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Stuttgart

Warum sind viele Schwaben so wütend?

Stuttgart - Warum sind viele Schwaben so wütend?
© Pixabay

Nicht erst seit Stuttgart 21 treibt es sie immer wieder auf die Barrikaden. Was ist da los im Ländle? Claudia Schumacher versucht, ihre Landsleute zu verstehen. Mehr zum Thema Stuttgart lesen Sie im Titelthema 12/2021.

01.11.2021

Denke ich an Schwaben, meine Heimat, rede ich lauter, gröber und vergesse zu atmen. You can put lipstick on a Schwob, but it’s still a Schwob. Das letzte Mal, als ich über meinen Stamm schrieb, wollte mich ein Mitschwabe wegen "Volksverhetzung" verklagen. Meine Wut, seine Wut: der reinste Herkunftsnachweis.

"Des isch doch Schwachsinn!", poltert mir Boris Palmer entgegen. Skype-Anruf beim "Wutbürgermeister", der gegen die Coronamaßnahmen mal wieder Kopf und Kragen riskierte, im Mai 2020 aber aus Vorsicht "nicht einmal die Bürger" traf. Zur verabredeten Zeit klingle ich mich ins Tübinger Rathaus, die Verbindung steht, aber am anderen Ende grüßt niemand. Palmer redet weiter, nur nicht mit mir. Es scheint um die Kita-Regelungen zu gehen. "Hallo, Herr Palmer?", wage ich mich vor. "Huch, wer isch denn die fremde Frau?", der grüne Oberbürgermeister lacht. Man könne sich auf Skype bei ihm einwählen, ohne dass er abhebe; habe er für seine Tochter eingerichtet.

Mit Palmer möchte man klären, was da eigentlich los ist: Den Schwaben geht's gut, meist sogar besser als allen anderen – trotzdem sind sie wütend. Ständig. Und schon wieder. "Feiernde" randalieren in Stuttgarts Innenstadt. Im Mai fanden hier die größten Hygienedemos des Landes statt. Und vor zehn Jahren, bei Stuttgart 21, wurde der Wutbürger erfunden, den man heute irrtümlich für einen Ostdeutschen hält.

Regt sich die schwäbische Wut, ist es nicht selten Palmer, der sie in Worte fasst. "Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", war sein letzter großer Aufreger zu Coronazeiten. Sprüche wie dieser haben ihn zum wahrscheinlich bekanntesten Bürgermeister Deutschlands gemacht. Natürlich war er auch gegen Stuttgart 21. In der Flüchtlingskrise schleuderte er der Kanzlerin ein "Wir schaffen das nicht!" entgegen. Selbst Greta Thunberg, mit der er als leidenschaftlicher Öko eine Riesenschnittmenge hat, wollte er widersprechen: "Nein, wir haben deine Jugend nicht zerstört."

"Sind Sie oft wütend?", taste ich mich heran. "Nö, ich bin nicht wütend", protestiert Palmer sofort. Es gebe mal kurze Situationen, da rege er sich auf — "auf Schwäbisch sagt mr: ‚Da geht einem der Gaul durch‘, aber dann isch‘s au vorbei". Es scheint Boris Palmer zweimal zu geben: Palmer, das erfolgreiche Schafferle, so nehmen sie ihn in der Musterstadt Tübingen wahr. Bundesweit sieht man vor allem den Polter-Palmer, der Shitstorms losschimpft, zuverlässig gegen die grüne Parteilinie. "Ich gebe gerne Kontra", sagt er. Und gegen die "Harmoniesucht" im Land sei er "wirklich vehement". Er sei übrigens "Anhänger der Hegelschen Dialektik" und glaube, "dass zu jeder These eine Antithese gehört".

Friedrich Hegel, der schwäbelnde Philosoph aus Stuttgart: kein Wunder, dass die Dialektik im Ländle erfunden wurde. In Schwaben vereinten sich "die heftigsten Gegensätze", schrieb schon der Mundartforscher Fritz Rahn Mitte des 20. Jahrhunderts, oft kämen "in ein und demselben Individuum äußerste Kühnheit mit befremdlicher Zaghaftigkeit, Rebellentum mit Philisterei, (...) Misstrauen mit Zutraulichkeit" und "Höhenflug mit Horizontlosigkeit" zusammen. Der Schwabe als wandelnder Widerspruch – wie bei Palmer.

