Titelthema
Zwischen den Welten
Der Schauspieler Uwe Preuss über sein Leben in Dresden, São Paulo und Westberlin und darüber, wie Schauspiel Ost und West verbindet
Ein Dienstag im August, zwölf Uhr mittags. Der Prater-Biergarten in Berlin-Prenzlauer Berg hat gerade geöffnet. Noch sind mehr Servicekräfte zwischen den Tischen unterwegs, als Gäste daran sitzen. Uwe Preuss ist extra in die Stadt gekommen, der Schauspieler wohnt 30 Kilometer nördlich in Wandlitz. Im Kino ist er gerade in der Wendekomödie "Zwei zu eins" zu sehen. Ein Sommerhit. Mit einer fast ausschließlich ostdeutschen Besetzung.
Der Erfolg von Natja Brunckhorsts Komödie "Zwei zu eins" passt gut zu unserem Gesprächsanlass. Denn da spielen lauter bekannte Gesichter mit – Sandra Hüller, Ronald Zehrfeld, Peter Kurth und viele andere, alle mit ostdeutschem Hintergrund. Und diese Namen sind auch sonst präsent in Film und Fernsehen. Während 35 Jahre nach der Maueröffnung vielerorts Spaltung beklagt wird, könnte man sagen: Im Schauspiel ist das mit der Vereinigung gelungen, da ist der Osten auf keinen Fall unterrepräsentiert. Würden Sie diese These teilen?
Das scheint mir mit der heißen Nadel gestrickt.
Warum?
Weil man dafür Qualitäten vergleichen müsste, dass die Leute aus dem Osten besser sind als die aus dem Westen. Das ist in der Kunst schwer. Was es gab als Tendenz nach der Maueröffnung: dass sich rumsprach, die ostdeutschen Schauspieler seien angeblich besser ausgebildet. Da war die Schauspielschule stringenter, geschult an den Methoden von Stanislawski und Brecht. Ich habe in den 1980er Jahren in Westberlin studiert, wir hatten jedes Semester einen anderen Ansatz. Der Professor, der nach den Ferien kam, sagte zuerst: Was euch der Dozent das letzte halbe Jahr vermittelt hat, ist alles Blödsinn. Ich weiß, wie Theater gemacht wird. Die Ausbildung in der DDR war dagegen hart, wirklich sehr hart.
Die Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ist ja legendär. Zu DDR-Zeiten haben da Corinna Harfouch und Hermann Beyer studiert, nach der Wende dann Sandra Hüller und Charly Hübner.
Ich kann das nur aus Erzählungen von Freunden wiedergeben, wie das da früher war. Wenn du zu DDR-Zeiten in der Sprecherziehung, beim Steppen oder Szenenstudium mal – ich sag das in Anführungszeichen – versagt hast, weil du vielleicht am Abend vorher feiern warst als junger Schauspielstudent, dann bekamst du ein Fähnchen. Beim zweiten Fähnchen gibt’s ein Gespräch mit dem Direktor der Schule, beim dritten fliegst du raus.
Die "Three Strikes"-Regel, wie im US-amerikanischen Strafrecht. Das klingt nach harter Leistungsgesellschaft.
Das war kein Zuckerschlecken, fast wie bei Spitzensportlern. Die Stringenz und Härte in der Ausbildung hat, wenn du das durchgestanden hast, die Willenskraft auf der Suche nach dem künstlerischen Ausdruck gestärkt. Und mentale Stärke braucht man, um in dem Beruf überhaupt bestehen zu können. Man muss mit der hohen Anspannung umgehen, mit den Erwartungen des Publikums, die man möglichst erfüllen soll. Das ist ein großer Druck, den nicht alle aushalten. Das merkt man manchmal aber erst später, wenn man in die Löcher fällt, wenn die Arbeit ausbleibt, kein Engagement kommt, keine Rolle.
Bei der Besetzung von "Zwei zu eins" habe ich Sie gerade gar nicht aufgezählt, als ich gesagt habe, dass das Ensemble des Films aus dem Osten kommt. Stimmt das denn, sehen Sie sich als Ostler?
Ich fühle mich zwischen Ost und West nicht verortet. Heimat ist für mich da, wo ich bin und wo es mir gut geht. Ich bin mir meiner Biografie, meiner Herkunft wohl bewusst. Aber ich habe mich nie als Ostler gesehen, und sehe mich jetzt auch nicht als Westler. Ich bin Uwe.
Und verorten die anderen diesen Uwe?
Bis heute gibt es Leute, die denken, der kommt aus dem Westen. Wenn er damals da studiert hat, dann muss er ja aus dem Westen kommen. Und es steigert die Verwirrung, wenn ich denen dann sage: Nein, ich bin in Dresden geboren. Und in Brasilien aufgewachsen. – Wie, in Brasilien? – Ja, in Brasilien, mit DDR-Pass. Und nein, mein Vater war nicht in der Partei, auch nicht bei der Stasi. – Wie geht das?
Klingt nach einer filmreifen Geschichte. Wie geht das denn – aus der DDR nach Brasilien?
Mein Vater war an der DDR-Handelsvertretung in São Paulo in den 1960er, 1970er Jahren. In einer Zeit, bevor es diplomatische Verbindungen gab. Ich bin da als Kind in so eine kleine DDR-Schule gegangen. Bei den späteren Stationen war ich nicht mehr dabei wegen der Fluchtgefahr. Da sind auch mal welche abgehauen. Brasilien wurde damals von einer Militärdiktatur regiert, das war zu spüren auf der Straße. Die Militärpolizei war sichtbar. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter gefragt habe, was das "MP" auf den Helmen heißt.
