Titelthema
WChUTEMAS – das sowjetische Labor der Moderne
Eine Monografie der amerikanischen Architekturhistorikerin Anna Bokov
Es gebe Bücher, schrieb jüngst das Architekturmagazin BauNetz, die raubten dem Leser den Atem. Die in jeder Hinsicht gewaltige Monografie der amerikanischen Architekturhistorikerin Anna Bokov über die sowjetische Kunst- und Architekturschule WChUTEMAS gehöre dazu. Man wird dem Rezensenten unbedingt recht geben. Dieses Buch beeindruckt nicht nur als Ergebnis einer jahrelangen, enormen Forschungsleistung, es ist auch in jeder Hinsicht opulent geworden: durch seinen Umfang, die Ausstattung, die grafische Gestaltung, aber vor allem durch seine Bildauswahl expressivster, selten gesehener Architekturfotografien, Modelldarstellungen oder Zeitdokumente dieser frühen sowjetischen Bauakademie. Sie als sowjetisches Bauhaus zu bezeichnen, würde ihrer Bedeutung und Eigenständigkeit nicht gerecht, obwohl sie sich selbst schlicht nur „Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten“ nannte. Es ist wohl keine Übertreibung vom wichtigsten russischen „Labor der Moderne“ zu sprechen, in einer Zeit, in der die sowjetische Avantgarde die ästhetischen Formen entwarf für die Utopie einer neuen Gesellschaft. Man hat sich einige Jahre vor dem Bauhausjubiläum 2019 dieser Schwestergründung in Moskau noch erinnert und ihr eine Ausstellung im Berliner Gropiusbau gewidmet, aber wirklich ins westliche Bewusstsein gedrungen ist dieses herausragende Kapitel in der Geschichte des modernen Bauens und Gestaltens nicht. Insofern drückt die Rezension in der BauNetz nicht nur die verständliche Bewunderung aus, sondern auch den Umstand, dass man in dieser Monografie über WChUTEMAS tatsächliche Entdeckungen machen kann.
Zu Unrecht oft übersehen
Vieles davon ist im engeren Kreis der Architekturhistoriker vielleicht noch bekannt. Aber man wird beim Durchblättern immer ratloser, warum sich das Wissen um den russischen Anteil an der Geschichte des neuen Bauens und der ästhetischen Formierung der modernen Massengesellschaft so sehr verflüchtigt hat. Das hat mit der Abkehr des stalinistischen Russlands von den eigenen avantgardistischen Anfängen zu tun. Aber auch unser landläufiges Bild von einer im Wesentlichen westlich geprägten Moderne gehört zu jenen propagandistischen Hinterlassenschaften des Kalten Krieges, die noch immer in unseren Köpfen herumspuken können. Insofern treibt dieses Buch einen Keil in unsere festgefügten Überzeugungen, wonach eine wirkliche Moderne nur diesseits der Mauer gedeihen konnte, ja dass wir sie eigentlich jener ästhetischen Befreiung verdanken, die mit dem Sieg der westlichen Alliierten schließlich auch über Nazi-Deutschland kam.
Westliches Denken entstauben
Während aber die Bauhäusler, wie es Gregor Harbusch in der BauNetz so schön formuliert, noch aus dem Exil heraus fleißig an ihrem Nachruhm stricken konnten, war „das Sprechen über die WChUTEMAS bis in die 1960er Jahre hinein politisch tabuisiert.“ Das großartige Buch von Anna Bokov wischt nicht nur den dicksten Staub weg, der jahrzehntelang auf diesem revolutionären Erbe lag. Es zwingt uns auch, uns endlich von liebgewordenen Vorstellungen zu trennen, für die es 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Teilung Europas keine Begründung mehr gibt.
Johann Michael Möller
Buchtipp
Anna Bokov
Avant-Garde as Method: Vkhutemas and the Pedagogy of Space, 1920-1930
Park Books 2020, 624 Seiten,
58 Euro