Titelthema
Wissen, was gespielt wird
Nur sehr zögerlich erkennt die Politik das große Potenzial von Spielen für Computer, Handy und Konsole.
Wenn am 23. August die Gamescom 2023 in Köln startet, blickt die Videospiele-Welt zumindest für einige Tage nach Deutschland: Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, der halb ironisch mit seiner Zuständigkeit als „Games-Minister“ kokettiert, wird die Leitmesse eröffnen, nachdem er im Vorjahr in letzter Minute absagen musste. Gas, Öl, Krieg in Europa, irgendwas ist ja immer. In diesem Jahr soll es klappen.
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265.000 Besucher pilgerten im Sommer 2022 auf das Messegelände der Domstadt – bei der letzten Prä-Corona-Ausgabe vor vier Jahren waren es noch 100.000 mehr. Dennoch: Nur wenige Fach- und Publikumsmessen in Europa erreichen solche Werte. Und noch bemerkenswerter: Veranstalter Koelnmesse registriert Zusagen großer Spielekonzerne wie Microsoft oder Nintendo.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Gamescom ist einer jener seltenen Momente im Jahr, in denen das Games-Land Deutschland international glänzen kann. Spätestens seit Merkels Rundgang im Jahr 2017 sind Computerspiele Chefsache. Ministerpräsidenten, Parteichefs, Staats- und Generalsekretäre posieren mit Playstation-Controller für die Fotografen und formulieren Ansprüche, das jeweilige Bundesland – ach was: die komplette Republik – müsse dringend zur europäischen Nummer eins aufsteigen, wenn nicht gar in die Weltspitze. Lindner sagt das, Söder sagt das, Wüst sagt das. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die heimischen Produzenten zu stärken. Denn in der Politik hat sich herumgesprochen, dass die Spieleindustrie den Takt in der Entertainment-Branche setzt. Allein in Deutschland wurden mit Software zuletzt 5,5 Milliarden Euro umgesetzt – und damit deutlich mehr als etwa mit Musik-Streaming und -CDs (zwei Milliarden) oder im deutschen Kino (722 Millionen). Hinzu kommen weitere 3,5 Milliarden Euro Umsatz durch Hardware: Spielekonsolen, Eingabegeräte, Grafikkarten.
Der Haken: Der Marktanteil heimischer Games-Produzenten liegt bei gerade einmal vier Prozent – 96 Prozent des Umsatzes wird demzufolge importiert. Diese unbefriedigende Situation ist tatsächlich hausgemacht: Deutschland hat wertvolle Zeit verspielt, nicht zuletzt auch durch erbitterte Debatten um Gewaltspiele Anfang der 2000er Jahre.
Stichwort Standortfaktor
Durch unermüdliches Lobbyieren haben die Interessenverbände mittlerweile erreicht, die betrübliche Lage der heimischen Spieleproduzenten in der Politik zu verankern und Subventionen zu erkämpfen. Es geht um nicht weniger als entscheidende Standortfaktoren: Frankreich, England oder Kanada locken Investoren mit Steuer rabatten und gut ausgebildeten Fachkräften – der deutschsprachige Raum hinkt hinterher.
Das soll sich ändern: 70 Millionen Euro hat Habecks Ministerium zuletzt pro Jahr verteilt. Bis zu 50 Prozent der Entwicklungskosten trägt der Steuerzahler. Die Industrie verspricht sich und anderen mehr Qualität, mehr Quantität, mehr Gründungen, mehr Jobs, mehr Marktanteile. Was es in der Praxis bringt, wird sich erst 2024, 2025 oder 2026 weisen. Denn so lange dauert es, bis Großprojekte fertiggestellt werden.
Nur jedes zehnte Spiel, das vom Wirtschaftsministerium bezuschusst wird, erhält einen Scheck von einer Million Euro oder mehr. Bei den restlichen 450 Projekten handelt es sich demzufolge um kleine und mittelgroße Produktionen für PC, Konsole, Tablet oder Smartphone.
Im angelsächsischen Raum wird mit ganz anderen Budgets kalkuliert. 100, 200, 300 Millionen Dollar: Spiele-Blockbuster für PC und Konsole sind mindestens genauso teuer wie vergleichbare Hollywood-Produktionen. In Kanada und an der US-Westküste sind daher riesige Studios entstanden, in denen an den großen Marken gearbeitet wird: Fifa, Call of Duty, Grand Theft Auto (GTA), Assassin’s Creed, Marvel’s Spider-Man.
Die deutsche Branche ist nach solchen Maßstäben überschaubar: Bei Spieleentwicklern und -verlagen (den Publishern) sind in Summe rund 11.000 Personen beschäftigt – inklusive Handel, Dienstleistern und Hochschulen sind es immerhin rund 29.000. Diese „Industrie“ ist stark mittelständisch geprägt – gerade einmal 50 Betriebe beschäftigen mehr als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Der Anteil der inhabergeführten Unternehmen ist zuletzt stark gesunken: Erfolgreiche Gründer haben in den vergangenen Jahren Kasse gemacht und ihre Anteile an internationale Publisher und Holdings verkauft – nach Frankreich, nach China, nach Großbritannien und ganz besonders oft nach Skandinavien. Unter den fünf wichtigsten Games-Arbeitgebern zwischen Flensburg und Freising finden sich gleich drei börsennotierte schwedische Aktiengesellschaften: Modern Times Group, Stillfront und insbesondere die Embracer Group, die über die Wiener Tochter THQ Nordic das mit weitem Abstand größte Games-Unternehmen in Österreich stellt.
