https://rotary.de/gesellschaft/zur-selbstzerstoerung-amerikas-a-16263.html
Forum

Zur Selbstzerstörung Amerikas

Forum - Zur Selbstzerstörung Amerikas
Hundertschaften der Polizei schützen das Weiße Haus und dessen Bewohner, gegen den sich die Proteste richten. © Reuters/Jonathan Ernst

Die amerikanische Doppelkrise legt die Unfähigkeit der Regierung offen. Es müssen grundlegende Reformen her, um das
Gift des Rassismus zu bekämpfen.

Konrad H. Jarausch01.07.2020

Mit einem Notruf eines Eckladens von „Cup Foods“ in Minneapolis begann die Konfrontation am Abend des 25. Mai. Der Verkäufer teilte mit, dass ein 46-jähriger schwarzer Mann namens George Floyd anscheinend beim Kauf von Zigaretten einen gefälschten 20-Dollar-Schein benutzt habe. Daraufhin stellten zwei herbeigeeilte Polizisten den früheren Sportler zur Rede, zerrten ihn aus seinem SUV und legten ihm Handschellen an. Dann kam der erfahrene Polizeiausbilder Derek Chauvin mit einem weiteren Neuling dazu und übernahm das Kommando. Als sich Floyd aus Klaustrophobie der Einsperrung in einen Streifenwagen widersetzte, hielten ihn die weißen Ordnungshüter am Boden fest und Chauvin drückte sein Knie auf dessen Nacken. Immer verzweifelter rief der Schwarze „ich kann nicht atmen“. Erst nach acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden ließ Chauvin davon ab, da sich der Mann nicht mehr regte. Zwar benachrichtigten die Polizisten jetzt einen Krankenwagen, aber er kam zu spät, um Floyd zu retten.

Kulturkonflikt bricht erneut auf

Die Nachricht dieses Todes löste spontane Proteste aus, die das Ende der Geduld mit der Ausübung von Polizeigewalt signalisierten, da diese schon allzu viele Opfer gefordert hatte. Zwar organisierten schwarze Bürgerrechtler zunächst friedliche Proteste gegen den strukturellen Rassismus der Gesellschaft, die auch von liberalen Weißen unterstützt wurden. Aber dann entlud sich die Wut von diskriminierten Jugendlichen in Angriffen auf die Polizei, Plündern von Geschäften und Vandalismus gegen die eigenen Viertel. Aufgrund von schockierenden Videobeweisen breiteten sich die Proteste über die Städte des ganzen Landes aus und fanden sogar ein internationales Echo. Linke machten die Übergriffe der Polizei für den Aufruhr verantwortlich, während Rechte den Antifa-Chaoten die Schuld gaben. 

Dahinter stand ein Kulturkonflikt von sich bedroht fühlenden Weißen und benachteiligten Schwarzen, der die fundamentale Ungleichheit der amerikanischen Gesellschaft offenlegte.

Die Polarisierung der „(un-)vereinigten Staaten“ war von der Wahl des erratischen Außenseiters Donald Trump vertieft worden. Durch seine Medienerfahrung war es dem Immobilienspekulanten gelungen, das antiquierte Wahlsystem zu benutzen, um durch einen knappen Vorsprung in drei Bundesländern des Mittleren Westens die

Demokratin Hillary Clinton zu schlagen, obwohl diese 2,9 Millionen Stimmen mehr erhalten hatte. Seine Unterstützer waren eine paradoxe Mischung von „verärgerten weißen Männern“ und Evangelikalen, vor allem aus ländlichen Gebieten, die durch Großunternehmer finanziert wurden und nun endlich eine Chance witterten, ihr rückwärtsgewandtes Weltbild durchzusetzen. Für den Präsidenten und seine harten rechten Anhänger war die erste Priorität die Demontage des Obamaschen Erbes, da dieser als gebildeter Schwarzer alles das repräsentierte, was sie hassten. Trumps Amtsführung im Sinne der alternativen Realität von Fox News machte Sexismus und Rassismus wieder hoffähig.

Das Virus traf die Schwarzen härter

Das liberale Gegenlager konnte nur versuchen, die progressiven Errungenschaften demokratischer Administrationen zu verteidigen. Ausgehend von den Großstädten an den beiden Küsten, den Universitäten und den Medien wie National Public Radio, der New York Times und dem Nachrichtenkanal CNN bemühten sich fortschritt- liche Gruppierungen, die Rechte von Fra en, Schwarzen und Hispanics wenigstens lokal aufrechtzuerhalten. Zwar konnten sie die Reform der Krankenversicherung, genannt Obamacare, weitgehend behaupten, aber sie vermochten nicht, eine riesige Steuersenkung für die Reichen zu verhindern, die den beschränkten Sozialstaat weiter aushöhlte. Obwohl sie die Kontrolle des obersten Bundesgerichts verloren, gelang es ihnen in der Zwischenwahl von 2018, die Kongressmehrheit wieder zu erringen und mithilfe des öffentlichen Dienstes (des „deep state“) das Schlimmste zu verhindern. Zumindest konnten schwarze Bürger mit der Sympathie des liberalen Gegenlagers rechnen.

Abschaffung der Polizei?

