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Titelthema

Wir brauchen Helden

Titelthema - Wir brauchen Helden
Als Claus Schenk Graf von Stauffenberg (l.) am 15. Juli 1944 in der „Wolfsschanze“ auf Adolf Hitler traf, soll er den Sprengstoff bereits dabeigehabt haben. © Ullstein Bild via Getty Images

Immer wieder werden die Architekten des 20. Juli 1944 verunglimpft, instrumentalisiert, vom Sockel gestoßen. Damit muss endlich Schluss sein.

Tim Pröse01.07.2024

Der Sohn hat für seinen Vater einen Platz freigehalten. Mitten in seinem Wohnzimmer, bis heute. Auf einer Kommode steht sein Denkmal. Und wenn Berthold Graf von Stauffenberg mit mir über seinen Vater spricht, schaut er mir manchmal in die Augen. Aber genauso oft blickt er auch den bronzenen Schädel seines Vaters an. Hinter ihm hängt ein Kreuz, an das der Sohn einen Buchsbaumzweig geklemmt hat. Um die Büste herum hat er Fotos aufgestellt. Sie zeigen ihn als Jungen mit Prinz-Eisenherz-Frisur mit seinen Brüdern und seinem Vater, der 1943 aus dem Lazarett heimkam. Sie lachen.


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Diese Kommode mit ihren Erinnerungen ist Berthold von Stauffenbergs ganz private Gedenkstätte, und es ist vielleicht die schönste, die ich bisher gesehen habe. Zuneigung liegt bis heute im Blick des Sohnes, wenn er das kleine Denkmal betrachtet.

Als ich Berthold Graf von Stauffenberg in seinem Haus bei Stuttgart besuche, erinnert er sich mit seinen fast 90 Jahren an die ersten Tage nach dem Attentat. Da war er zehn. Er liest schon manchmal die Zeitung. Und sieht nun die Schlagzeile mit dem Namen Stauffenberg, die Hasstiraden der Propaganda. Auch im Radio hört er Goebbels’ Propaganda triumphieren. Er versteht die Welt nicht mehr – schon gar nicht ahnt er die große Gefahr. Berthold von Stauffenberg sagt: „Ich hörte und las also, dass es ein Attentat auf den Führer gab. Ich fragte meine Mutter, was da geschehen ist. Doch sie gab mir keine Antwort, drückte mich vom Radio weg.“

„Verräterkinder“, eingesperrt in Bad Sachsa

Doch dann erfährt Berthold, dass sein Vater erschossen worden ist. Es schmerzt ihn mit doppelter Wucht. Da ist natürlich die Trauer eines Kindes, da ist aber auch das Unverständnis über die Tat. Denn selbstverständlich haben ihm seine Eltern verheimlicht, dass der Vater gegen Hitler kämpft. Um ihre Kinder zu schützen, spielt seine Mutter jetzt sogar die überraschte und unwissende Ehefrau, sagt, dass der „Vati einen schlimmen Fehler begangen hat“. Nur um Berthold und seine drei Geschwister zu entlasten, sollten auch sie verhört werden.

Und es eilt: Kurz darauf verschleppen SS-Männer die Stauffenberg-Kinder ins Heim nach Bad Sachsa im Harz. Die Mutter kommt ins KZ Ravensbrück. Sie müssen den Namen „Meister“ annehmen. Stauffenberg sagt: „Sie nannten uns ‚Verräterkinder‘.“ Auch die anderen Kinder des 20. Juli – viele kommen in jenes Kinderheim – werden so tituliert und behandelt. Wer wie Stauffenberg nur sich selbst und seinem Gewissen verpflichtet ist, ruft damals wie heute Zweifler und Zyniker auf den Plan. Kritiker behaupten, den überwiegend aristokratischen Verschwörern sei es bei ihrem Plan darum gegangen, eigene Privilegien oder sogar Ländereien im Osten zu retten. Wahr ist, dass sie sich ihrem Land verpflichtet fühlten. Und dass die Menschen des 20. Juli gute Kontakte zu christlichen, bürgerlichen und sozialdemokratischen Widerstandskreisen hatten. Stauffenberg wusste, dass der Widerstand eine breite Basis haben musste. Wie weitverzweigt der Widerstand war, leugneten die Nazis gerne. Und so verfestigte sich auch dieses Vorurteil lange noch nach dem Krieg.

