein Land, das es nicht mehr versteht.
Das betrifft zum einen die Wirtschaft: Das Land, das schon immer als Stabilitätsanker in Europa galt, stecke nun auch in der Krise: Das deutsche „Wirtschaftsmodell“ sei am Ende und die Politik nicht in der Lage, das Ruder herumzureißen. Der Grund? Der Schulden-Fetisch.
Das betrifft zum anderen die Außenpolitik: Ein Sturm aus den USA zieht auf Europa zu, und Deutschland schaut zu. Jüngstes Beispiel: Musks Einmischung in die europäische Politik. Während Emmanuel Macron eindringlich davor warnt und Sofortmaßnahmen fordert, empfiehlt Bundeskanzler Olaf Scholz, „cool zu bleiben“. Entsetzen in Paris – dann werde man sich wohl noch einmal ohne Deutschland organisieren müssen.
Das betrifft schließlich die Innenpolitik: In Frankreich hat sich bei vielen der Eindruck verfestigt, dass das Erfolgsmodell deutscher Politik, nämlich ihre Kompromissfähigkeit, ins Wanken geraten sei. Siehe die scharfen persönlichen Angriffe, die seit dem Ende der Ampel-Koalition die Debatten im Bundestag begleiten. Dabei wurde in Paris Deutschland noch vor wenigen Monaten immer wieder als das Modell zitiert, das das unregierbar gewordene Frankreich anstreben sollte.
In den Tagen, die den Parlamentswahlen in Frankreich gefolgt waren, war auf einmal das Wort „Koalition“ in aller Munde. Das dreigeteilte Parlament müsse sich jetzt an Deutschland ein Beispiel nehmen und den Kompromiss lernen – eine Revolution für ein Land, dessen politische Kultur schon immer auf Konfrontation ausgerichtet war. Doch die Geschichte verlief anders. Michel Barnier, dessen Ruf als „wandelnder Kompromiss“ ihn für das Amt des Premierministers nahezu prädestinierte, stürzte nach kurzer Zeit. Nicht wegen Macron, sondern weil die Parlamentarier es nicht vermochten, aufeinander zuzugehen und den Kompromiss zu wagen. Die Folge: Die Krise verschärfte sich und mit ihr die Polarisierung der französischen Gesellschaft. Droht Deutschland nun ein solches Szenario? Wohl kaum, aber in Frankreich hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, auch in Deutschland laufe es nicht mehr rund.
Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung (und der Autor schließt sich gerne dieser Meinung an). Mit Friedrich Merz ist ein Kandidat ins Rennen gegangen, der sich nicht nur für Frankreich zu interessieren scheint, sondern auch die Freundschaft mitdenkt.
Die Jahre 2021 bis 2025 werden in die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen als die Zeit der verpassten Chancen eingehen. Im Rückblick wird dies wahrscheinlich als das schwerwiegendste Versäumnis des Bundeskanzlers erkannt werden. Mit seiner Politik der verschränkten Arme hat Scholz die Divergenzen zwischen Deutschland und Frankreich nicht nur vertieft, sondern auch zementiert und so zur Entfremdung beigetragen – und das mitten in der Krise der europäischen Sicherheit, die durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurde. Ob unter einem Bundeskanzler Merz alles besser wird? Damit rechnet man in Paris sicherlich nicht. In seiner Rede an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik am 4. Dezember 2024 hat Merz beim Thema Mercosur – „Mercosur (…) darf nicht an Frankreich scheitern“ – und Staatsschulden klare Kante gezeigt. Das wird Macron genau registriert haben. Aber die Signale des Einvernehmens, die er in den vergangenen Wochen nach Paris gesendet hat, lassen aufhorchen. Merz’ Pragmatismus – Frankreich sei „für uns ein schwieriger, aber ein eminent wichtiger Partner“ – zeigt zudem: Er, der immer wieder mit dem Präsidenten sprechen will, weiß, dass sein Erfolg als Bundeskanzler auch von seinem Verhältnis zu Frankreich abhängen wird. Macron, der 2017 bei der Umsetzung seiner Agenda auf eine „Allianz des Vertrauens“ mit Deutschland gesetzt hatte, musste es am eigenen Leib spüren.
Der französische Historiker Jacques Bariéty hatte zu seiner Zeit den Ausdruck „Vernunftehe“ geprägt, um die deutsch-französische Zusammenarbeit plastisch zu machen. Übertragen auf die jetzige Epoche könnte man nahezu von einer „Zwangsehe“ sprechen. Noch nie hat die oft heraufbeschworene Schicksalsgemeinschaft solch dramatische Züge angenommen, und noch nie hat sie eine derart strategische Bedeutung gehabt. Merz scheint es verstanden zu haben. Es ist höchste Zeit.
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