Titelthema
Wie der Blinddarm
Wer seinen Platz in der Gegenwart finden will, braucht eine Basis in der Vergangenheit. Die haben die Bürger der damaligen DDR nicht. Es ist Zeit, das zu ändern.
Es sollen bedeutende Reden gehalten, wichtige Diskussionen geführt und nostalgische Erzählungen dargebracht werden. Zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik haben Bundespräsident, Bundestagspräsidentin, Bundeskanzler, die Präsidentin des Bundesrats und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die dunklen Anzüge und Kostüme schon aufgebügelt. Sie werden in der ersten Reihe sitzen, wenn am 23. Mai der 75. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert wird.
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Ohne jeden Zweifel: Es gibt gute Gründe zum Feiern dieser Demokratie. Manche sind in diesen Monaten allerdings weniger optimistisch. Sie sorgen sich um die Zukunft des freiheitlichen Deutschlands. Und einige fragen sich, wo in der feierlichen Erzählung über die alte Dame Bundesrepublik die DDR geblieben ist. War da nicht etwas? Die DDR und ihre Geschichte sind in den vergangenen 35 Jahren wie der Blinddarm der deutschen Nachkriegsgeschichte behandelt worden: Eigentlich findet man den Wurmfortsatz unnötig, man erinnert sich nur an ihn, wenn die Bauchschmerzen kommen. Das ist ein Fehler. Denn die Folgen sind eklatant.
Artikel 2 (1)
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Immer noch haben viele Ostdeutsche – inklusive der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel – das Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, die ihr Leben und ihre Existenz in der DDR anders rechtfertigen müssten als Westdeutsche. „Bin ich in der DDR also in so etwas wie dem ‚Dritten Reich‘ aufgewachsen?“, fragte der Theaterregisseur Thomas Oberender im Jahr 2017 in einem Zeitungsbeitrag – um sich und anderen die Antwort zu geben, dass allein die Frage eine Zumutung ist.
Bleibende Bauchschmerzen
Immer noch können Intellektuelle wie der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann auf große Zustimmung hoffen, wenn sie eine pauschale Diskriminierung Ostdeutscher im Wissenschaftsbetrieb beklagen und den Westdeutschen die Schuld daran geben. Und immer noch (oder schon wieder) berichten junge Studierende, ihre ostdeutsche Herkunft sei ein Identitätsmerkmal, das sie im Vergleich zu ihren westdeutschen Kommilitonen abwerten solle.
Es ist kein Wunder, dass dem Land Bauchschmerzen diagnostiziert werden. Und es ist auch kein Wunder, dass diese Bauchschmerzen etwas mit dem Platz der DDR in der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte zu tun haben.
Die Geschichte Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg wird normalerweise so erzählt: Das Land war von 1949 bis 1990 geteilt. Es existierten zwei Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Das eine Land gehörte dem westlichen Bündnis an, das andere dem Warschauer Vertrag. Das eine war frei und erfolgreich, das andere hatte von beidem nicht sehr viel zu bieten. Die Regierenden und die Bürger beider Länder beäugten einander feindselig, sie verglichen sich, maßen das Eigene am jeweils Anderen. Eine Zeit lang wünschten sie sich noch, wiedervereinigt zu werden. Nach und nach aber verlor sich dieser Wunsch bei den meisten. Man ging seiner Wege. Bis zum Mauerfall.
Keine Ehre den Revolutionären
1990 ging die DDR unter. Ihre Geschichte wird von hinten erzählt, vom Ende zurück in die kurze Geschichte – das ist die Strafe für gescheiterte Staaten. Im Rückblick betrachtet, erscheint der Verfall logisch und unausweichlich, so als habe die Sache von Anfang an ein Ziel, nämlich das ruhmlose Ende, im Blick gehabt. Den Nachfahren präsentiert sich die Deutsche Demokratische Republik als Episode, die sich erledigt hat. Dabei ist das nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte, die Gründung eines sozialistischen Staates, die Integration in den Warschauer Pakt, vor allem aber die erste und einzige erfolgreiche Revolution der Bürger in der deutschen Geschichte, fällt unter den Tisch.
Die Friedliche Revolution von 1989 genießt nicht den Rang eines identitätsstiftenden nationalen Ereignisses, den sie verdient hätte. Anders als etwa die amerikanische Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 oder der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 in Paris werden in Deutschland nicht die mutigen Aufständischen geehrt. Der 3. Oktober als „Tag der Deutschen Einheit“ passt geschmeidiger in einen gesamtdeutschen Feiertagskalender als die Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989, deren Teilnehmer noch fürchten mussten, von den aufmarschierten Volkspolizei- und Armeeeinheiten misshandelt und verhaftet zu werden.
Die westdeutsche Geschichte dagegen wird von Beginn an chronologisch erzählt und fortgeschrieben, von der Staatsgründung bis heute. Der Blick auf diese Geschichte bestimmt nicht nur die Position des Landes in der Vergangenheit, er legitimiert auch seine Gegenwart. Dieser Faden wird nach 1990 weitergesponnen und beansprucht heute Gültigkeit für West- und Ostdeutschland, teilweise ja auch völlig zu Recht.
Glück und Pech
Anfangs hatte Westdeutschland aus verschiedenen Gründen einfach nur mehr Glück: die bessere wirtschaftliche Ausgangssituation, das erfreulichere politische System, eine ordentliche Währung, liberale Wirtschaftspolitik, kaum Demontagen durch die Siegermächte. Der Koreakrieg ermöglichte die unerwartet schnelle Integration in das westliche Bündnis und legte den Grundstein für den ökonomischen Aufschwung. Wegen des Krieges in Asien wuchs zu Beginn der 50er Jahre die Nachfrage nach Eisen, Stahl, Maschinen und Industrieprodukten so sprunghaft, dass man auf die verachteten (West-)Deutschen nicht mehr verzichten konnte und wollte. Dafür nahmen alle Beteiligten die Teilung Deutschlands in Kauf.