Der Fehlschlag der amerikanischen Bekämpfung der Coronapandemie trug ebenso zur Verunsicherung und Spaltung der Bevölkerung bei. Aufgrund der inkompetenten Führung von Präsident Trump fiel die US-Reaktion später, unzulänglicher und konfuser als in Deutschland aus und kostete mehr als 110.000 Todesopfer. Durch die unzureichende Krankenversicherung der Unterschicht und die fehlende Ausrüstung an Masken, Tests und Respiratoren sah sich ein sonst hoch qualifiziertes Gesundheitssystem nicht in der Lage, die Bürger adäquat zu schützen. Schwarze Amerikaner waren davon mehrfach betroffen: Ihre medizinische Betreuung war schlechter als die der weißen Nachbarn, sie arbeiteten in Dienstleistungsberufen, die stärker der Ansteckung ausgesetzt waren, und unter den mehr als 40 Millionen arbeitslos Gewordenen waren sie deutlich überrepräsentiert. Schließlich wurde die Kampagne für die schnelle Wiederöffnung auch von den harten Rechten angeführt, denen Geld wichtiger als Gesundheit war.

Die Erfahrung von Polizeigewalt betrifft vor allem die schwarze Minderheit, da sie ihr besonders ausgesetzt ist. In Minneapolis sind nur neun Prozent der Polizisten schwarz, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung doppelt so hoch ist und 60 Prozent aller Polizeieinsätze Schwarze involvieren. Allein in den letzten Monaten wurden der Jogger Ahmaud Arbery in Georgia von weißen Nachbarn erschossen, Breonna Taylor in ihrem eigenen Bett in Louisville von der Polizei getötet und Tony McDade in Tallahassee von einem Polizisten umgebracht. Diese Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Videoaufnahmen von Zeugen belegen, dass die Ordnungshüter nicht in Selbstverteidigung gehandelt haben, son- dern selbst Gewalt anwendeten, ohne bedroht zu sein. Dadurch bröckelt auch langsam die „blaue Mauer des Schweigens“, durch die Prozesse gegen Polizisten immer wieder mit ihrem Freispruch geendet haben. In Minneapolis wurden die vier sofort entlassen und Chauvin des Totschlags und seine Kollegen der Beihilfe angeklagt.

Neu an den Reaktionen auf George Floyds Tod ist die Breite der Proteste, die weit über die schwarze Subkultur hinausgehen und den Anfang einer Reformbewegung markieren. Die Kampagne „Black Lives Matter“, die nach dem Mord an Trayvon Martin im Jahre 2013 gegründet wurde, war meist auf die Schwarzen selbst beschränkt. Aber als Präsident Trump warnte, „wenn geplündert wird, wird geschossen“, klagte die Sängerin Taylor Swift ihn an, Öl auf „die Feuer der weißen Vorherrschaft und des Rassismus“ zu gießen. Liberale Medien, Sportler und Akademiker distanzierten sich von Polizeigewalt und riefen zu einer fundamentalen Kritik des Fortlebens von Rassismus in der Gesellschaft auf. Eine schwarze Kollegin betonte die besondere Verantwortung von Historikern: „Ich bin entsetzt und weiß, dass einige von euch verärgert und unzufrieden sind mit dem, was in diesem Land passiert.“ Schwarze Aktivisten und demokratische Politiker fordern daher eine „Entfinanzierung“ oder Abschaffung der Polizei.

Der Ausgang der Wahl ist ungewiss

Noch ist das Verhältnis von Weißen zu Schwarzen durch einen Zyklus von Gewalt und Gegengewalt gekennzeichnet. Einerseits sind rassistische Übergriffe weißer Polizisten mit Todesfolgen ein Resultat gesellschaftlicher Vorurteile und unzureichender rechtlicher Sühnung, da sie von der Vermutung schwarzer Kriminalität ausgehen. Andererseits sind Angriffe auf die Polizei und Plünderungen von Geschäften von schwarzen Jugendlichen ein elementarer Ausbruch von Ärger über jahrelange Diskriminierung, da sie Polizisten als Agenten der Unterdrückung sehen. Die periodische Wiederholung solcher Konfrontationen zeigt, dass beide Seiten in einer tödlichen Umarmung gefangen sind, aus der es keinen Ausweg gibt. Gut gemeinte Appelle an gegenseitige Toleranz und Aufrufe zur Polizeireform sind ein erster Schritt. Aber das gegenwärtige Erschrecken ist nur hilfreich, wenn es zu radikalen Versuchen der Veränderung führt, welche die sozioökonomischen Wurzeln des Rassismus ausreißen.

Wird die Wahl von 2020 endlich einen Durchbruch zur Beendigung des Rassismus bringen? Noch ist der Ausgang ungewiss, weil die beiden Lager ungefähr gleich stark und ihre Anhänger ziemlich stabil sind. Amtsinhaber Donald Trump bleibt gleichzeitig ein Held der harten Rechten und ein Problem wegen seiner Unberechenbarkeit, die sogar das eigene Militär wegen des versuchten Einsatzes gegen Demonstranten erschreckt hat. Die demokratischen Herausforderer bieten eine breite Palette von Reforminitiativen, die von der Wiederher- stellung politischen Anstands bis zu einem „demokratischen Sozialismus“ reichen. Aber noch ist nicht klar, ob der großväterliche Spitzenkandidat Joseph Biden diese Frustration kanalisieren kann. Nur wenn verfassungstreue Republikaner sich vom Präsidenten absetzen und liberale Demokraten sich genügend engagieren, kann eine progressive Koalition entstehen, die das Gift des Rassismus endlich durch grundlegende Reformen überwindet.

Konrad H. Jarausch

Prof. Konrad H. Jarausch ist ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Lurcy, Professor for European Civilization an der University of North Carolina in Chapel Hill. Die letzten seiner vielen Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Themen wie „Aus der Asche: Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“ (Reclam, 2018) und „Zerrissene Leben: Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter“ (wbg Theiss, 2018).

wbg-wissenverbindet.de