Ist das pietistische Erbe an dieser Schizophrenie schuld? Der jüngst verstorbene Journalist Ulrich Kienzle, ein Remsecker Urgestein, sprach von "schwäbischen Taliban" und "Pietcongs": Ab 1600 hätten die Pietisten die "Umerziehung" der "fröhlich-versoffenen Schwaben des Spätmittelalters" übernommen, schrieb er in seinem Buch Die Schwaben. "Bis zur Unkenntlichkeit" hätten die Pietisten und Pfarrer die lustigen Leutle damals verändert, aber vor allem: innerlich gespalten. "Alles, was Spaß macht", sei verboten worden, von der Völlerei bis zur Fastnacht. Stattdessen sollten sie sich für den Weltuntergang bereit machen.

Es gab sogar eine Art Pietisten-Stasi: Nachbarn wurden zu informellen Mitarbeitern der Kirchenpolizei und bekamen für ihr Denunziantentum ein "Anbringdrittel". Eine historische Prägung, die sich vielleicht auch zu Beginn der Coronapandemie zeigte: Verwandte in der schwäbischen Provinz berichteten mir von Nachbarn, die andere bei der Polizei verpfiffen, sobald einer zu viel im Garten saß – kurz bevor die Stimmung kippte und die Leute wütend gegen zu strikte Maßnahmen demonstrierten.

"Mich machen die da oben wütend"

Auch Boris Palmer glaubt, dass Wut und Rebellentum etwas sehr Schwäbisches seien. Das reiche zurück bis zum Tübinger Vertrag von 1514, "eine Art schwäbische Magna Charta". Anders als in Bayern habe es in Württemberg keine Fürstenverehrung gegeben, sondern ein jahrhundertelanges Auflehnen gegen die Obrigkeit, sagt Palmer.

Ich muss an meine Oma Anneliese denken, ein Musterbeispiel schwäbischer Renitenz. Ein Schrank von einer Frau, Bäuerin und Mutter von sechs Kindern. Bis ins hohe Alter lebte sie nahezu autark aus ihrem Gemüsegarten. Im Altersheim probte sie den Aufstand und stiftete Mitbewohnerinnen zum Ausbruch an. Mit "Wo kommsch denn du alds Arschloch her?" begrüßten die Älteren einander früher schon mal. Warum auch nicht? Ein heimisches Gericht entschied, dass "Arschloch" in Schwaben keine Beleidigung sei.

In einem Biergarten in Deizisau stellt sich Peter Främke als "Rentner mit Demonstrationshintergrund" vor. Zur Begrüßung reicht er mir ein unverlangtes Manuskript: ein Best-of seiner Leserbriefe. 224 davon hat die Nürtinger Zeitung gedruckt. Zu Stuttgart 21, zum Klima, zu Corona. "Wirklich ganz hervorragend, diese Leserbriefabteilung!", sagt er gut gelaunt, nur um in den folgenden zweieinhalb Stunden zunehmend in Rage zu geraten. Främke, pensionierter Industriekaufmann, Linken-Wähler und Fan von Fridays for Future, sagt, er habe sich viel mit den Dreißigerjahren befasst. Damit sich die Geschichte nicht wiederhole, dürften "die da oben" nicht zu viel Gewalt haben. "Was wir jetzt bei Corona an Machtdemonstrationen erleben, dagegen war das bei Stuttgart 21 ..." Die Frau neben ihm hilft aus: "ein Vogelschiss".

Eigentlich wollte ich nur sie treffen: Walburga Bayer, Rentnerin und freiberufliche Lektorin, die Haare noch etwas röter als bei anderen Schwäbinnen ihres Alters. Stuttgart 21 war ihr Erweckungserlebnis. Aus Enttäuschung über "das System" gehe sie schon lange nicht mehr wählen. Sie betreibt einen meinungsstarken Newsletter, in dem sie zum Beispiel gegen die Coronaauflagen für Schwimmbäder wettert: Sie werde sich "nicht am Nasenring durch die Manege führen beziehungsweise durchs Becken ziehen, dressieren, überwachen und zum Affen machen lassen".

