Titelthema
Wem gehört der öffentliche Raum?
Die Krise des Automobils – und warum wir einen Wechsel in der Gestaltung unseres Verkehrs brauchen
Verkehr war lange Jahre kein wirklich bewegendes Thema. Über Verkehr dachte man nicht nach, Verkehr funktionierte, er war gleichsam eine Basisfunktionalität. Schlagzeilen gab es immer nur dann, wenn es über Megastaus, spektakuläre Unfälle oder über die Eröffnung gigantischer Brücken oder Tunnels zu berichten war. Es schien immer alles schon da gewesen zu sein. Dass in den Städten die Zahl der Autos beständig wuchs und es immer mehr zu Stockungen und anderen Belästigungen kam, gehörte seit den 1970er zur Alltagserfahrung. Es war ärgerlich, aber nicht wirklich relevant, die jeweiligen Regierungen empfahlen in einem immer wiederkehrenden rhetorischen Ritual der Bevölkerung, doch auch mal Busse und Bahnen zu benutzen.
Das hat sich geändert: Im Jahr 2020 wird der Transport von Menschen und Gütern in Deutschland rund 50 Prozent des Primärenergiebedarfes benötigen, der Anteil fossiler Energieträger beträgt dabei mehr als 90 Prozent. Der Verkehr ist der einzige Sektor, dessen C02 Emissionen - gemessen am Referenzjahr 1990 - bis heute steigen. Dabei hat die Bundesregierung in völkerrechtlich verbindlichen Verträgen eine Reduktion der Treibhausgase bis 2030 um 40 Prozent versprochen.
Statussymbol vergangener Zeiten
Mittlerweile blicken die deutschen Kommunen ratlos auf die Verwaltungsgerichte. Seit Jahren emittiert der Verkehr nicht nur immer mehr Klimagase, auch andere Schadstoffe wollen nicht zurückgehen. Der Grenzwert für Stickoxide, von der EU bereits 2010 festgelegt, wird von mehr als 80 Kommunen regelmäßig überschritten. Anfang des Jahres 2018 hat die EU-Kommission Deutschland daher vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Aber was sollen die Kommunen tun? Den einen oder anderen elektrischen Bus beschaffen, einige Ladesäulen für Batteriefahrzeuge aufstellen, einen neuen Fahrradweg anlegen und vielleicht noch einige Haltestellen für Busse und Bahnen einrichten? Es hat bisher nicht viel geholfen und es wird auch weiter kaum etwas ändern.
Es dämmert uns langsam, dass wir über viele Jahrzehnte das private Auto in einem beträchtlichen Maße gefördert haben. Denn das Auto galt nicht nur über lange Jahre als die Ikone der Moderne, es war ein Kernelement des Traumes vom guten Leben. Eigene Familie, eigenes Haus, eigener Garten und eigenes Auto – so sahen die Wünsche der Menschen nicht nur in Deutschland, sondern überall aus. Verkehrspolitik war Gesellschaftspolitik, und spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieges wurde politisch alles dazu getan, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen konnten. Dazu einige Fakten:
• Das ganze System des „motorisierten Individualverkehrs“ kostet jährlich 90 Mrd. Euro. An direkten, auf das Auto bezogenen, Steuern kommen nur rund 55 Mrd. EUR wieder herein.
• Für die Subventionierung des Dieselpreises werden in Deutschland jedes Jahr 8 Mrd. EUR ausgegeben. Privat genutzte Dienstwagen werden in Deutschland mit 3 Mrd. EUR subventioniert.
• Öffentlicher Parkraum ist in Deutschland fast überall für private Nutzungen frei: Nur rund 6 Prozent der Fläche der deutschen Hauptstadt Berlin sind bewirtschaftet, aber selbst dann kostet der Parkausweis für Anwohner nur 10.40 EUR – pro Jahr; das Abstellen von Carsharing Autos kostet dagegen im Durchschnitt 85 EUR pro Monat; selbst das Abstellen von Leihfahrrädern wird in Deutschland in wenigen Monaten mit einer typisch deutschen Erfindung belegt: einer „Sondernutzungsabgabe“.
