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Noch eine Chance für die freien Demokraten?

Vorsätze sind gut, Taten besser

Fritz Goergen03.06.2011

Das Debakel des Bremer Wahlergebnisses der FDP am 22. Mai zeigt zweierlei. Erstens konnte kein seriöser Betrachter davon ausgehen, dass der Austausch des größeren Teils der Bundesführung der FDP allein schon für den Wiedereinzug in die Bremer Bürgerschaft reichen würde. Zweitens hätte die neue Führung keinen Tag seit ihrer Wahl verstreichen lassen dürfen, ohne inhaltlich neue Signale in den Medien zu platzieren: doch von Philipp Rösler und Christian Lindner im Westen nichts Neues. Und Rainer Brüderle, der alte in der neuen Führung, legte Guido Westerwelles schrill ausgeleierte Platte von der Steuersenkung wieder auf. Statt Neues von den Neuen, Altes von einem Alten. Besonders der neue Bundesvorsitzende Rösler – aber mit ihm die ganze Führung – wird in den nächsten zwei Jahren der Bundesregierung zu spüren bekommen, dass die programmatische und strategische Runderneuerung einer Partei innerhalb ihrer Rolle als Regierungspartei mindestens schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Um ein neues Profil zu schärfen, muss die FDP neue Inhalte öffentlich diskutieren. Neue politische Positionen der FDP sind für die Medien nur dann besonders attraktiv, wenn sich die FDP mit ihnen von CDU und CSU deutlich abhebt. Rösler sagte in seiner Antrittsrede: „Für eine Sachmeldung gibt mir der Journalist zehn Zeilen, reibt sie sich an der Union bringt sie 20 Zeilen, ist sie mit einem Angriff auf Angela Merkel verbunden, springt auch noch ein Farbfoto raus.“ Rösler verband diese Schilderung mit der Aufforderung, man müsse auch mal an einem Mikrofon vorbeigehen können, ohne etwas zu sagen. Aber vornehme Zurückhaltung bedeutet in unserer real existierenden Massenmedienwelt den Verzicht auf Präsenz. Und ohne Medienpräsenz sind nicht genug Wählerstimmen zu holen.

Kursbestimmung

Christian Lindner beschrieb am 9. Mai in der FAZ, wo die FDP sich als liberale Partei profilieren muss: für die Offenheit der Gesellschaft, für eine liberale Ordnungspolitik und Fairness, für Privatheit und Integration, für Zukunftsfähigkeit, Bürgerdemokratie und Europa. Dem wohlformulierten Essay wird kaum ein liberal Gesinnter widersprechen. Auch wenn ich den Markt – anders als Lindner – nicht für „nur eine künstlich geschaffene Institution“ halte, sondern einen Teil der Natur des Menschen, ein natürliches Entdeckungsinstrument nach der bekannten Doppel-Weisheit: market happens – markets happen. Aber Lindner denkt wohl mehr an eine faire Ordnungspolitik zur Kultivierung des Marktes und der Märkte.

Das Führungs-Duo Rösler/Lindner scheint sich vorgenommen zu haben, die Neupositionierung der FDP dem Prozess der Anfertigung eines neuen Grundsatzprogramms alleine zu überlassen und im Übrigen das Bild der FDP durch Profilierung in der Regierung zu verbessern – Rösler nach seiner Wahl: „Ab heute liefern wir.“ Bis jetzt liefern er und die Seinen nicht. Was sofort beginnen kann, ist, die Programmdebatte öffentlich zu führen – nicht mehr hinter verschlossenen Kommissionstüren. Sind die Entwürfe neu genug, werden sie schon innerparteilich Zustimmung wie Widerspruch finden: Nichts schmückte die erstarrte FDP mehr als eine kultivierte kontroverse Debatte in der Sache. Kundige Beobachter des FDP-Bundesparteitages vor wenigen Wochen wussten zu berichten, einen mit so vielen jungen Delegierten hätten sie noch nie gesehen. Eine Verjüngung ihrer Wählerschaft braucht die FDP ganz dringend. Die Überalterung ihrer Wählerschaft teilt sie als Strukturproblem mit CDU, CSU und SPD. Je älter die Wählersegmente, desto mehr wählen die alten Parteien. Nur bei den Grünen ist es umgekehrt. Mehr junge Leute wird die FDP nicht mit alten, kalten Themen finden. Die positiven Zahlen aus der amtlichen Arbeitsmarkt-Statistik stehen im krassen Widerspruch zu dem, was junge Leute von ihrer Zukunft aufgrund der Erlebnisse rund um sie herum erwarten, und zu dem, was die Menschen mittleren Alters für ihren Lebensstandard im hohen Alter befürchten. Eine FDP, die keine Antworten auf die neue soziale Frage in allen ihren Dimensionen gibt, muss chronisch an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Rösler und Lindner haben schon in ihrem Buch „Freiheit: gefühlt – gedacht – gelebt“ 2009 für einen „mitfühlenden Liberalismus“ plädiert. Aber „geliefert“ haben sie bisher nicht.