Warum sind Sie so wütend, Frau Bayer? Sie zögert. "Wut hat immer so ein Gschmäckle", sagt sie. "Dabei ist sie doch was Gutes!" Ein Impuls, um aktiv zu werden. "Mich machen die da oben wütend, die uns ständig ihren Willen aufdrücken und uns für dumm verkaufen", sagt sie. Den Lockdown empfand sie als Gängelung: "Man hätte uns ruhig etwas Eigenverantwortung zutrauen können." Beruhigt es Sie nicht, dass die Einschränkungen zeitlich begrenzt sind? "Überhaupt nicht", sagt Bayer. "Wir haben ja beim Soli gesehen, wie’s läuft." Ursprünglich für ein Jahr eingeführt, gebe es ihn bis heute.

Lauter noch nicht vernarbte Wunden: so wie Stuttgart 21. Anfangs sah es da aus, als würden die Schwaben endlich mal was "geschenkt" bekommen. Ein preiswerter Superbahnhof fürs "Imidsch", größtenteils von Bund und Bahn finanziert. Viele allerdings hatten das Gefühl, er werde an ihnen vorbei geplant. Und als dann auch noch die Kosten explodierten, wurden die damaligen Proteste zum Urknall. Eine neue Figur betrat die politische Bühne: der Wutbürger. Nicht das Prekariat stand auf, sondern die gebildete Mitte der Gesellschaft.

"Der Wutbürger macht nicht mehr mit, er will nicht mehr. Er hat genug vom Streit der Parteien, von Entscheidungen, die er nicht versteht und die ihm unzureichend erklärt werden. Er will nicht mehr staatstragend sein, weil ihm der Staat fremd geworden ist", schrieb der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit damals.

Mitten im stolzen Villenviertel, hoch über dem "Kessel" der Stuttgarter Innenstadt, in dem immer wieder die Wut hochkocht, liegt das Holzhaus von Carola Eckstein und Matthias von Herrmann, am Gartentürchen ein Aufkleber: Stuttgart 21 rot durchgestrichen. "Schuhe aus, bitte." Ich darf Filzpantoffeln aus dem Gast-Sortiment wählen – schwäbischer kann der Tag kaum werden. Ein Klavier und Antiquitäten, viel Grünzeug in Töpfen.

"Der Staat schürt Angst in der Bevölkerung"

Wir nehmen Platz auf dem Balkon, Protestshirts trocknen in der Sonne. "Der Schwarze Donnerstag, an dem friedliche Demonstranten schwer verletzt wurden, hat natürlich alles verändert", sagt Matthias von Herrmann, praktischer Haarschnitt, prüfender Blick. Wasserwerfer und Polizisten, die im September 2010 selbst Kinder mit Pfefferspray einnebelten: "Was soll das für ein Staat sein?", fragt seine Frau. Das war der Vertrauensbruch. Schnell ging es nicht mehr nur um den Bahnhof, sondern um einen Staat, "der offensichtlich den Respekt vor seinen Bürgern verloren hat". Dazu gehörte auch die behäbige Stuttgarter Justiz, die bei Rechtsradikalen schon mal ein Auge zudrückte, die Bahnhofsproteste aber harsch verfolgte. "Ganz zu schweigen von den Grünen, die der Widerstand an die Macht führte": Frisch am Drücker, verrieten sie aus Sicht der Protestler erst mal die Wähler und zogen das Projekt durch, das man heute nur noch mit dem Berliner Flughafen vergleichen könne.

Das Ehepaar, sie promovierte Mathematikerin, er Politologe, engagiert sich bis heute im Organisationsteam gegen Stuttgart 21, im Februar 2020 feierten sie ihre 500. Montagsdemo.

Als ich wieder in den Kessel hinabsteige, denke ich darüber nach, wie wenig der Begriff "Wutbürger" doch zu diesen Widerständlern passt, die damals eine Debatte über direkte Demokratie anstießen. Würde die Wut solcher engagierten, klugen Bürger nicht verfliegen, wenn sie mehr Mitsprache hätten? Ist es im Kern nicht eine gute, eine produktive Wut? Im Gegensatz zur aktuellen.

Niemand verkörpert den neuen Typ Wutbürger so wie Michael Ballweg. Der 47-jährige Unternehmer mit den "Querdenken"-Shirts, die gerade so viele Schwaben pfiffig finden: Keinem anderen Demo-Organisator gelang es zu Beginn der Coronakrise, so viele Leute auf die Straße zu bringen. Bei Ballweg knurrt einen bereits der Briefkasten an: Keine Werbung, "sonst viel Ärger". Er hat den Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen nach Stuttgart eingeladen – und den passenden Buchtitel im Regal stehen: Lügen mit Zahlen.

