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Wahlrecht

Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?

Wahlrecht - Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
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Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner jüngsten Entscheidung dafür gesorgt, dass kein Mensch mehr das Wahlrecht versteht. Warum wieder einmal?

12.08.2024

Sie ergänzt die Reihe der seit 1952 ergangenen 17 Entscheidungen, in denen sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Bundeswahlgesetz befasst hat. Dabei ist die allenthalben beklagte Aufblähung des Bundestages von der gesetzlichen Zahl von 598 auf inzwischen 733 Abgeordnete doch zu allererst die Folge einer Entscheidung von Karlsruhe selbst.

Seit 2008 drängt das höchste deutsche Gericht den Gesetzgeber zu immer neuen Änderungen des Wahlrechts. Im Jahr 2013 hat es in einem Anflug von akademischem Gerechtigkeitswahn die Figur der "Ausgleichsmandate" geschaffen. Das hatte 2021 dazu geführt, dass auf die lediglich 34 Überhangmandate – das sind solche, die eine Partei dann erhält, wenn sie mehr Direktmandate bekommt als ihr über das Zweitstimmenergebnis rechnerisch zusteht – üppige 103 sogenannte Ausgleichsmandate "draufgesattelt" werden mussten.

Eine richterliche Erfindung, von der Kandidaten profitieren, die weder über die Erststimmen in den Bundestag eingezogen sind noch über die Landeslisten ohne diese "Zugabe" eingezogen wären. Ein ungeahnter "Segen" auch für die Parteien, deren Wahlkreiskandidaten eben nicht das Direktmandat gewonnen haben. Eine Belohnung im Namen der Stimmgerechtigkeit, wie das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsfortbildung zu begründen versucht hat.

Nun wird es die Geister, die es rief, nicht wieder los. Zwar hat es mit seiner jüngsten Entscheidung zu Recht die Regelung für verfassungswidrig erklärt, nach der mit der Erststimme direkt gewählte Kandidaten dann nicht in den Bundestag hätten einziehen sollen, wenn deren Partei bundesweit unter fünf Prozent der Zweistimmen bleibt. Das hätte die absurde Konsequenz gehabt, dass in Bayern direkt gewählte CSU-Kandidaten (zur Zeit 45 von 46) ihr vom Wähler erteiltes Mandat nicht ausüben dürften, wenn die nur in Bayern antretende CSU als Partei auf den Bund hochgerechnet unterhalb der Fünf-Prozent-Grenze bliebe. Die komplette Aufhebung der sogenannten Grundmandatsklausel hat aber die ebenfalls absurde Konsequenz, dass durch das Erringen von gerade einmal drei Direktmandaten der Linken nicht nur diese drei, sondern der gesamte Tross der unter fünf Prozent gebliebenen Partei weiterhin nach dem Verhältnis ihrer Zweistimmen in den Bundestag einziehen können. 2021 hat das zu einer Fraktionsstärke von zunächst 39 Mitgliedern der Linken geführt; ein toller Hebel: Aus drei mach 39!

Das war auch schon einmal – in der 15. Wahlperiode (2002-2005) – anders, als nur die zwei direkt gewählten der PDS angehörigen Kandidatinnen als fraktionslose Abgeordnete in den Bundestag haben einziehen dürfen.

Dafür müssen jetzt nach dem vom Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform gehaltenen "Zweitstimmendeckungsverfahren" möglicherweise direkt gewählte Kandidaten "draußen" bleiben, wenn deren Partei nach dem Zweitstimmenergebnis nur eine geringere Anzahl an Sitzen zusteht. Der populäre und in seinem Wahlkreis wegen persönlicher Eigenschaften als geeignet angesehene und deshalb  direkt gewählte Kandidat wird bestraft, der als treuer und stromlinienförmiger Parteiapparatschik gut platzierte Listenkandidat wird belohnt. 

Solange an der Mischform eines personalisierten Verhältniswahlrechts, also der Kombination der Reinformen von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht festgehalten und zugleich eine Verringerung der Anzahl von Abgeordneten bei gleichzeitig immer mehr konkurrierenden Parteien angestrebt wird, gleichen die Vorschläge einem Versuch der Quadratur des Kreises. Die kann und wird von anderen Gremien als dem Bundestag selbst oder dem Bundesverfassungsgericht, wie gelegentlich angedacht und vorgeschlagen, auch nicht gelingen. 

Schon vor Jahren habe ich in verschiedenen Beiträgen folgenden, auch von anderen, zum Beispiel vom CDU-Abgeordneten Günter Krings, der zu meiner Zeit als rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU- Bundestagsfraktion der von mir geleiteten Arbeitsgruppe Recht angehört hat und heute selbst Sprecher für diesen Politikbereich ist, unterbreiteten Vorschlag (Stichwort: Grabenwahlsystem) aufgenommen: Eine Hälfte von der gesetzlichen Zahl der 598 Sitze erhalten die in ihrem Wahlkreis mit der Erststimme gewählten Direktkandidaten, die andere wird über die Landesliste (Zweitstimmen) gefüllt. Es müsste weder die gesetzliche Zahl der Sitze erhöht noch die der Wahlkreise verändert werden. Auch dieser – immer wieder verworfene – Vorschlag, der zugegebenermaßen die Parteien "begünstig", die – wie CDU und CSU – mehr Direktmandate erringen als andere Parteien, wird dem Bestreben nach einer 100-prozentigen Stimmgerechtikeit nicht gerecht. Ich kenne auf der ganzen Welt kein Wahlrecht, das allen denkbaren – auch theoretisch zu konstruierenden – Gesichtspunkten Rechnung trägt. Vielleicht sollte man einfach ein solches Bestreben aufgeben und versuchen, ein pragmatisches, vom Wähler zu verstehendes und seinem Willen wenigstens nahekommendes Verfahren zu installieren – am Besten im Grundgesetz selbst oder in einem Gesetz, das nur mit qualifizierter Mehrheit zu ändern ist.

Eine solche – wo auch immer zu allozierende – Regelung müsste dem Kandidaten, der in seinem Wahlkreis die meisten Erststimmen auf sich vereint – vulgo: gewinnt – diesen Wahlsieg durch Einzug in den Bundestag garantieren, aber nur diesem und nicht über das Auslösen einer Kettenrenreaktion auch den nicht direkt gewählten Kandidaten auf der Liste der Partei, wenn diese unter der Fünf-Prozent-Hürde bleibt.

Karlsruhe locuta, causa finita? Mitnichten!

Dr. Jürgen Gehb
ehem. MdB, Kassel