Titelthema
Zurück zur Marktwirtschaft
Eine Verstaatlichung der Wirtschaft war zur Eindämmung der Pandemie richtig. Gedanken zur Disruption, zu Chancen und zu Pflichten.
Die Pandemie und deren Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft stehen exemplarisch und konkret dafür, was der für viele doch noch sehr abstrakte Begriff der „Disruption“ meint. Auf den entscheidenden Punkt zusammengefasst, drückt „Disruption“ aus, dass die Zukunft völlig anders als die Vergangenheit sein wird. Als Folge lassen sich Erfahrungen aus früheren Zeiten nicht als gute Grundlagen für zielführende künftige Entscheidungen nutzen.
Sicher ist nur, dass es keine Rückkehr zum Zustand vor der Pandemie geben wird. Muss und sollte es auch nicht. Denn einiges ist zu korrigieren, damit eine nächste Schockwelle die Weltwirtschaft nicht ebenso kalt erwischt, wie es jetzt der Fall war. Und anderes wird auch nach der Krise Bestand haben, weil sich Änderungen und Anpassungen im Kampf gegen das Virus bestens bewährten.
Chancen der Krise
Bei der Suche nach wirksamen Reaktionen auf das Coronavirus wird neues Wissen geschaffen. Das kommt nicht nur dem Kampf gegen Infektionen, Seuchen und Krankheiten zugute. Innovative Erkenntnisse aus dem Kampf gegen Pandemien lassen sich an vielen anderen Stellen später und anderswo nutzen, um Leben zu retten, Ansteckungen zu verhindern und insgesamt Menschen aktiver und produktiver zu machen. Davon profitiert dann die Wirtschaft insgesamt.
Im Zuge der Pandemie wird der Bevölkerung flächendeckend vor Augen geführt, was Distance Learning, Homeoffice, Online-Organisation, Videokonferenzen und digitale Angebote zu leisten imstande sind. Was als Notmaßnahme als Folge des Coronavirus erst ausprobiert und getestet und danach erfolgreich praktiziert wurde, wird auch nach einer Pandemie beibehalten werden. Ganz generell und überall in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik wird die Digitalisierung beschleunigt vorankommen.
Es gehört zu den schrecklichen Konstanten der Weltgeschichte, dass die Menschheit auf ihrem langen Weg zu einem längeren, besseren und gesünderen Leben für die Massen immer wieder durch dramatische Rückschläge gebeutelt wurde. Die gute Nachricht lautet jedoch, dass es in der Summe immer vorwärts ging. Das dürfte auch bei den Folgeeffekten des Coronavirus so sein, so schrecklich es auch für direkt Betroffene im Einzelfall bleibt.
Somit ist zu erwarten, dass es wie in früheren auch bei dieser Krise zu einem J- oder Spazierstock-Effekt kommen wird. Erst wird vieles schlechter. Die Wirtschaft bricht ein, die Arbeitslosigkeit steigt. Nach einer Zeit der Schockstarre und des Leidens jedoch kommt es zu Anpassungen und Gegenreaktionen. Innovationen provozieren Investitionen. Neues entsteht, die Wirtschaft erholt sich und die Gesellschaft geht mit Schwung in eine neue Phase von Aufschwung und Prosperität. So war es immer schon. Es gibt wenig Gründe, wieso es nicht wieder so werden sollte.
Pandemie deckt Verletzbarkeit auf
Globalisierte Gesellschaften haben durch die Pandemie mit Schrecken realisieren müssen, wie anfällig sie für unvorhersehbare, unplanbare und zumindest kurzfristig weitgehend unbeeinflussbare Schocks geworden sind. So mangelt es an Intensivbetreuungsplätzen für Schwer(st)erkrankte, an Beatmungsgeräten und Schutzeinrichtungen sowie an Personal in Medizin und Pflege. Lastwagenstaus auf Autobahnen, fehlende Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft und Komplikationen bei Zulieferbetrieben führen nach kurzer Zeit zu Versorgungsengpässen bei Atemschutzmasken, Plastikhandschuhen, Desinfektionsmitteln und Frischgemüse.
Die Globalisierung kann dieses Mal – anders als bei vorangegangenen Mangelerscheinungen – nicht weiterhelfen. Bei einer Pandemie wird ähnliche Verknappung weltweit zur Regel. Nirgendwo findet sich der Überfluss, der rasch umgeleitet werden könnte. Auch, weil in der Coronakrise jeder nationalen Regierung das eigene Volk am nächsten steht. So werden aus nationalen Eigeninteressen Grenzen geschlossen, Flugzeuge eingemottet, globaler Freihandel für Waren und Freizügigkeit für Menschen unterbunden. Selbst wenn dadurch langfristig die Güterversorgung eher erschwert als erleichtert wird.
Stattdessen wird digitalisiert, wo immer möglich. Der Datentransfer ersetzt den Güterhandel. Das Homeoffice tritt an die Stelle des Geschäftsbüros. Videobesprechungen erübrigen Fernreisen. Aber auch die nun als Ersatz für die Globalisierung einspringende Digitalisierung hat ihre Tücken. Denn das Coronavirus ist ja bei Weitem nicht die einzige existenzielle Bedrohung von Bevölkerung und Wirtschaft.
Auch virtuelle Viren sind bedrohlich
Eine Pandemie mit Millionen von Schwerkranken und Sterbenden ist nur eine für alle unmittelbare, erschreckend reale und konkret sichtbare Ausprägung allgegenwärtiger Risiken. Jeden Abend können Medien mit eindrücklichen Bildern aus den Brennpunkten in Sondersendungen über ergreifende Schicksale berichten. Aber es gibt eben auch im Cyberspace-Viren, die immensen Schaden anrichten können. Und sie bedrohen natürlich genauso Menschenleben und Gesellschaften.