Selbstlos fürs Vaterland

Ein anderer Vorwurf, der bis heute überdauert hat, ist jener, dass Stauffenbergs Attentat zu spät gekommen sei. Doch nach dem 20. Juli 1944 starben 4,8 Millionen Deutsche – mehr als in all den Jahren des Krieges zuvor. Es rollten weiter unablässig Züge nach Osten, in die Gaskammern der Vernichtungslager.

„Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird.“

Diese Worte schrieb Generalmajor Henning von Tresckow in seinem Abschiedsbrief am 21. Juli 1944. Er war der geistige Anführer der Verschwörer. Der „Gerechten“. Sie selbst hätten sich nie so genannt, denn es ist ein Wesensmerkmal eines Helden, dass er sich selbst nie so nennen würde. Aber ich glaube, dass nicht nur zehn dieser „Gerechten“ General Tresckows Hoffnung erfüllten, so wie es schon im Alten Testament stand, sondern viele mehr. Und ich glaube auch, dass wegen ihnen, den vielen wunderbaren Frauen und Männern des deutschen Widerstands, Deutschland nicht vernichtet wurde. Und ich meine damit nicht nur die Schönheit dieses Landes, seine Städte und seine Häuser, die damals tatsächlich zertrümmert, aufgerieben und verbrannt wurden. Sondern auch die Kultur und Sprache, die die Nazis schwer beschädigt hatten. Und ich meine damit immer wieder das Gemüt dieses Landes, das die Nazis auch beinahe zerstört hätten.

Aber er sei doch kein Demokrat gewesen und er hatte lange mitgemacht, so lautet bis heute ein weiterer Vorwurf gegen Stauffenberg. Ja, das mag sein. Aber er hatte sich verwandelt. Und etwas gewagt. Etwas getan. Mitten in einem Land, das sich selbst beim Sterben und Morden und Untergehen zusah.

150 Männer und Frauen des 20. Juli ließ Hitler grausam an Drahtseilen aufhängen. Wieso reicht es so vielen Deutschen nicht, dass sich diese geopfert haben, um das Böse zu besiegen? Und wie mutig wären jene, die heute urteilen und verurteilen, damals gewesen?

Etwas mehr vom Großmut und der Großzügigkeit der Menschen des 20. Juli würde in der heutigen politischen Kleinkariertheit guttun. Denn was hätten diese Leute, die heute in einer Demokratie über jene Menschen urteilen, die einen Menschenvernichter in einer monströsen Diktatur beseitigen wollten, wohl getan in dieser einen Nacht?

Trotzdem wird den Verschwörern des 20. Juli 1944 von manchem Kritiker bis heute vorgeworfen, zunächst überzeugt gewesen zu sein vom Nationalsozialismus. Selbst wenn es stimmte, was nicht bei allen zutraf: Ist es nicht gerade die Erkenntnis, falschgelegen zu haben und seinen eigenen Fehler zu korrigieren, die Persönlichkeit erfordert?

Ein Denkmal mitten in Berlin

Dennoch werden das Attentat und diese Männer posthum nicht nur gern diskreditiert, sondern auch vereinnahmt. Wehren können sie sich gegen beides nicht mehr. So wurde Stauffenberg aus den Reihen der AfD mal als Verräter verunglimpft, dann wieder versuchte die Partei, sich den Widerstand gegen Hitler einzuverleiben, ja ihren eigenen „Widerstand“ gegen die „Mainstream-Parteien“ mit dem Widerstand des 20. Juli gleichzusetzen und ausgerechnet einen durch und durch unabhängigen Geist wie Stauffenberg zu instrumentalisieren.

