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Gesellschaftliches Erbe der Euro-Krise

Von großen Lösungen meilenweit entfernt

Ein Essay von Nicolaus Heinen über das gesellschaftliche Erbe der Euro-Krise.

Nicolaus Heinen16.06.2014

Auch wenige Wochen nach den Europawahlen sitzt der Schock noch tief: Populisten am rechten und linken Rand konnten in zahlreichen Ländern dramatische Stimmenzuwächse verbuchen. Viele der gut 400 Millionen wahlberechtigten Europäer haben diese Abstimmung zu ihrem persönlichen Misstrauensvotum gegen den derzeitigen Kurs der Politik gemacht – oder sind den Wahlurnen gleich ferngeblieben.

Dies mag auf den ersten Blick verwundern. Hat die Schlagzahl politischer Krisen und Turbulenzen an den Kapitalmärkten nicht zuletzt abgenommen? Haben Irland und Portugal nicht jüngst ihre Hilfsprogramme verlassen? Ist jüngst nicht sogar der Eindruck neuer Stabilität entstanden? Dies alles trifft sicher zu. Doch die neue Stabilität ist in erster Linie dem Sicherheitsnetz der Eurorettungsschirme geschuldet. Zugleich ist die Europäische Zentralbank mit ihrer bedingungslosen Bestandsgarantie für die Euro-Zone und ihrer Politik des billigen Geldes schon längst zum Spielmacher des wirtschaftlichen und politischen Geschehens geworden und hat sich damit in faktische Zwänge begeben, was zuletzt berechtigte Zweifel an ihrer Unabhängigkeit genährt hat.

Das zentrale Problem ist, dass die gekaufte Stabilität jede neue Dynamik im Keim erstickt: Das Primärziel der Rettungspolitik war und ist, Zeit zu kaufen und den Status quo zu sichern. So verkommt der Wunsch nach Veränderungen zum Sekundärziel. Für die Politik zahlt sich in diesem Umfeld strategisches Spielen auf Zeit oft in barer Münze aus: So haben die Sparbemühungen der öffentlichen Haushalte, so sie denn jemals ernsthaft betrieben wurden, im letzten Jahr abgenommen. Und auch der Reformwille hat in vielen Euroländern nachgelassen. Deutschland gibt spätestens seit dem Regierungsprogramm der großen Koalition ohnehin schon lange kein gutes Vorbild mehr ab. Und so stocken trotz der sicheren Marktlage und dauerhaft komfortabler Niedrigzinsen weiterhin die Investitionen. Das Wachstum bleibt niedrig. Die Menschen stellen ernüchtert fest: Von großen Lösungen ist die Politik meilenweit entfernt. Lethargie, Resignation und Fatalismus sind das gesellschaftliche Erbe der Euro-Krise.

Vielen Bürgern wird in diesen Tagen langsam, aber sicher bewusst, dass das allgemeine Wohlstandsversprechen des europäischen Projekts unter diesen Umständen nicht mehr lange zu halten ist. Die dauerhafte Zugewinngemeinschaft, als die die europäische Integration und auch der Euro den Bürgern stets vertraut war, kann nicht mehr das leisten, was sich viele Menschen von ihr erhoffen. Und so wird zunehmend die Zweckmäßigkeit europäischer Integration hinterfragt – der Idealismus hat sich ohnehin schon längst verflüchtigt. Die monetären Verluste aus Bankenrettung und Staatshilfen sind messbar, doch die moralischen Verluste lassen sich nicht beziffern: Es fehlen Perspektiven, Mut und Zuversicht. Genau dies ist der Humus, auf dem die Thesen populistischer Menschenfänger schnell verfangen können – vor allem dann, wenn etablierte Parteien diesen nur Altbekanntes entgegensetzen können. Der aktuelle Ansatz der Eurorettungspolitik, Zeit zu kaufen, der gesellschaftliche Fatalismus und der Zuspruch, den populistische Parteien zuletzt erhalten haben, sind somit ursächlich miteinander verbunden.

Was ist zu tun? Jede weitere Polarisierung der Debatte wäre schädlich: Die nachhaltige Lösung der Euro-Krise verlangt mehr als einen unreflektierten Lagerkampf zwischen denen, die eine Fortführung des aktuellen Kurses befürworten und jenen, die eine Auflösung der Euro-Zone fordern. Vielmehr muss ein dritter Weg gefunden werden, der zu einem Neuanfang führt, ohne die Auflösung der Eurozone zu verfolgen. Dieser Weg sollte drei Schritte umfassen, mit denen die aktuelle Blockade aufgelöst werden kann.

ZURÜCK ZUM HAFTUNGSPRINZIP

Der erste Schritt ist die Rückkehr zum Haftungsprinzip. Die bisherige Rettungspolitik, die auf einer Übernahme von zwischenstaatlichen Haftungen beruhte, hat Begehrlichkeiten geweckt, Verteilungskämpfe provoziert und sich damit als Irrweg erwiesen. Allein die strikte Kopplung von Risiko und Haftung kann bewirken, dass die Euro-Länder sich in ihrer Haushaltspolitik in Zukunft aus Eigeninteresse und Eigenverantwortung wieder am Prinzip der Nachhaltigkeit orientieren. Einfacher würde es dadurch sicherlich nicht: Rettungsprogramme für Staaten würden auslaufen, und die Finanzierung einiger Staaten stünde kurzfristig auf der Kippe. Um Marktturbulenzen zu verhindern, müssten marode Finanzinstitute konsequent abgewickelt und zugleich ein Insolvenzmechanismus für Staaten geschaffen werden. Dieser könnte dann die Grundlagen für einen konzentrierten Interessenausgleich zwischen Gläubigern und Schuldnern legen.