Und wie war es dann, Anfang der 1970er Jahre zurück nach Dresden zu kommen?
Echt neu, diese Umgewöhnung mit elf Jahren. Kein Fahrer mehr für den Schulweg und keine Empregada, kein Dienstmädchen, das den Haushalt geschmissen hat. Aber mir ist relativ schnell klar geworden: Ich gehe hier raus, das kann es nicht gewesen sein.
Was aber nicht so leicht war.
Ich hatte mich erfolgreich an der Ernst-Busch-Schule beworben, musste aber vorher meinen Wehrdienst ableisten. Das wollte ich unbedingt vermeiden, das Militär. Ich habe dann 1984 meinen Ausreiseantrag gestellt und alles unternommen, um rauszukommen.
Was denn?
Ich war frech. Ich bin nach Prag in die Botschaft der USA und habe um Asyl gebeten. Die haben gesagt, das geht nicht, du musst da drüben fragen, fünf Häuser weiter, die Botschaft der BRD. Als ich gesagt habe, da sind Bullen vor der Tür, da komm ich nicht rein, haben die mich hineskortiert. Und dann war ich in der deutschen Botschaft, fünf Jahre vor dieser Geschichte mit Tausenden Menschen und Außenminister Genscher auf dem Balkon. Das war ganz beschaulich, da waren schon ein paar DDR-Bürger drin, es gab ein Gästebuch: "Viel Spaß, wir haben es schon geschafft, und ihr schafft es auch." Ich habe gedacht, dass die mich direkt nach München bringen oder so. Ich musste aber noch mal zurück in die DDR und bei dem bekannten Anwalt Vogel vorsprechen, der diese Sachen verhandelte. Das Fax von ihm in die deutsche Botschaft hatte ich schon. Da stand drauf, dass mein Fall wohlwollend geprüft wird, das war mein Freifahrtschein.
Ist es beim Spielen für Sie wichtig, ob die Figur aus dem Osten oder Westen kommt?
Nein. Ich habe gerade eine Rolle in einem Kinofilm angeboten bekommen, einen Bereichsleiter in einem Wasserwerk in den neuen Bundesländern zu spielen, der einer Mitarbeiterin erklärt, dass sie nicht mehr gebraucht wird. 2024, da ist Ost oder West egal. Die Frau ist völlig verzweifelt, und der Typ ist zwar ein bisschen unsicher, steht in der Regieanweisung, aber er muss ihr kündigen. Dafür erinnere ich mich an solche Situationen in meinem Leben, als das Geld knapp war und ich bei der Bank einen Dispositionskredit beantragen musste. Da sitzt der Typ und weiß schon, dass er mir Nein sagt. Er weiß nur noch nicht, wie. Das ist so eine Figur, und da ist es nicht wichtig, westliche Attitüden zu spielen, weil die nur äußerlich sind. Ich mache den Versuch, jeder Figur etwas aus dem eigenen Leben zu schenken. Das merken die Zuschauer, da bleiben sie kleben.
Das führt zurück zum Anfang, zur Vereinigungsidee: dass Sie als Schauspieler gelebte Vereinigung sind, weil Sie von allen gemocht werden.
Keine Ahnung, aber es gibt natürlich Unterschiede, wer einen wofür mag. Junge Menschen kennen mich eher von Twitch-Livestreams mit Sido und Knossi als Butler Fridolin. Und bei den Älteren ist das manchmal sehr speziell, habe ich gerade erlebt. Ich gehe abends mit dem Hund am See spazieren, die letzten Badegäste packen zusammen, da kommt mir eine Frau so um die 60 fast hinterhergerannt (Preuss macht sie in ihrer Aufgeregtheit liebevoll nach): Hallo! Ich wollte Ihnen nur sagen, was Sie machen, ist richtig gut. Und hier ist mein Mann, komm doch mal her. Hier ist der … wie heißen Sie noch mal? – Uwe. – Der Uwe ist hier, den kennste doch aus dem Fernsehen. (Preuss macht den muffeligen Mann nach) Hör mal uff jetzt, ich will mich umziehen. (schmunzelt) Diese Frau hat mich nur nach Namen von Ost-Kollegen gefragt, die hatten enorme Bedeutung für ihr Leben.
Wie ist das mit Resonanz aus dem Westen?
Vielleicht nicht so überschwänglich wie bei der Frau, aber es gibt ein Interesse. Und ich gebe dann gern Auskunft, über die Arbeit, meine Ansichten, auch über den Osten, wenn die sich wirklich interessieren. Es gibt ja immer noch viele, die haben keine Ahnung, was im DDR-Alltag gelaufen ist. Diese Leute sind dankbar, wenn ich ein paar Kleinigkeiten beschreibe. Und die Anerkennung, die sie mir entgegenbringen, gilt nicht nur meiner schauspielerischen Leistung, sondern auch meinem, sagen wir, Standing. So nach dem Motto: Der ist auf dem Boden geblieben, der ist in Ordnung.
Das Gespräch führte Matthias Dell.
Uwe Preuss ist Schauspieler und Autor.
Bekannt ist er aus dem "Tatort", dem "Polizeiruf 110" und zahlreichen weiteren Fernseh- und Kinofilmen.
Matthias Dell ist freier Journalist u. a. fürs Deutschlandradio. Auf „zeit.de“ schreibt er die wöchentliche „Tatort“-Kritik „Obduktionsbericht“.
© Daniel Seiffert