Titelthema
Zwischen heiler Welt und rauher Wirklichkeit
Der grüne Lifestyle bestimmt den Geist unserer Zeit – und ist doch nicht ohne innere Widersprüche
Das Jahr 2019 ist eines der großen Jubiläen: 100 Jahre Weimarer Republik, 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall. Und dann ist da noch ein Jahrestag, der auf den ersten Blick unspektakulärer erscheint, für die Entwicklung der Bundesrepublik aber ein einschneidendes Ereignis darstellt: Vor 40 Jahren wurden die Grünen aus der Taufe gehoben. Die kleine, von vielen belächelte Truppe, die 1983 mit Rauschebart, selbstgestrickten Pullovern und abgestorbenen Tannenzweigen in den Bundestag einzog, ist inzwischen zu einer politisch und kulturell geradezu hegemonialen Kraft geworden – ganz unabhängig von wechselnden Wahlergebnissen und regionalen Unterschieden.
Das grüne Narrativ ist so dominant, dass sich fast alle Parteien und gesellschaftlichen Organisationen an ihm ausrichten. Selbst in CDU und CSU, die sich unter Helmut Kohl der grünen Protestbewegung – die nicht zuletzt aus dem Linksradikalismus der siebziger Jahre hervorgegangen war – entgegengestellt hatten, redet man nun ganz selbstverständlich von Nachhaltigkeit, Diversität, Inklusion, klimaneutraler Verkehrspolitik und Gendergerechtigkeit.
Begünstigt wird der Siegeszug des grünen Lebensgefühls nicht zuletzt durch den weitgehenden Ausfall der ansonsten kritischen Medien. Ein Beispiel dafür ist der Kommentar von Tina Hassel, der Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin, zur Wahl der neuen Parteivorsitzenden am 27. Januar 2018: „Frische grüne Doppelspitze lässt Aufbruchstimmung nicht nur in Frankreich spüren. Wichtiges Signal in dieser Zeit!“, gab sie auf Twitter kund. Ein zumindest merkwürdiger Tonfall für eine führende Journalistin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die wenigstens pro forma der parteipolitischen Neutralität verpflichtet sein müsste.
Innere Widersprüche
Die Dominanz des grünen Zeitgeistes verdeckt jedoch dessen innere Widersprüche. Denn während Bio-Produkte und vegane Ernährung den Einzelhandel und die Gastronomie erobert haben, das Ende der Atomkraft eingeleitet worden ist und der Ausbau regenerativer Energiequellen wie Wind und Sonne betrieben wird, vermag die alltägliche Praxis den eigenen hohen moralischen Ansprüchen des grünen Diskurses allzu oft nicht zu genügen.
Ich wohne im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg; dort, wo das linksgrün-orientierte fortschrittliche Bürgertum der Hauptstadt zu Hause ist und Linkspartei, Grüne und SPD bei der letzten Bundestagswahl eine knappe Zweidrittelmehrheit erreichten. Jeden Donnerstag gibt es hier den Ökomarkt der „Grünen Liga“, um die Ecke bieten die „Wohlfühler“ Physiotherapie zum Entspannen an, und die Kinder auf dem Spielplatz tragen bunte Schutzhelme. Dass diese überwiegend aus Plastik sind, ist kaum zu vermeiden; es sei denn, betuchte Eltern kaufen ihren Kids ein Exemplar aus „veganem Leder“, das von Eukalyptus- oder Blattfasern der Ananas stammen soll. Ein Stück idealtypische grüne Lebenswelt.
Und doch ist meine Straße – wie viele andere in Berlin, München oder Frankfurt – trotz akribischer „Parkraumbewirtschaftung“ jeden Tag vollgestopft mit Autos. Mehr noch: Die Anzahl der Porsches und SUVs, oft von eiligen Müttern gesteuert, hat in letzter Zeit hör- wie sichtbar zugenommen. Ebenso die PS-starken Motorräder, die gerne gestartet werden, bevor sich der Fahrer in aller Ruhe Jacke, Helm und Handschuhe zurechtzupft.
Nachdem Müllabfuhr, Kehrfahrzeuge und Laubbläser allmorgendlich ihre ohrenbetäubende und feinstaubintensive Arbeit verrichtet haben, rücken die motorisierten Amazon-, Hermes-, UPS- und DPD-Kolonnen an. Im Paketshop in der Parallelstraße werden tags darauf die unzähligen Retouren wieder abgeholt. Dazwischen halten Taxis, die die wöchentlich pendelnden Nachbarn – Berlin-Frankfurt, Berlin-München, Berlin-Köln – vom Flughafen Tegel nach Hause bringen.
Am Samstagvormittag geht es ganz entspannt zum großen Markt am Kollwitzplatz, wo es Bio-Möhren und Eier aus brandenburgischer Freilandhaltung gibt. Doch nirgends bildet sich eine längere Schlange als vor dem Thüringer Wurstund Fleischstand. Offenkundig reicht es schon, ein grünes Gewissen zu haben, um im Alltag in Ruhe weiterleben zu können wie bisher.