Die Unwesen und Untaten im virtuellen World Wide Web machen sich allerdings erst dann bemerkbar, wenn ganze Metropolregionen ohne Strom, Licht oder Wasser bleiben. Sie zeigen sich, wenn in den Rechenzentren von Versorgern, bei Mobilität und Kommunikation oder auf den Intensivstationen der Krankenhäuser nichts mehr geht, weil das Internet flächendeckend lahmgelegt ist oder wenn Handel, Börsen und Banken geschlossen bleiben, weil Online-Transaktionen beim elektronischen Daten- und Zahlungsverkehr nicht verifiziert werden können.
Mangels eigener Angebote mit gleichwertigem Preis-Leistungs-Verhältnis hat Europa bei „Big Data“ momentan lediglich die Wahl zwischen amerikanischen oder chinesischen Abhängigkeiten. Im ersten Fall droht „Big Business“ – also die Marktmacht privater Monopole eines Finanzkapitalismus –, gläserne Menschen zu schaffen, um auf deren Kosten „Big Profit“ zu scheffeln. Im zweiten Fall ist es „Big Brother“ – also das Monopol eines autoritären Staatskapitalismus –, der ohne Scheu und Rücksicht die Intimsphäre bis in die hinterste Ecke der Privatheit ausleuchtet.
Digitalisierung als Versuch, globale Abhängigkeiten zu verringern, wird dann zum gesellschaftlichen Risiko, wenn „Bot“-Netzwerke Bevölkerungen manipulieren und Parlamentswahlen (ver)fälschen. Fake News vermögen es, Hass und Misstrauen zu säen und Gesellschaften zu destabilisieren. Gerade ist publik geworden, in welch perfidem Ausmaße chinesische und russische Medien den Westen mit „Corona-Märchen“ infizieren.
Sicherheit im Cyberspace gehört zu den zentralen Staatsfunktionen im Zeitalter der digitalen Globalisierung. Guter Schutz vor Marktmacht von Big Data und Big Business sowie Allmacht von Big Brother ist teuer. Ungenügender Schutz jedoch ist weit teurer. Er kann Existenzen zerstören und im schlimmsten Fall die Stabilität westlicher Gesellschaften infrage stellen.
Mehr öffentliche Investitionen
Das Coronavirus ist ein Augenöffner. Es veranschaulicht europäischen Gesellschaften, wie unverhältnismäßig stark sie in der Vergangenheit für die Freuden der Gegenwart gelebt haben. Und wie wenig sie bereit waren, etwas für die langfristige Absicherung ihres Wohlstandes aufzuwenden. Kurzfristiger Erfolge wegen blieb eine langfristige Vorsorge für Krisen, Katastrophen oder eben Pandemien massiv vernachlässigt.
Deutschland wurde vom Coronavirus außer Betrieb gesetzt. Bei weiteren Pandemien und Schockereignissen, die es mit Sicherheit in Zukunft geben wird, darf sich das nicht wiederholen. Eine Neuorientierung ist vonnöten. Oberste Priorität muss eine leistungsfähige Daseinsvorsorge erhalten. Denn was wäre und ist alles andere wert, wenn das Internet zusammenbricht, die Stromversorgung ausfällt, schlechte Luft und verseuchtes Trinkwasser die Gesundheit gefährden und medizinische Güter nicht rechtzeitig eintreffen, weil Verkehrsachsen überlastet oder Brücken und Tunnel unpassierbar sind?
Der Sanierungsbedarf bei der öffentlichen und der schleppende Ausbau bei der digitalen Infrastruktur sprechen für sich. Bei Investitionen in die Daseinsvorsorge wurde und wird zu wenig getan. Die Fehlentwicklungen werden nun durch die Engpässe im Gesundheitssektor bei der Bekämpfung der Coronapandemie für alle offensichtlich. Somit ist es nach Ende der Epidemie weder erstrebenswert noch zielführend, zum „Business as usual“ von vorher zurückzukehren. Vielmehr wird sich gar manches ändern müssen, damit vieles bleiben kann, was für die Lebensqualität von Gesellschaften wirklich unverzichtbar ist.
Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie ist aber deutlich besser als eine staatliche Planwirtschaft in der Lage, Wohlstand für alle zu ermöglichen. Die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit und der Vergleich zwischen kapitalistischem Westen und sozialistischem Osten belegen eindrucksvoll, was marktwirtschaftliche Strukturen zur Steigerung des Lebensstandards zu leisten imstande sind. Deshalb dürften Selbstverantwortung und Haftung für das eigene unternehmerische Handeln, Eigeninitiative und eine funktionierende Marktwirtschaft für eine Rückkehr zum Wohlstandsniveau vor der Krise bessere Voraussetzungen als jede planwirtschaftliche Alternative bieten.
Zur Bekämpfung der Pandemie haben Staat und Politik mit atemberaubendem Tempo die Spielräume der Wirtschaft dramatisch verengt. Marktwirtschaft und Bevölkerung mussten zur Kenntnis nehmen, wie schnell und umfassend individuelle Grundrechte und unternehmerische Entscheidungen per Dekret und Anordnung außer Kraft gesetzt werden konnten. Das mag als Reaktion auf die Coronapandemie angemessen und richtig gewesen sein. Eine Verstaatlichung der Wirtschaft ist jedoch keine Bagatelle, sondern ein ökonomischer Irrweg. Ihm zu lange und zu weitgehend zu folgen, kann längerfristig mehr Menschen stärker gefährden, als man durch eine kurzfristige Politik zu retten hofft. Deshalb gilt es, so rasch wie möglich zur Marktwirtschaft zurückzukehren!
Dr. Thomas Straubhaar ist Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg, Publizist und Autor mehrerer Bücher.