Ein Denkmal im hessischen Melsungen, vor dem ich auf dem Weg zu einer meiner Lesungen stehen bleibe, erzählt mir von einem Glücksfall in der Nach-kriegsgeschichte. Er erinnert mich daran, dass es ausgerechnet der Schoah-Überlebende, Generalstaatsanwalt und Initiator der Auschwitz-Prozesse Fritz Bauer war, der die Männer und Frauen des Widerstands vom Stigma des Verrats befreite und der dafür kämpfte, das Recht zum Widerstand gegen das NS-Unrechtsregime endlich anzuerkennen.

Das ist möglich geworden durch die Weitsicht Fritz Bauers, der der Überzeugung war:

„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden!“

Nahezu alle Verschwörer bekannten sich freimütig zum 20. Juli. Der große Historiker Joachim Fest prägte das Wort vom „Lohn der Vergeblichkeit“: Ihr Scheitern lasse die Menschen in einem „noch reineren Licht hervortreten“. Aus meiner Sicht ist ebendiese Bereitschaft zum Verzicht eines der großen Vermächtnisse dieser „Gerechten“. Sie taten etwas ohne eine Aussicht, dafür entlohnt zu werden. Wie wertvoll scheint mir das für die heutige Zeit. Gerade deshalb sollten wir uns fragen: Würde ein Denkmal mitten in Berlin, das an den 20. Juli erinnert, nicht auch dem modernen Deutschland gut stehen?

Stattdessen tun wir uns schwer mit seinen wahren Helden – bis heute. Die Vorsicht ist begründet. Und wenn einer heute sagt, wir bräuchten Helden, klingt das erst einmal fordernd und oft übertrieben.

Schönbeck trifft von Hagen

Für mein neues Buch durfte ich eine Dame wie Helmtrud von Hagen treffen. Ihr Vater Albrecht von Hagen war einer der wichtigsten Männer des 20. Juli, er besorgte Sprengstoff, um Hitler zu beseitigen. Und es ist ein Zufall, dass ausgerechnet jener Mann, der monatelang mit diesem Albrecht von Hagen zusammengelebt hatte, mein Freund Hans-Erdmann Schönbeck ist. Hansi wurde als einer der letzten Wehrmachtssoldaten aus dem Kessel von Stalingrad geflogen und später ganz in die Nähe von Hitler versetzt. Er wurde 100 Jahre alt. Über Hansi Schönbeck und sein Leben durfte ich vor drei Jahren mein Buch „... und nie kann ich vergessen“ schreiben.

So begab ich mich auf die Suche nach Helmtrud von Hagen und hoffte, dass sie noch lebte. Als ich sie in Spanien ausfindig gemacht hatte und ihr von meinem Freund Schönbeck erzählte, staunte sie. Hatte sich Helmtrud von Hagen doch ihr ganzes Leben lang gefragt, wie ihr Vater seine letzten Monate, Wochen und Tage wohl verbracht haben mochte. Niemand konnte es ihr sagen. Sie hatte nur erfahren, dass er nach dem Stauffenberg-Attentat plötzlich verhaftet worden war.

Doch Hansi wusste mehr. Er war 21 Jahre alt, als er Augenzeuge der letzten Tage im Leben seines Kameraden, des Widerstandskämpfers Albrecht von Hagen wurde. Mit ihm teilte er sich seine Baracke im Mauerwald nahe dem Führerhauptquartier „Wolfsschanze“. Hansi schlief dort, ohne es zu ahnen, tagelang neben einer Bombe, mit der Stauffenberg Hitler töten wollte. Denn Albrecht von Hagen hatte sie dort eine Zeit lang unter seinem Bett versteckt, das gegenüber von Hansis stand. Und so überraschte ich seine Tochter Helmtrud mit der Idee, die beiden zusammenzubringen. Sie und auch Hansi Schönbeck sagten gleich zu. Ich werde diesen denkwürdigen Tag mit den beiden, an dem die Zeit noch einmal aussetzte, nie vergessen.