Kinder an die Macht
Zu dieser Haltung passt denn auch der Umgang mit der Bewegung „Fridays for Future“ der jungen Schwedin Greta Thunberg und ihrer hiesigen Anhänger. Das wohlfeile Lob für das Engagement der Kinder im Kampf gegen den Klimawandel und das dabei geäußerte Verständnis für das Schwänzen der Schule im Namen einer höheren Sache, der Trend zum ultimativen Alarmismus – „Es ist fünf nach Zwölf!“ – und Sofortismus ersparen die zumeist komplizierten, schmerzhaften und konfliktreichen Entscheidungsprozesse einer demokratisch und rechtstaatlich verfassten Gesellschaft.
Bei dieser Einstellung lässt es sich auch gut mit der vertrackten Dialektik zwischen Weltrettung und Weltreise leben. Wer jeden Freitag demonstriert, kann entspannt und ruhigen Gewissens am Wochenende nach Mallorca, Kreta oder auf die Kanaren fliegen. Hauptsache, er oder sie tut es „bewusster“, wie es eine der deutschen Protagonistinnen der Bewegung jüngst in einem Interview formulierte. Wichtig ist ganz einfach, verbal auf der richtigen Seite zu stehen, dann kommt der Rest schon von allein. Dabei zeigen die seit Jahren schwelende „Diesel-Krise“ oder die ungelösten Probleme der europäischen Flüchtlingspolitik oder das quälende Prozedere rund um den „Brexit“, dass es mit dramatischen Appellen und allfälligen Untergangswarnungen nicht getan ist.
In dem eigentümlich diffusen Milieu der Wohlmeinenden findet sich viel Symbolpolitik, abrufbereite Empörungsbereitschaft und ein merkwürdiger Teilzeit-Humanismus. So geht man etwa ohne zu zucken darüber hinweg, dass im Namen der extrem teuren und äußerst ineffektiven „Energiewende“ im nordhessischen Reinhardswald, einer märchenhaften Ansammlung knorriger, jahrhundertealter Baumriesen, für mehr als hundert neue Windkraftanlagen hektarweise ökologisch kostbarer Forst gerodet werden soll.
Gelebte Doppelmoral
Auch jenseits alter ökologischer Kernthemen hat sich bei den Anhängern des grünen Zeitgeistes eine merkwürdige Doppelmoral herausgebildet. Während die Gendergerechtigkeit – zumal im Zeitalter von #meToo – oder auch das Schicksal der MigrantInnen im eigenen Land noch immer hoch im Kurs stehen, bleibt die Massenabschlachtung hunderttausender Menschen durch den syrischen Diktator Assad ebenso unkommentiert wie der Krieg und das Elend im Jemen, die katastrophalen Zustände in Zimbabwe, der islamistische Terror des iranischen Mullah-Regimes oder auch die desaströse Implosion des Chavez’schen „Volkssozialismus“ in Venezuela. Offenkundig hat auch die Kultur des Twitter-„Aufschreis“ ihre passenden und unpassenden Anlässe. Und es scheint, als hätten grüne Stimmungsmacher ein besonders gutes Gespür dafür, mit welchen Themen sie ihre Anhänger mobilisieren können.
Wie absurd die Erregung mitunter verteilt ist, zeigte sich zuletzt, als sich die neue CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer im Karneval einen kleinen Scherz über verweichlichte Männer erlaubte, die nicht mehr wüssten, auf welche Toilette sie gehen sollen, oder auch angesichts einer Kampagne des Bundesverkehrsministers, der mit Kandidatinnen einer Model-Castingshow für Fahrradhelme warb: „altbacken“, „peinlich“ und „sexistisch“ waren noch die harmloseren Vorwürfe. Das Zeitalter von Inklusion, Nachhaltigkeit und Diversität bringt eben auch Exklusion und Intoleranz hervor.
Grüne Sonntagsreden
Und so hat die grüne Lehre unserer Tage meist weniger mit Politik zu tun als vielmehr mit Lifestyle – quasi ein Religionsersatz für eine Welt ohne Gott. Und wie jede Religion hat auch diese ihre Propheten und Priester, samt ihren Predigten. Ein schönes Beispiel dafür gab vor einiger Zeit die Autorin Carolin Emcke in der Paulskirche: „Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, indem wir uns einschalten in die Welt.“ War die Sonntagsrede einst konservativ und bigott, so ist sie heute grün, weltoffen, ökologisch, vielfältig – doch ähnlich realitätsblind und weltfremd wie einst die Predigt des schwarzen Pfarrers.
Der grüne Zeitgeist bewegt sich zwischen zwei Polen: dem Narrativ der Weltrettung und dem subjektiv angenehmen Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Das Kuriose: Dieser Zeitgeist einer hochentwickelten Wohlstandsgesellschaft hat mehr mit einem Lifestyle des guten, also schlechten Gewissens zu tun als mit hart erkämpften politischen Überzeugungen, die man notfalls auch offensiv und mit eigenen Argumenten verteidigen könnte. Das Schöne dabei: Man weiß es eben einfach besser. Ein prinzipieller Streit über strittige Grundsatzfragen erübrigt sich.
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