Energie und Bildung

Bis zur Bundestagswahl ist Zeit genug, sich programmatisch neu zu positionieren, aber zu wenig Zeit, wenn sie so ungenutzt verstreicht wie seit dem FDP-Bundesparteitag im Mai. An der von Lindner, Rösler und Bahr intonierten Wende in der Haltung zur Kernenergie geht ebenso wenig vorbei wie bei der Union. Aber davon werden die bürgerlichen Parteien – wie sie sich selbst nennen und damit große Wählergruppen ausschließen – nichts haben. Für die Abkehr von der Kernenergie kassieren noch lange die Grünen als Original die Prämie und nicht die schwarzen, gelben und roten Kopien. Punkten kann die FDP in der Energiepolitik, wenn sie in der Energiestruktur die Vorreiterrolle für dezentrale, kleinteilige und autarke Produktionsstrukturen übernimmt: Womit sie das Kartell der Energiekonzerne viel mehr herausforderte als mit der Forderung nach alternativen Energiequellen und -techniken allein. Rösler, Lindner und Co. plädieren für die Verwirklichung von Chancengleichheit am Start und daher auch für Kindertagesstätten und Ganztagsschulen. Das ist gut. Eine erneuerte FDP müsste sich aber auch von der nutzlosen Debatte über Schulformen emanzipieren, die sich seit 40 Jahren im Kreise dreht. Schweden und die anderen Skandinavier haben uns längst vorgeführt, worauf es ankommt. In Schweden steht auf dem Schild „Einheitsschule“: Drinnen aber wird jedes Kind individuell gefördert und gefordert, seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend. Und das von dafür ausgebildeten Pädagogen in ausreichender Zahl. Bei uns steht da „Gymnasium“ und dort „Gesamtschule“ außen drauf: Aber drinnen ist da wie dort kein Platz für individuelles Fordern und Fördern. Eine FDP, die diesen Weg ginge, hätte für eine ganze Weile keine Konkurrenz. Berichte über die Unzufriedenheit von weit mehr als der Hälfte der Erwerbstätigen mit ihrer Arbeit häufen sich. Viele Menschen reden ganz offen davon, dass sie innerlich längst gekündigt hätten. Zugleich klagen immer mehr Betriebe über den Mangel an gut vorgebildeten Berufseinsteigern und erfahrenen Fachkräften. Die Zahl der Leute, die sich in ihrer Arbeitsleistung und als Mensch von ihren Vorgesetzten nicht gewürdigt finden, steigt ständig – bei Staat und Privat. Statt Mitarbeiter anständig zu behandeln, ihnen regelmäßige Weiterbildung zu ermöglichen, erfahrene, ältere Kräfte in Belegschaften mit jüngeren vernünftig zu mischen, werden kostenlose Praktikanten und kostengünstigere Junge angeheuert, ausgepresst, entlassen und durch neue Praktikanten und Anfänger ersetzt. Eine FDP, die sich um die Arbeitswelt kümmert, wäre ein Aha-Erlebnis für sich und könnte an alten liberalen Grundgedanken wie den der Genossenschaften anknüpfen – in völlig neuer Form, versteht sich.  Am nachhaltigsten wird die FDP ihr tief sitzendes negatives Image in der Steuerpolitik los, wenn sie dort grundsätzlich wird. Dass Arbeit, Leistung, Tätigkeit und Bildung besteuert werden, muss doch jedem Freund der Selbstverwirklichung des Menschen, der Suche eines jeden nach seinem Glück – kurz der Freiheit ein Dorn im Auge sein. Allein den Konsum zu besteuern, wäre eine radikale, weil gründliche Reform, die alle unterschiedlichen Kräfte freisetzt und die auf Dauer oder vorübergehend Leistungsschwachen und Leistungsunfähigen mitnimmt in die Lebenskultur der Gesellschaft. Von Lindner kam neulich die Forderung nach einem Grundeinkommen für Kinder zur Herstellung materieller Chancengleichheit am Start. Diesen Gedanken muss die FDP nicht auf den ersten Lebensabschnitt beschränken, sondern überall anwenden, wo es ohne neue Ordnungspolitik nicht geht. Bei lauter programmatisch erstarrten Parteien liegen die Chancen auf der Straße: Rösler, Lindner und Co. müssen sie bloß aufheben!

Fritz Goergen
Dr. Fritz Goergen ist Publizist und Berater für Strategische Kommunikation. Er war lange Zeit Bundesgeschäftsführer der FDP und Vorsitzender der Geschäftsführung der Friedrich Naumann-Stiftung. Für Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle konzipierte Goergen die "Strategie 18". 2002 trat er aus der FDP aus.