• In Europa kann das EU-Parlament viel beschließen, die EU-Kommission sogar entscheiden, aber in Sachen Verkehrspolitik bestimmt alleine die deutsche Bundesregierung, wie weit Schadstoffgrenzwerte abgesenkt werden, ob das Transportwesen in einen C02-Zertifikate-Handel integriert wird und ob oder eben ob nicht, Quoten für Elektro-Autos eingeführt werden. Und die deutsche Autoindustrie entscheidet immer im Interesse der Autoindustrie, die nämlich gemeinsam mit den in Deutschland sehr starken Gewerkschaften die vielen Arbeitsplätze dieser Industrie schützen.
• Obwohl seit acht Jahren in mehr als 80 Städten regelmäßig die EU-Grenzwerte von Stickoxiden überschritten werden – wie oben schon erwähnt –, hat die Bundesregierung nichts getan: Deshalb hat die EU–Kommission Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Das war die Rechtsgrundlage für das mittlerweile berühmte Urteil aus dem Jahre 2018: Die gesundheitliche Integrität der Bewohner von Städten ist höher einzusetzen als die Freiheit von Dieselfahrern.
• Zu den Belastungen der Umwelt kommt, gerade in den Ballungsräumen, der alltägliche Wahnsinn zähfließender Blechlawinen, einhergehend mit enormem Stress für die Fahrenden und einer irrsinnigen Verschwendung ihrer Lebenszeit. Dennoch heißt die herrschende Regel in Deutschland und damit auch in Europa immer noch: „Liebe Bürger, fahrt bitte möglichst viel und weit Autos mit deutschen Verbrennungsmotoren! Wir tun auch alles, damit sich das Alle leisten können.“
Und das hat gewirkt: Das Auto ist tief in den mentalen Strukturen der deutschen und auch europäischen Volksseele eingebrannt und ist als unhinterfragte Selbstverständlichkeit dem politischen Diskurs gleichsam entzogen. Wer heute in einer Stadt in Deutschland das Ende des freien Parkens privater Autos diskutieren möchte, wird angesehen als ob man die Grundgesetze der Thermodynamik in Frage stellen würde. Die politische Absicht, die hinter der Popularisierung des Autos steckte und die in der Massenmotorisierung mündete, ist kaum mehr erkennbar. Aber sie ist noch wirksam. Das Auto ist sozusagen immer noch politisch.
Veränderte Lebensverhältnisse
Aber in was für einer Welt leben wir heute denn tatsächlich? Lieben wir unser Auto immer noch so und begreifen es als einen wichtigen Teil unserer familiären Welt, gemeinsam mit dem eigenen Häuschen und dem eigenen Garten? Oder ist das eigene Auto möglicherweise das Symbol von einem Traum des glücklichen Lebens, der längst vergangen ist?
Während sich die Familienbilder, Lebens- und Arbeitsformen veränderten, blieb das Automobil als geschützter und gehegter materialisierter Kern dieses Politikversprechens unangetastet bestehen. Selbstverständnisse, Glücksversprechen und Werteordnung haben sich verschoben, und die Lebensentwürfe fallen individueller und pluraler aus, die gesellschaftlichen Differenzierungen schreiten rasant voran. Könnte es sein, dass das Haltbarkeitsdatum einer auf das Auto fixierten Verkehrspolitik abgelaufen ist?
Wenn heute eine andere Gesellschaft existiert, die sich gegenüber der Nachkriegsgesellschaft gewandelt hat, dann müssten sich auch Alternativen zum privaten Automobil entdecken und politikfähig machen lassen. Denn damit wachsen mutmaßlich auch die Gruppen der Gesellschaft, die sich von einer automobilfixierten Verkehrspolitik alleine nicht mehr angesprochen fühlen, die mehr Grün in den Städten wollen, mehr Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer einklagen und denen der Lärm und Gestank an den Hauptstraßen zur Belastung geworden ist.
Ein Manifest des Wandels
Kurz und bündig: Die Gesellschaft hat sich geändert – jetzt muss auch der Autogebrauch geändert werden. Und tatsächlich, es tut sich was: Seit dem Sommer 2018 scheint eine Art Götterdämmerung heraufzuziehen, selbst in Deutschland. Unhinterfragtes und auf ewig Stabiles gerät plötzlich ins Wanken: der Diesel. Deutschland ist kein gefühlter Fußball-Dauer-Weltmeister mehr, und die seit einer gefühlten Ewigkeit regierende Kanzlerin Angela Merkel hat ihren Rückzug eingeleitet. Vielleicht gilt dies ja auch für die Dominanz privater Autos.
