Titelthema
Wenn Japan näher wäre

Manchmal erscheint etwas auf Distanz sehr viel faszinierender als bei näherem Hinsehen. Ist das mit Japan auch so?
Japan genießt ein fast surreal positives Image in der deutschen Öffentlichkeit. Viele haben das Land bereist und schwärmen von der hervorragenden Infrastruktur (Züge sind pünktlich und sauber!), dem wunderbaren Essen, der meist höflichen Art der Menschen oder der für Deutsche unvorstellbar gewordenen öffentlichen Sicherheit. Dabei wird in unseren Medien vergleichsweise selten über Japan berichtet. Nachdem das Interesse an dem GAU in Fukushima verflogen war, sind zuweilen noch Storys zu Religion (zum Beispiel Zen), massierten Rindern (Kobe-Beef) oder Tod durch Überarbeitung zu finden, doch tragen solche Themen eher zu der üblichen Exotisierung des Landes bei.
Stellen wir uns doch mal vor, Japan wäre kein fernes Land, sondern vielleicht Teil der EU und damit auch Gegenstand derselben kritischen Berichterstattung wie unsere Nachbarländer. Für dieses Gedankenspiel könnten wir uns ein paar Punkte ansehen, die in deutschen Medien häufig bei der Betrachtung anderer Staaten herangezogen werden. Einer wäre die Flüchtlingspolitik. 2023 stellten in Japan knapp 14.000 Menschen einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtlinge. Weniger als zehn Prozent durften nach Prüfung im Land bleiben. Diejenigen, die abgelehnt wurden, wurden so schnell wie möglich auf die Rückreise in ihr Herkunftsland geschickt. Aus der Ukraine waren bis Ende 2023 etwa 2100 Menschen vorübergehend aufgenommen worden. Der Anteil von dauerhaft in Japan lebenden Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit beträgt 2,7 Prozent (Deutschland: 15 Prozent).
Knast auf Verdacht
Der Umgang mit Menschen der LGBTQ-Community ist ebenfalls ein prominentes Thema im deutschen Journalismus, und auch hier bietet Japan ein ungewohntes Bild. Unter allen Industrienationen schneidet das Land bei den gesetzlichen Schutzvorkehrungen für LGBTQ-Menschen am schlechtesten ab. So gibt es beispielsweise kein Antidiskriminierungsgesetz, und die gleichgeschlechtliche Ehe ist nicht erlaubt, obwohl sich zwei Drittel der Bevölkerung dafür aussprechen.
Grund für Japans Außenseiterrolle in diesem gesellschaftspolitischen Feld ist vor allem die Dauerregierungspartei LDP, und auch die passt nicht in das deutsche Japan-Image. Denn stellen Sie sich vor, in der EU gäbe es ein Land, das 65 der letzten 69 Jahre von ein und derselben Partei regiert worden wäre. Genau das hat die 1955 gegründete Liberaldemokratische Partei getan, wenn auch seit Mitte der 1990er fast immer mit Koalitionspartner. Müsste man da nicht die Frage stellen, ob öffentliche Sicherheit, funktionierende Infrastruktur und ein leistungsfähiges Bildungssystem das Ergebnis der Einparteien-Dominanz sind? Oder eher, wie es um die Qualität der Demokratie des Landes bestellt ist?
Bei der Beantwortung der zweiten Frage könnten auch die Kosten thematisiert werden, die Neueinsteiger in Japan zu tragen haben, wenn sie sich politisch engagieren und zur Wahl stellen wollen. Politische Aktivitäten kosten Geld, das ist nichts Außergewöhnliches. Aber dass bei einer Kandidatur für das Unterhaus zunächst einmal knapp 20.000 Euro als Pfand hinterlegt werden müssen, nimmt schon einmal manche Interessierte aus dem Rennen. Das Pfand erhält nämlich nur zurück, wer mindestens zehn Prozent der gültigen Stimmen gewinnen konnte. Beamte dürfen sich nicht politisch engagieren, und so ist eine wichtige Bedingung für politische Wettbewerbsfähigkeit ein großer Geldbeutel. Repräsentation und Durchlässigkeit der japanischen Demokratie sind folglich von unserem Ideal weit entfernt. Es könnte sogar der Eindruck entstehen, Japan würde von der immer gleichen vermögenden Politikergilde beherrscht.