Ich besuche ihn in seinem kühlen Unternehmensneubau in Bad Cannstatt, wo sie Software für Kunden wie den Autozulieferer Bosch herstellen. Und was macht er als Erstes? Ballweg richtet eine Kamera auf mich. Journalisten filmen, das tun sonst eher Islamisten oder Rechtsextreme. Feindbeobachtung.

Auch Ballweg ist ein Bürger, der sich engagiert, das verbindet ihn mit Eckstein und von Herrmann. Aber seine Wut ist anders, sie richtet sich nicht gegen so etwas Konkretes wie einen Bahnhofsneubau, sondern gleich gegen das ganze System. Es müsse dringend ein neues her, "mit neuen Parteien". Er redet davon, dass "die Massenmedien" durch "alternative Medien" ersetzt werden würden. Das System, wie wir es kennen, sei am Ende.

Bei den Demonstrationen, sagt er, sei es ihm ums Grundgesetz gegangen. Unterhält man sich allerdings eine Weile mit ihm, scheint sein naturheilkundliches Interesse durch. Ballweg ist Impfskeptiker und sieht sich in Zeiten von Corona als Freiheitskämpfer. Wer sich gesund ernähre, denke kritischer, sagte er einem Naturheilkundesender. Die Menschen würden gerade "in Massen" aufwachen, sich nicht mehr manipulieren lassen. Auf seinen Demos verschenkt er "Energiesteine". Mir kommt Ballweg wie ein Eso-Apokalyptiker vor, eine Art später Nachfahre der pietistischen Untergangsprediger. Er erzählt, dass er seine Lebensversicherungen gekündigt habe, denn er glaube nicht, dass das Geldsystem so noch lange funktioniert.

"Der Staat schürt Angst in der Bevölkerung, um sie besser beherrschen zu können", sagt Ballweg. Dass auch seine Demos Angst schüren – vor der Wirtschaftskrise, dem Staat, den Medien – sieht er nicht. Wahrscheinlich ziehen Ballwegs dystopische Szenarien so viele an, weil die Angst bereits da ist. Er muss ihr nur Ausdruck verleihen.

Neurologisch sind Wut und Angst Geschwisteremotionen, die von der gleichen Hirnregion, der Amygdala, gesteuert werden. Soziologen erklären die Wut der Bürger oft mit der Abstiegsangst der Mittelschicht. Doch woher kommt diese Angst in einer der reichsten Gegenden Deutschlands?

Das schwäbische Wutbürgertum scheint zu großen Teilen aus Ingenieuren zu bestehen, aus Ärzten und Homöopathen. Von denen gibt es viele in der Region, dank der Tübinger Uni, der Gesundheitsindustrie und der anthroposophischen Bewegung, die hier starke Wurzeln hat. Es ging diesen Leuten schon besser: Die Homöopathen bangen dem Ende der Kassenunterstützung entgegen, die durchreformierte Ärzteschaft hat an Geld und Ansehen verloren. Wahrscheinlich kein Zufall, dass in Schwaben zwei Ärzte die Coronaproteste anheizten: ein Sinsheimer, der die Bewegung "Widerstand 2020" mitgründete, und ein Cannstatter Onkologe, der sich als parteiloser Abgeordneter regelmäßig von der Polizei aus dem Landtag führen lässt.

Wieder so ein Schwabenstreich

Ist die Angst vor dem Abstieg vielleicht so groß, weil der Aufstieg so schnell ging? Der Schwabe war praktisch Bauer, bis mit Mercedes, Porsche und ihren Zulieferern die Autoindustrie aufblühte – und er plötzlich auf der Überholspur an Restdeutschland vorbeifuhr. Ein Wandel, der sich in meiner Familie in nur einem Menschenleben vollzog: Mein Onkel übernahm als junger Mann den Bauernhof vom Vater, arbeitete später als Ingenieur bei Daimler, entwickelte das Papamobil mit und traf zwei Päpste.

Wahrscheinlich hat kein Unternehmen so viel dazu beigetragen, den Schwaben ein stabiles Selbstwertgefühl zu geben, wie "der Daimler", der sie jahrzehntelang mit Arbeit und Wohlstand versorgte – und endlich auch mit Ansehen. Wenn der Daimler wankt, wankt dieses Selbstwertgefühl.

