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Die Implosion der Mitte

Titelthema - Die Implosion der Mitte
Bei den Verhandlungen zur Bildung einer „Jamaika-Koalition“ im Herbst 2017 sind sich CDU und Grüne so nahe, dass die FDP, der jahrzehntelange Bündnispartner der Union, sich an den Rand gedrängt und überflüssig fühlt – und den Eintritt in die Regierung verweigert. © Picture Alliance/Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Debatten der letzten Wochen und Monate offenbaren eine grundlegende Achsenverschiebung des Zeitgeists in unserer Gesellschaft

Reinhard Mohr01.08.2018

Manchmal zeigt sich der politische Zustand der Republik schlaglichtartig, wie unterm Brennglas. In der vorletzten Talkshow von Maybrit Illner vor der Sommerpause wurde er exemplarisch sichtbar. Statt einer offenen Diskussion über die Migrations- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kurz nach dem vorläufigen Ende des wochenlangen Showdowns zwischen Kanzlerin und Innenminister wurden die Fernsehzuschauer Zeugen eines öffentlichen Tribunals über die CSU, Horst Seehofer und Markus Söder.

Als Angeklagte saß Dorothee Bär in der Runde, die 40 Jahre junge CSU-Staatsministerin im Kanzleramt, zuständig für Digitalisierung, die auch von der Moderatorin, von Amts wegen Vorsitzende des inoffiziellen Strafgerichts, keineswegs geschont wurde. Als Ankläger fungierten neben der Journalistin Kristina Dunz die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, Grünen-Chef Robert Habeck und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, ein ausgewiesener Merkel-Mann, der seinem Ärger über die bayerische Schwesterpartei freien Lauf ließ.

Freilich tat er dies nicht so aggressiv wie Habeck, der am Ende der Sendung eine wutschnaubende, ja hasserfüllte Attacke auf die „europafeindliche“ CSU ritt und dabei Frau Bär in sehr uncharmanter, dafür „gendergerechter“ Weise attackierte, als sei sie persönlich das Haupthindernis auf dem Weg zu einem friedlichen, demokratischen und geeinten Europa, in dem Flüchtlinge dann wirklich in jedem Land als „Geschenk“ (Katrin Göring-Eckardt) betrachtet werden würden.

Nun sind Talkshows beileibe kein getreues Abbild der Gesellschaft, Skandalisierung wie Dramatisierung gehören zu ihrem Wesenskern. Doch hier offenbarte sich symptomatisch die Achsenverschiebung der politischen Topographie: Gleichsam in die böse rechte, ja rechtspopulistische Ecke verbannt wurde Dorothee Bär, die noch in den neunziger Jahren die bürgerliche Mitte geradezu idealtypisch repräsentiert hätte.

Die Vertreter der Anklage dagegen bewegten sich im weichgespülten linksgrünen Spektrum, jenem inzwischen dominanten Milieu, das die Definitionshoheit darüber beansprucht, in welchen Grenzen der erlaubte Diskurskorridor verläuft und wo die unzulässige rechte Abweichung beginnt.

Heimatlose Mitte
Der Begriff „linksliberal“ passt kaum dazu, denn zur Liberalität gehörte, Andersdenkende nicht zu stigmatisieren. Die große Leerstelle aber war das Konservative, jener aufgeklärt-liberale, marktwirtschaftlich wie sozialstaatlich orientierte Konservativismus, der jahrzehntelang ein bestimmendes Element in der erfolgreichen Entwicklung der Bundesrepublik war und auch heute noch zu finden ist, sogar in der CSU. Doch es ist offensichtlich: Die alte politische Mitte ist heimatlos geworden, ausgezehrt, weithin sprach- und konturlos, mutlos und verunsichert.

Das gilt auch für jene „neue“ Mitte, die einst Gerhard Schröder zum Kanzler machte. Ironie der Geschichte: In der rot-grünen Ära schien sie noch, bei allem Zagen und Murren, vom prinzipiellen Weg des demokratischen Fortschritts überzeugt; selbst in jener Krise, auf deren Höhepunkt die ominöse Agenda 2010 samt „Hartz IV“ aus der Taufe gehoben wurde. Der SPD hat sie die überkommene Identität geraubt, doch Angela Merkel sprang in die Bresche. Sie betrieb unter dem Label der CDU eine Politik, die lange Zeit als „Sozialdemokratisierung der Union“ interpretiert wurde.

Heute, nach fast 13 Jahren Kanzlerschaft, wird jedoch offenbar, dass Merkel tatsächlich vor allem Kernziele der Grünen verwirklicht hat: die Energiewende und eine Neudefinition von Familie; mit ihrer Flüchtlingspolitik schließlich unternahm sie einen dramatischen Schritt in Richtung multikulturelle Gesellschaft. Das alles tat die Kanzlerin so erfolgreich, dass nun auch die CDU ihren Markenkern kaum noch erkennen lässt.