Die Seele des Landes gerettet

Ebenso wenig wie den Tag, den ich mit Klaus von Dohnanyi verbringen durfte. Sein Vater war der Motor des 20. Juli – und sein Onkel niemand anderes als Dietrich Bonhoeffer. Beide wurden am selben Tag, dem 9. April 1945, erhängt. Als ich Dohnanyi fragte, wie er als Junge damit fertig wurde, blickte er durch die Fenster seiner Villa auf die Hamburger Außenalster und antwortete: „Das Leben stellt sich zwischen jedes Leid und das eigene Selbst. Keiner weiß, mit welchen Kräften man welche Widerstände im Leben besteht. Wie man sich aufrecht hält.“ Ich glaube, dass wir die Aufrechten heute sehr brauchen, die echten Helden mit ihrer Demut und ihrem Herzensmut. Die uns erbauen in ihrem Tun und uns erheben. Keine Überhelden, sondern solche, die unserem Gemüt guttun. Die das Gute in uns allen wecken. Ich denke dabei an die Seele unseres heutigen Landes, die in Gefahr schwebt und leidet. Das spüren die Menschen, die Mensch geblieben sind in diesen Zeiten. Und die noch nicht hassen oder zurückhassen.

Dieses Wort hat sich mir eingebrannt, als ich den Schoah-Überlebenden Yehuda Bacon in Israel ein paar Tage begleiten durfte und mit ihm die Gedenkstätte für den Holocaust in Jerusalem besuchte, Yad Vashem. Damals antwortete er mir auf meine Frage, warum er die Deutschen nicht hasse, nach all dem, was sie ihm in Auschwitz angetan hatten: „Wenn ich zurückhassen würde, hätte Hitler am Ende doch noch gewonnen.“ Und das sagte er in einer Zeit, in der der Antisemitismus längst zurückgekehrt war nach Deutschland, einige Jahre bevor Israel am 7. Oktober 2023 angegriffen wurde.

Ich glaube, dass auch ein paar wenige Treiber des 20. Juli, die nicht zurückhassten, und ihre Kinder, die ebenfalls nicht zurückhassten, ein Stück von der Seele unseres Landes gerettet haben. Die Kinder des 20. Juli schlagen eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart. Und das in einem Land, in dem das Gestern gegenwärtiger ist denn je.


2024, carl friedrich goerdeler, titelthema
Carl Friedrich Goerdeler © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

 

Carl Friedrich Goerdeler, 31.07.1884 – 02.02.1945,  war seit 1930 Oberbürgermeister von Leipzig. Nach seinem Rücktritt 1936 wurde er zum Mittelpunkt ziviler Widerstandskreise. Hätte der Staatsstreich Erfolg gehabt, wäre Goerdeler Reichskanzler geworden.

 

 

 


  

 

Albrecht von Hagen, 11.03.1904 – 08.08.1944, besorgte den Sprengstoff für das Attentat auf Hitler. Im Mai 1944 übergab er die Sprengstoffpakete an Stauffenberg. Nach dem gescheiterten Anschlag wurde er im ersten Prozess zum Tode verurteilt.

 

 

 


Buchtipp

2024, buchtipp, tim pröse, titelthema
© Heyne 2024

 

Tim Pröse

Wir Kinder des 20. Juli. Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte

Heyne 2024,

368 Seiten, 22 Euro

 

 

 

Tim Pröse

Tim Pröse ist freier Buchautor. Einige seiner Bücher („Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler“) landeten in den „Spiegel“- Bestsellerlisten. Für sein neues Buch „Wir Kinder des 20. Juli“ begegnete er u. a. Berthold von Stauffenberg, Klaus von Dohnanyi, Carl Goerdeler, Helmuth Caspar von Moltke und Axel Smend.