In der wirtschaftsgeografischen Fachliteratur gibt es ein Worst-Case-Szenario: Schwaben als "Ruhrgebiet des 21. Jahrhunderts". Landespolitiker erhalten Wutbriefe von Bürgern, die ihnen vorwerfen, mit ihrer Klimapolitik die heimische Wirtschaft mutwillig zu zerstören.

Ein Besuch im Daimler-Stammsitz in Untertürkheim. Am Bahnhof werde ich von einer Limousine abgeholt, die mich zum vielleicht wütendsten deutschen Betriebsrat bringt. Es fühlt sich ein bisschen an, wie Der Pate auf Schwäbisch. Als ich meine Maske anziehen will, sagt der Fahrer: "Wege mir sicher ned".

2009 gründete Oliver Hilburger mit "Zentrum Automobil" eine rechte Gewerkschaft bei Daimler, er selbst sagt: alternative Gewerkschaft. Er und seine Kollegen besetzen in Untertürkheim vier Büros. Hilburger agitiert gegen die Globalisierung, von der Daimler lebt. Corona habe gezeigt, wie zerbrechlich die Lieferketten seien. Auch Arbeitsmigration sieht er skeptisch. Die Wut seiner Anhänger richtet sich teils gegen die Kollegen mit Migrationshintergrund, die neben ihnen am Band stehen. Wegen rassistischer Vorfälle kam es schon zu zwei Kündigungen.

Früher spielte Hilburger in der Rechtsrock-Band Noie Werte, deren Lieder im ersten Bekennervideo des NSU liefen. Heute distanziert er sich von Extremismus; "wenig überzeugend", sagt ein Verfassungsschützer.

Einer von Hilburgers Betriebsratskollegen wurde am Rande einer Corona-Demo in Stuttgart von "40 Vermummten", mutmaßlich Linksextremen, ins Koma geprügelt. Hilburger fragt: "Wo ist der Aufschrei der Medien?" Er freut sich auf den Ballweg-Demos über die Meditationen zur Beruhigung der Massen, "ganz meine Welt". Der Gewerkschaftsgründer ist ein Familienvater, der nicht nur gegen Stuttgart 21 demonstrierte, sondern, auch er: gegen das Impfen.

Eine erstaunliche Besonderheit der schwäbischen Wut: Nirgendwo sonst blenden die zwei Bedeutungen des Worts "alternativ" so ineinander wie im konservativen Eso-Ländle. Die alte linke und die neue rechte Bedeutung: in Schwaben dialektisch vereint.

Mir fällt Maxim Billers Begriff vom Linksrechtsdeutschen ein, worunter er so eine Art Bioladenkäufer mit reaktionärem Mindset versteht. Früher konnte die CDU die Linksrechtsdeutschen im Ländle containern und ruhigstellen. Heute ist die Wut allgegenwärtig, nur hat keine der Wutfraktionen eine Mehrheit. Die einen sind nach links, die anderen nach rechts gedriftet, wieder andere sind bloß verwirrt – aber bei drei sind alle auf den Barrikaden.

Ein "Völklein schwer zu begreifen. Gutes und Schlimmes verknäuelt wie kaum irgendwo", schrieb der Philosoph Friedrich Theodor Vischer 1879 über die Schwaben – würde ich heute noch unterschreiben. Kaum schließe ich einen Mitschwaben ins Herz, macht er mich wütend mit seiner dialektischen Kehrseite. Selbst meine Oma, die mich mit ihrer neurotischen Charakterstärke so beeindruckte, dass ich heute noch viel an sie denke, sagte während der Finanzkrise zu mir: "Jetzt bräuchten wir wieder einen Hitler." Ich war schockiert – sie am Kichern. Ihr Ernst? Oder genoss sie nur meine wütende Reaktion? Wieder so ein Schwabenstreich.

Claudia Schumacher
claudiaschumacher.com

Claudia Schumacher wurde 1986 in Tübingen geboren, wuchs im Ländle auf, studierte Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Kunstgeschichte in Berlin und war Kolumnistin und Redakteurin in Zürich. Heute lebt die Autorin in Hamburg und arbeitet an ihrem Debütroman.

Dieser Artikel erschien zuerst in DIE ZEIT Nr. 28/2020, 2. Juli 2020