So schrumpft die Mitte parteipolitisch wie wahlarithmetisch immer weiter: 32,9 Prozent für CDU/CSU bei der letzten Bundestagswahl waren die Quittung, das schlechteste Ergebnis seit 1949, für das sich selbst die SPD noch vor 20 Jahren in Grund und Boden geschämt hätte. Und die AfD, flamboyante Profiteurin der Entwicklung, steht in jüngsten Umfragen bei 17 Prozent und hat damit die schwindsüchtige SPD eingeholt.

„Schwarz-Grün“, das einst von einigen Vordenkern als Zukunftsprojekt angedacht und von wohlmeinenden Journalisten über Jahre entsprechend gehypt worden war, ist von der Realität eingeholt worden und verfügt derzeit über kaum mehr  als 40 Prozent der Stimmen. Damit ist es so anachronistisch geworden wie RotGrün; von Rot-Rot-Grün redet sowieso niemand mehr. Falls sich die CDU dann auch noch – auf dringendes Anraten der Grünen – von der CSU trennen sollte, wäre Schwarz-Grün mit Abstand schwächer als Helmut Kohls CDU alleine im Jahre 1983: Damals gewann die Union sage und schreibe 48,8 Prozent.

Vergangene Schlachten
Schon ein kurzer Blick zurück zeigt die drastischen Veränderungen dessen, was man früher „Zeitgeist“ nannte. Die 68erRevolte hatte ihn in dialektischer Verknüpfung mit Willy Brandts Reformpolitik nach links gedreht, und im Lauf der siebziger Jahre entstand eine nach Hunderttausenden zählende Alternativbewegung, die sich ihre eigene Gegenwelt schuf und zur Vorläuferin der Grünen wurde.

Damals gab es noch jene Kohorten linker Intellektueller – von Abendroth bis Zwerenz, von Böll bis Grass –, die stets zum öffentlichen Engagement bereit waren, von der Protestresolution bis zur Sitzblockade. Die Mischung aus „Suhrkamp-Kultur“ und linkem Aktivismus prägte ganze Generationen, vor allem die der „Babyboomer“, die nun ihrer Rente entgegensehen.

Auf der anderen Seite der politischen Barrikade stand der große schwarze christdemokratische Block, der sich all den „Anarchisten“, „Öko-Fanatikern“ und linksradikalen Revoluzzern tapfer entgegenstemmte. Alfred Dregger, einst Mitglied der NSDAP und Frontsoldat der Wehrmacht, Fraktionschef der mächtigen CDU/CSU-Bundestagsfraktion von 1982 bis 1991, war eine Speerspitze dieses Kulturkampfes, der mit harten Bandagen ausgefochten wurde. Als die Grünen 1983 zum ersten Mal in den Bundestag einzogen, schien es, als besetzten feindliche Bataillone die Festung Bonn am Rhein, obwohl sie nur Blumentöpfe und verdorrte Tannenzweige (Waldsterben!) mitbrachten.

Unvergesslich bleiben die wüsten Reaktionen auf die Jungfernrede der grünen Bundestagsabgeordneten Waltraud Schoppe, in der sie die herrschenden „Einheitsmoden, Einheitswohnungen, Einheitsmeinungen“ attackierte, eine „Einheitsmoral“, die zur Folge habe, „dass sich Menschen abends hinlegen und vor dem Einschlafen eine Einheitsübung vollführen, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration durchführt“. Das war unerhört im „Hohen Haus“. Gejohle, Gelächter, laute Zwischenrufe: „Woher wissen Sie das?“ rief der CDU-Abgeordnete Friedrich Bohl sarkastisch, später Chef des Bundeskanzleramts unter Helmut Kohl.

Ein Clash of Civilizations, den Joschka Fischer mit seiner Bemerkung, der Bundestag sei eine „unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt“, weiter anheizte: Hier eine immer noch machohafte Nachkriegsmentalität, die sich nur langsam von autoritären Landser- und Weltkriegsprägungen löste, dort jene radikale Infragestellung alles Bestehenden nach dem Motto des Liedermachers Franz-Josef Degenhardt: „Schluss mit dem Quatsch! Jetzt wird diskutiert!“

Verschiebung des Koordinatensystems
Freilich konnte damals noch niemand ahnen, dass jemand wie Dunja Hayali, Moderatorin des ZDF-Morgenmagazins, im Jahre 2018 zu einer politischen Instanz aufsteigen würde, die jüngst sogar mit dem Bundesverdienstorden aus der Hand des Bundespräsidenten bedacht wurde. Und doch ist auch dies – neben der stets empörungsbereiten Reiz-Reaktions-Twitterei, die Hayali perfekt bedient – ein Ergebnis jener rasanten Entgrenzung der alten politischen Lager, die dazu geführt hat, dass Angela Merkel, Armin Laschet, Peter Altmaier und viele andere führende CDU-Politiker gesellschaftspolitisch deutlich links von jenen Positionen rangieren, die etwa der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt verkörperte.