Der Traum von der Moderne könnte daher weitergetrieben werden, die Verbindung von Freiheit, Vielfalt, sozialem Ausgleich und Nachhaltigkeit fortentwickelt und durch Aufteilung des öffentlichen Raumes und die Bereitstellung von Zugängen im verkehrlichen Bereich die Basis dafür geschaffen werden, dass sich auch die soziale Mobilität erhöht, die gesellschaftlichen Verkrustungen auflösen. Der Verkehr hat schon einmal die Bedingung für eine soziale Differenzierung und eine gesellschaftliche Modernisierung geschaffen, warum sollte eine neue multi-optionale, digital vernetzte, regenerativ betriebene und kollektiv nutzbare Verkehrslandschaft nicht wieder einmal der Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Modernisierung sein?
Das Auto ist längst zu einer Commodity geworden, zu einer markenlosen Ware wie Gas, Wasser, Strom. Was markenfähig ist und bleibt, ist die Art und Weise der Bereitstellung und der Integration in Angebote und Dienstleistungen. Dies gilt nicht für die Stadt, auch in Deutschland. Dem Auto wird das Exklusive genommen, es wird Teil einer kollektiven Verfügungsmasse. Was utopisch klingt, ist längst Teil sozialer Praktiken und hat somit die Chance, zur politischen Norm erhoben zu werden. Gleichwohl dürfen wir nicht politisch naiv sein, und wir müssen größer denken. Wir brauchen daher ein Manifest des Wandels: Wem gehört die Stadt? Wer beherrscht den öffentlichen Raum? Wie wollen wir leben?
Im ersten Schritt wird das Abstellen privater Autos genauso viel kosten, wie der dafür notwendige Parkraum. Tiefgaragen oder private Parkräume werden nicht mehr, bzw. nur streng reglementiert, genehmigt. Ausnahmen gibt es nur für Fahrzeuge, die gemeinschaftlich genutzt werden.
Im zweiten Schritt wird die Nutzung der Straßen bepreist. Und zwar alle Straßen von den Bundesautobahnen, über die Bundesstraßen, den Landesstraßen bis hin zu den Gemeindewegen. Gemeinschaftliche Autos zahlen einen reduzierten Tarif. Wer also im regulierten Verkehrsmarkt unterwegs ist – und der umfasst alle öffentlichen Straßen und Räume – wird zukünftig für ein privates und damit exklusiv genutztes Fahrzeug sehr viel bezahlen. Die Möglichkeiten der Digitalwirtschaften und des mobilen Internets machen die technische Realisierung schon jetzt möglich. Die neue Welt soll nicht ohne Autos auskommen, aber ohne den Privatbesitz an Fahrzeugen, und das öffnet damit im wahrsten Sinne den Platz für die verkehrliche Vielfalt und ein höheres Maß an Beweglichkeit. Mehr Freiheiten sozusagen ohne private Fahrzeuge.
Neuerfindung des Verkehrs
Neben der Bewirtschaftung des öffentlichen Raumes und der öffentlichen Straßen und Wege kommt als dritte Komponente noch die Neuerfindung des öffentlichen Verkehrs hinzu. Die europäische Stadt beauftragt die Betreiber des öffentlichen Verkehrs, digitale Plattformen so zu orchestrieren, dass die Großgefäße ihre Leistungsfähigkeit in den Stoßzeiten ausspielen können, dass aber die Flexibilität und Zugänglichkeit rund um die Uhr an jedem Tag geben ist. Der öffentliche Verkehr ist damit zukünftig kein Resteverwerter mehr, sondern die Regieanstalt für den gesamten Verkehr in Ballungsräumen, der alle Geräte, Busse und Bahnen miteinander vernetzt.
Das Auto wandelt sich daher zum kollektiven Nutzungsgut, eingebettet in eine intermodale Angebotsstruktur. Damit werden die gesellschaftlichen Transformationsprozesse viel besser unterstützt als mit der Idee des privaten Autos. Die Losung des Tages liegt damit klar auf der Hand: Wir brauchen den Wechsel. Wir können den Wechsel schaffen. Aber der Wechsel fällt nicht vom Himmel.
2016 erschien sein Buch "Die digitale Mobilitätsrevolution. Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten" (oekom). www.wzb.eu