Es mag in Zeiten umfangreicher Rettungsschirme mit Vollkaskofunktion unpopulär sein, ein Ende mit Schrecken im Rahmen einer solchen multilateralen Umschuldungsinitiative zu fordern. Die Rückführung von Risiken zu Haftung und die Beseitigung von Altlasten würde sicherlich auch für private Haushalte mit kurzfristigen Wohlstandseinbußen verbunden sein. Diese lassen sich langfristig jedoch ohnehin nicht verhindern. Besser ist es daher, sie vorzuziehen und zugleich einen strukturellen Neubeginn zu wagen. In diesem Falle wären diese Strapazen jenem Schrecken ohne Ende einer permanenten Insolvenzverschleppung der Krisenpolitik mit all ihren Verhandlungsrunden und dem ständigen Risiko wechselseitiger Blockaden vorzuziehen. Die starken Länder der Euro-Zone müssen hier Verantwortung übernehmen und führen. Die Rückkehr zum Haftungsprinzip dient neben den dargelegten Vorteilen noch einem weiteren Zweck: Sie versetzt die EZB in die Lage, sich aus ihren faktischen Zwängen zu befreien und macht den Weg frei für eine Renaissance stabilitätsorientierter Geldpolitik.

Für viele Menschen ist die Euro-Krise auch zum persönlichen Schicksal geworden. Überregulierte Arbeitsmärkte und starre Bildungssysteme haben Arbeitslose und Jugendliche in eine Verliererrolle gedrängt. Ihnen müssen neue Perspektiven der wirtschaftlichen Teilhabe geboten werden. Aktuelle Vorstöße gegen die Arbeitslosigkeit sind zwar gut gemeint, doch sie basieren noch immer zu stark auf Betreuung und Umverteilung, die in überregulierten Arbeitsmärkten jede Lust nimmt, sich einzubringen. Und auch Bildung und Ausbildung spielen sich immer noch zu stark im nationalen Rahmen ab und setzen zu selten auf den geheimen Trumpf Europas: Die Möglichkeit zur grenzüberschreitenden Bildungsmobilität. Auch hier muss umgedacht werden. Allein flexible Arbeitsmärkte und grenzüberschreitend offene Bildungssysteme gewährleisten wirtschaftliche Teilhabe europaweit und geben Perspektiven.

WETTBEWERB IST DAS BESSERE REZEPT

Das allein reicht jedoch nicht. Neue Dynamik kann sich langfristig nur dann entfalten, wenn wirtschaftliche und politische Akteure ihre besitzstandwahrende Blockadehaltung aufgeben und gemeinsam nach vorne blicken. Wirtschaftspolitische Empfehlungen und Brüsseler Dirigismus können politische und mentale Reformblockaden jedoch kaum abbauen – im Gegenteil: Schulmeistereiführt selten zu Selbsterkenntnis,oft jedoch zu Abwehrreaktionen und Freund-Feind-Denken. Das bessere Rezept ist Wettbewerb. Gesellschaften und Volkswirtschaften gewinnen an Leistungsfähigkeit, wenn sie sich im fairen Wettstreit an den Kapitalmärkten und im Europäischen Binnenmarkt aneinander messen. Gerade der Binnenmarkt hat noch enormes Ausbaupotenzial, denn weite Teile des Dienstleistungssektors und der öffentlichen Beschaffung sind immer noch abgeschottet. Der weitere Ausbau des Binnenmarktes sollte daher von den hinteren Plätzen Brüsseler Tagesordnungen wieder hervorgeholt werden und fortan oberste Priorität genießen.

Diese drei Schritte können neue Dynamik in Europa entfalten. Diese Dynamik ist dringend notwendig, denn schon bald warten weitere Herausforderungen, denen wir Europäer nur hilflos entgegensehen können, wenn wir uns weiterhin selbst blockieren: Strukturelle Anpassungen nach der Krise, unabweisbare Entwicklungen der Globalisierung und der demografische Wandel müssen bewältigt werden, wenn unser Kontinent seinen aktuellen Lebensstandard halten möchte. Die Gesellschaften Europas müssen Wandel akzeptieren, Risiken annehmen und nicht zuletzt auch den Wert ihrer Freiheit neu entdecken. Hierdurch gewinnen sie an Kraft und werden auch in Krisenzeiten wirtschaftlich und mental widerstandsfähiger und dadurch weniger anfällig für die Heilsversprechen populistischer Menschenfänger. Die eigentliche Euro-Rettung muss erst noch beginnen.
Nicolaus Heinen
Dr. Nicolaus Heinen ist Analyst für europäische Wirtschaftspolitik bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Er ist Lehrbeauftragter für europäische Geld- und Wirtschaftspolitik am Center for Macroeconomic Research der Universität Köln. Zuletzt erschien „Alles auf Anfang: Warum der Euro scheitert - und wie ein Neustart gelingt“ (Campus Verlag 2017).

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