Ausgerechnet zur Markteinführung der aktuellen Baureihen Playstation 5 und Xbox Series X im Weihnachtsgeschäft 2020 hatten Sony und Microsoft allerdings mit pandemiebedingten Lieferkettenproblemen zu kämpfen, die zwei Jahre lang angehalten haben. Die hohe Nachfrage sorgte dafür, dass die Online-Shops großer Versender unter der Last zusammenbrachen. Die drei Marktführer Sony, Nintendo und Microsoft verkauften ihre Geräte zunächst mit Verlust – Microsoft hat nach eigenen Angaben in 20 Jahren noch nie substanzielle Profite mit der Hardware erwirtschaftet. Ein Geschäft wird daraus erst nachgelagert durch den Verkauf von Spielen, Zubehör und Abo-Diensten. Das Modell funktioniert also analog zu anderen Branchen: Die Kaffeemaschine, den Rasierer oder den Drucker gibt es fast geschenkt – verdient wird an Kaffeekapseln, Rasierklingen und Farbtinte.
Wer sich zum ersten Mal näher mit Games beschäftigt, stellt also verblüfft fest, dass das meiste Geld nicht mit Spielkonsolen verdient wird, sondern mit – zunächst – kostenlosen Spielen, nämlich mit sogenannten „Free2Play-Spielen“. 99,99 Prozent aller Smartphone-Games lassen sich gratis im Appstore herunterladen. Aber schnell stößt der Spieler hier an gläserne Decken: Wer seine „Leben“ nach mehreren Fehlversuchen verspielt hat, muss warten – oder Geld nachwerfen. Ganze Abteilungen in den Studios sind nur damit beschäftigt, laufend frische Inhalte zu bauen, um die Spielerinnen und Spieler möglichst über Jahre bei der Stange zu halten. Für Candy Crush Saga – eines der erfolgreichsten Mobile-Games – sind seit Markteinführung mehr als 13.000 Level entstanden.
Um an diesem Boom automatisch mitzuverdienen, ist es noch nicht einmal nötig, eigene Spiele zu veröffentlichen: Denn von jedem Euro, der im Appstore ausgegeben wird, landen 30 Cent Provision bei Google und Apple.
„Free2Play“ dominiert den Spielemarkt
Das Free2Play hat das tradierte Spiele-Geschäftsmodell auf den Kopf gestellt: Der Absatz von Games ist stramm rückläufig. Zwar werden mit klassischen PC- und Konsolen-Spielen immer noch Milliardenumsätze erzielt, aber Free2Play ist bei Weitem lukrativer – einfach deshalb, weil die Eintrittshürden viel geringer sind, nämlich nahe null. Ganze Generationen von Spielern wachsen in dem Bewusstsein auf, dass Spiele (zunächst und vermeintlich) nichts kosten. Verdient wird dann mit den Oft- und Intensiv-Spielern.
Auch deutsche Spieleentwickler sind mit diesem Konzept erfolgreich, teils seit Jahrzehnten. An Hotspots wie Hamburg, Berlin oder Karlsruhe sorgt Free2Play für die meisten Arbeitsplätze und die höchsten Umsätze. Die enorme Konkurrenz auf dem Markt bedeutet aber auch, dass es extrem teuer und anstrengend geworden ist, mit neuen Spielen die Phalanx der etablierten Player zu durchbrechen.
Von Virtual Reality bis zur künstlichen Intelligenz: Viele Industriezweige profitieren von Technologien und Geschäftsmodellen aus dem Games-Bereich. Die Musik spielt allerdings in anderen Ländern – es droht eine noch stärkere Abhängigkeit. Vom Besuch des Wirtschaftsministers auf der Gamescom erwartet sich die Branche daher auch ein klares Signal, wie ernst es der Bundesregierung mit den selbst gesteckten Zielen ist. Denn seit Mai liegt die Förderung auf Eis: Die Töpfe für 2023 und 2024 sind schon jetzt vollständig ausgeschöpft – neue Anträge werden vorerst nicht angenommen. Studios, die bei der Aufstellung ihres Business- und Finanzplans fest mit den staatlichen Zuschüssen gerechnet haben, stehen nun vor teils existenziellen Problemen.
Der Interessenverband fordert daher mindestens eine substanzielle Aufstockung, idealerweise flankiert durch die Einführung von Steuergutschriften, mit denen sich die Kosten senken und Spiele zu international vergleichbaren Konditionen herstellen lassen. Die Zeit drängt, die Konkurrenz schläft nicht. Wenn Deutschland, aber auch Österreich und die Schweiz in dieser Branche künftig vorne mitspielen wollen, dann müssen spätestens jetzt die Weichen gestellt werden. Nächster Klick: gamescom.de
Mehr Zahlen und Fakten dazu: rotary.de/a22219
Petra Fröhlich ist Gründerin und Chefredakteurin des Branchenmagazins „GamesWirtschaft“.
gameswirtschaft.de