Ostdeutschland, die sowjetisch besetzte Zone (SBZ), dagegen hatte Pech. Es war der Verlierer der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West – mit Folgen, die bis heute nachwirken: „Die extreme, willkürliche Ungleichverteilung dieser Lasten (des Krieges, die Verfasserin) ist eines der Grundprobleme jener deutschen Geschichte, die mit dem 8. Mai 1945 begann“, schrieb der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg. Zerstörung, Demontagen, Enteignungen und die Kollektivierung der DDRWirtschaft verzögerten und behinderten den ökonomischen Wiederaufstieg und schufen ein deutlich weniger leistungsfähiges wirtschaftliches System.
Alternative zum jeweils anderen
Die Flucht Hunderttausender Ostdeutscher nach Westen und später der Einfluss der westdeutschen Medien als immer präsentes „Schaufenster des Westens“ ließen Fortschritte in der DDR klein und grau erscheinen. Staatliche Repression, permanente Überwachung und Kontrolle engten die Handlungsspielräume von Künstlern, Wissenschaftlerinnen, Unternehmern, Professoren und Lehrerinnen ein oder eliminierten sie ganz. Selbst wenn die DDR mit dem Anspruch, das „bessere Deutschland“ zu sein, von Anfang an den eigenen Platz in den Geschichtsbüchern beanspruchte, kam sie diesem Ziel nur politisch im Lauf der Zeit näher. Für alle erkennbar, wurde sie ihm allerdings immer weniger gerecht, wenn es um Freiheit, Bürgerrechte und Wohlstand ging.
Und doch konnte selbst Mitte der 80er Jahre niemand wissen, dass die DDR im Herbst 1989 unter Druck geraten, sich im November öffnen und im Oktober 1990 dem westdeutschen Staatsgebiet anschließen würde. Die DDR schien bis kurz vor der Friedlichen Revolution ein stabiles Land mit einer eigenständigen sozialistischen Zukunft zu sein, ebenso wie der Westen des Landes der eigenen selbstbewusst entgegensah. „Wer auch wollte glauben“, schrieb Willy Brandt im Frühjahr 1989, „eines Tages vollziehe sich der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, und das war’s dann?“
Weil die DDR am 3. Oktober 1990 genau das tat, nämlich dem Geltungsbereich des westdeutschen Grundgesetzes beizutreten, reduzierte sich das Verständnis gültiger deutscher Nachkriegsgeschichte erst recht auf die Perspektive Westdeutschlands.
Dabei waren die Bundesrepublik und die DDR auch in den 40 Jahren der Teilung eng verflochten, sie sahen sich als Alternative zum jeweils anderen, als Grenzstaaten und Musterknaben der beiden großen Blöcke in einem systemprägenden Wettbewerb. Die DDR ist für die Geschichte Westdeutschlands vor allem in den Anfangsjahren wichtiger gewesen, als das im Westen heute gesehen wird. Umgekehrt wuchs das Ansehen der Bundesrepublik im Osten in den späten 70er und 80er Jahren, je deutlicher ihr wirtschaftlicher Vorsprung wurde, je liberaler der Reiseverkehr gehandhabt wurde, je mehr man voneinander wissen konnte.
Gleichberechtigte Geschichte
Die Krise der DDR war tiefer, als es vielen in Ostdeutschland im verklärenden Rückblick erscheint. Die Regierung hat ihre Bürger beschränkt, ihnen die Freiheit genommen, sie ausspioniert und eingesperrt. Wirtschaftlich war sie nicht überlebensfähig. Doch auch sie war ein Land, das gerade in den Anfangsjahren von vielen gewollt war, für das sich viele leidenschaftlich engagierten und in dem die meisten sich später eingerichtet haben. Die Zahl der Dissidenten und Oppositionellen blieb selbst in den letzten Jahren des sozialistischen Staates überschaubar – die wachsende Zahl der Ausreiseanträge aber zeigte, wie und wo die Unzufriedenheit wuchs, die Angst vor Repressionen abnahm und die Hoffnung auf eine „bessere DDR“ immer weiter nachließ.
„Es gibt Ereignisse in der Vergangenheit jeder Nation, die nicht einfach vorbei und nur noch von historischem Interesse sind“, mahnt die Anglistin Aleida Assmann alle, die im Nachhinein in der DDR eine Nachkriegserscheinung mit sicherem Verfallsdatum sehen wollen. Mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit wird in diesen Monaten sehr deutlich, wie recht sie hat.
Beide Teile Deutschlands verdienen es, dass ihre Geschichte in den Jahren der Teilung von Beginn an erzählt und gewürdigt wird. Die getrennte und verflochtene Historie beider Staaten ebenso wie die Zeit seit der deutschen Einheit sind die deutsche Nachkriegsgeschichte.
Buchtipp
Ursula Weidenfeld
Das doppelte Deutschland: Eine Parallelgeschichte 1949–1990
Rowohlt Berlin,
416 Seiten, 25 Euro
Dr. Ursula Weidenfeld war stellvertretende Chefredakteurin des Berliner „Tagesspiegels“. Heute arbeitet sie als freie Wirtschaftsjournalistin. 2007 wurde Ursula Weidenfeld mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
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