In der Migrationsfrage stünde jener gewiss Horst Seehofer (und Otto Schily) näher als der Kanzlerin, die jetzt sogar von der linksalternativen taz verteidigt wird. Verkehrte Welt. Wie stark sich das politische Koordinatensystem verschoben hat, ist auch an der Tatsache abzulesen, dass, ganz anders als in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, virulente Gesellschaftskritik und realitätshaltige Problembeschreibungen heute eher von rechts als von links kommen, wie rüde, „populistisch“ und teils abstoßend auch immer sie artikuliert wird.

Nebenbei: Man lese zum Vergleich einmal die linksradikalen Traktate von vor 40 Jahren nach, RAF-Kommandoerklärungen und die gewundenen Rechtfertigungstexte der sympathisierenden Szene, aus der viele Grünen-Politiker stammen, von Jürgen Trittin bis Claudia Roth, von Hans-Christian Ströbele bis zum EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer.

Derweil hört man die Sonntagsrede mit den wohlklingenden Phrasen – „Europa!“, „Humanität!“, „Zusammenhalt!“ – eher vom linken Pfarrer als vom erzkonservativen Prälaten mit Standleitung zum Papst. Jetzt ist das schwarz-grün-halblinke, vermeintlich politisch korrekte Establishment in der Defensive und versteht die Welt nicht mehr. „Dann ist das nicht mehr mein Land!“ – Angela Merkels beleidigte Sentenz angesichts der Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik erinnert ein wenig an den Satz von Brecht, die Regierung möge sich doch bitte ein anderes Volk wählen.

Protest-Echo der Heimatlosen
Aus der politisch zerzausten Mitte der Gesellschaft aber kommt die Merkel-Doktrin nun als Protest-Echo zurück. So ist das auch nicht mehr mein Land! sagen viele Schriftsteller, Journalisten und versprengte Intellektuelle; Restbestände aus alten Zeiten, darunter zahlreiche Ex-Linke, Sozialdemokraten und Alt-68er wie Peter Schneider, Monika Maron, Stefan Aust, Henryk Broder, Christoph Schwennicke, Harald Martenstein, Uwe Tellkamp, Matthias Matussek, Rüdiger Safranski, Thilo Sarrazin und viele andere, so unterschiedlich sie im Übrigen gestrickt sind.

Der Titel eines Buches des langjährigen Literaturchefs der ZEIT, Ulrich Greiner, aus dem vergangenen Jahr spiegelt am besten die Gefühlslage jener Dichter und Denker: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konserativen“. Alle Genannten – und viele weitere – eint ein Gefühl, das im legendären Flüchtlingssommer 2015 seinen Ausgang nahm: Man war staunender Zeuge noch nie da gewesener Vorgänge, über die es aber keine offene, streitbare, vor allem: parlamentarische Auseinandersetzung gab.

Die politische Kommunikation der Kanzlerin war ein Desaster der Abwesenheit – ein schwarzes Loch, aus dem nur die berühmten drei Worte „Wir schaffen das!“ drangen: Das pure Gegenteil demokratischer „Streitkultur“, die bei Festreden zwischen Buchsbäumen feierlich herbeizitiert wird. So wurde der Resonanzraum für Pegida, AfD & Co. erst geschaffen, gegen die dann wieder der „Kampf gegen rechts“ anhob. Ein Zirkel der Selbstbestätigung mit starker Tendenz zur Selbstgerechtigkeit.

Und das ist das Problem unserer moralisierenden Debatten: Es geht nicht zuerst um die Wahrnehmung und Lösung eines Problems, sondern um die Frage, wer sich als besserer Mensch präsentieren kann. Ein einziges Reizwort reicht – und sei es „Transitzentrum“ –, und schon geraten Vernunft und historisches Bewusstsein unter die Räder, wird von „Lagern“, gar „Konzentrationslagern“ gesprochen. Selbstverdummung durch moralische Selbsterhöhung. Der Aufschrei im großen Social-Media-Chor erspart das Selberdenken. Nie war die Moral to go billiger zu haben. Es ist die von Waltraud Schoppe 1983 angeprangerte bornierte „Einheitsmoral“ – nur andersherum.

Reinhard Mohr
Reinhard Mohr war von 1996 bis 2004 Redakteur des Spiegel und bis 2010 Autor von Spiegel Online. Zu seinen Büchern gehört unter anderem "Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken" (Gütersloher Verlagshaus, 2013). randomhouse.de