Die LDP ist auch dafür verantwortlich, dass der Frauenanteil in der Regierung gering ist. Unter den 19 Kabinettsmitgliedern sind gegenwärtig zwei Ministerinnen zu finden: Toshiko Abe ist für Bildung und Wissenschaft zuständig, ihre einzige Kollegin, die ehemalige Schauspielerin Junko Mihara, ist mit dem Portfolio für Kinderpolitik, Gleichstellung und Frauenförderung betraut. Der Anteil weiblicher Abgeordneter, Kandidatinnen bei Wahlen, weiblichen Ausschussvorsitzenden: Im internationalen Vergleich ist er sehr gering. Eigentlich reicht schon der Hinweis auf Position 118. Dort steht Japan in der Wertung des Global Gender Gap Report, der vom Weltwirtschaftsforum im Juni 2024 veröffentlicht wurde und 146 Staaten umfasst. Deutschland steht auf Rang 7.
Man kann die Liste der Punkte, die Japans Image in Deutschland verändern könnten, fortschreiben, zum Beispiel mit den weitreichenden Befugnissen von Polizei und Staatsanwaltschaft, die Verdächtige 23 Tage ohne Anklage (!) in Haft nehmen können. Kein Kontakt zu Familie oder Freunden, meist nur ein einziger Besuch von einem von den Behörden zur Verfügung gestellten Anwalt. Und wenn die Staatsanwaltschaft das für richtig erachtet, kann sie nach Ablauf der 23 Tage mit einem weiteren Tatvorwurf die Uhr auf null stellen. Das bedeutet: weitere 23 Tage Haft ohne Anklage, und das in ungeheizten Zellen. Ein ehemaliger Staatsanwalt formulierte es so: „Verhaftete werden im Grunde als Geiseln gehalten, bis sie den Staatsanwälten geben, was sie wollen.“
Inselmentalität
Während der Pandemie kam zudem die Inselmentalität vieler Menschen in Japan zum Vorschein. Ihre Regierung hatte sich – mit hoher Zustimmung der Bevölkerung – entschieden, keine Ausländer mehr ins Land zu lassen. Für diejenigen von ihnen mit japanischer Familie und Wohnsitz in Japan konnte das weitreichende Folgen haben. Wenn sie sich außerhalb Japans befanden, kamen sie nicht wieder rein. Und wenn Sie aus Japan rausmussten, wussten sie nicht, wann sie anschließend wieder hätten einreisen dürfen. Tausende von ausländischen Studierenden konnten ihr Studium nicht beginnen oder ihr Stipendium antreten. Andersherum ging es. Japanische Gaststudierende durften ins Ausland und auch wieder zurück. In Deutschland wurden sie auf Wunsch auch geimpft. Aber das alles ist ja nur ein Gedankenspiel. Japan bleibt ein fernes Land und wird auch mit der Expo in Osaka sein Nation-Branding festigen, auch wenn es neben den guten auch einige dunkle Seiten hat, wie jedes Land. Aber die Züge sind pünktlich, das Essen großartig, die Leute höflich und die Straßen sicher. Banzai.
Tipp:

Japan-Bildband 5
Yasuhiro Ogawa
The Dreaming
In der Serie „The Dreaming“ versammelt Yasuhiro Ogawa eine Auswahl von Schwarz-Weiß-Fotografien, welche in knapp 25 Jahren auf Reisen in Asien und Mittelamerika entstanden sind. Die Bilder erzählen von der Freiheit des Unterwegsseins.
Sokyusha Publishing & Blue Lotus Editions 2022, 104 Seiten, ca. 50 Euro, als englische und japanische Ausgabe erhältlich

Axel Klein ist Professor für japanische Politik an der Universität Duisburg-Essen. Er hat mehrere Jahre im Land gelebt und gearbeitet, spricht Japanisch und produziert u.a. den Podcast „Japan und dann das:“.
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