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Aktuell

Corona und die Psyche

Aktuell - Corona und die Psyche
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Was macht die Pandemie mit uns? Und wie gehen wir mit ihr um? Über Angst und andere Abgründe einer individualisierten, bodenlosen Gesellschaft

Andreas Hillert15.04.2020

Die Versuche der modernen Psychiatrie, Angst als eine psychische Störung diagnostizierbar und behandelbar zu machen, sind aller Ehren wert. Wenn man die Ergebnisse der diesbezüglichen Studien betrachtet, war die Wissenschaft auch hier durchschlagend erfolgreich. Angst, wie ehemals Tiger im Zoo, wurde zu einer exotischen Spezies, die man eingehend beobachten konnte, hinter sicheren Gitterstäben oder in Selbsthilfegruppen, im Wissen darum, dass die Welt jenseits dessen fest und sicher ist. Das, was sich wie ein schwarzer Schatten, teils fratzenhaft-skurril, teils schaurig, durch die Geschichte der Menschheit zieht, lässt sich exemplarisch in alten Geschichten, Märchen und in der Kunst beobachten. Und mitunter im eigenen Leben?

Es muss etwas mit einem gestörten Gleichgewicht von Überträgerstoffen im Gehirn zu tun haben, das sich durch gezielten Einsatz von Medikamenten wieder in Balance bringen lässt. Oder durch Therapien, in denen die Betroffenen realisieren und internalisieren, entweder dass es außer einigen Unebenheiten bis Traumata in ihrer Lebensgeschichte keinen wirklichen Grund gibt, Angst zu haben. Oder wie man elegant durch die Angst hindurch den ausgeglichenen, potentiell glücklichen Normalzustand wiedererlangt. Äußere Gründe, die einem Menschen Angst machen könnten, sind per se verboten und mit den Gesetzen unvereinbar. Diejenigen, die anderen Ängste machen, werden von der Justiz unbarmherzig bestraft und dingfest gemacht. Jeder hat das Recht auf ein gesundes, also angstfreies Leben. Gesundheit ist mehr, als die Abwesenheit von Krankheit! Gesundheit als Erfüllung und Glück? In diesen Dimensionen soll und muss die angemessene Antwort, für Individuen wie wir es sind und wie wir uns fühlen, liegen.

Diese Gleichung schien über die Jahre hinweg zunehmend besser aufzugehen. Erfolge der Wissenschaft, der Hirnforschung und der modernen Psychotherapie - auf Grundlage einer trotz aller Herausforderungen wirtschaftlich prosperierenden - Freiheit und Individualismus garantierenden Gesellschaft. Die drohende ökologische Katastrophe hätte sich zumindest gefühlt mit beherzten Demonstrationen abwenden lassen. Und die Flüchtlingsströme hätten sich, wenn man nur hinreichend offen gewesen wäre, in freiheitlich-demographischem Wohlgefallen aufgelöst. Mit und nach Corona ist alles anders.

Im Liveticker der modernen Medien werden viertelstündlich gestiegene Zahlen Infizierter und Toter gemeldet. Die Pandemie betrifft weltweit Hunderttausende. Tausende, zumindest in Deutschland fast ausschließlich multimorbide, deutlich älter als das durchschnittliche Höchstalter gewordene Menschen, sind daran gestorben. In umschriebenen Konstellationen kam es weltweit zu Inferno-mäßigen Szenarien. Zu wenige Beatmungsplätze, aussortierte Menschen („Triage“) und Tote, die mit Militärtransportern abgeholt wurden. Medial und politisch hat uns die Pandemie mit diesen weltweit abrufbaren Bildern alle im Griff.

Die sich angesichts dessen, unter den Bedingungen der postmodernen medialen Wirklichkeit, in der die Zugriffshäufigkeit auf Informationen Geld wert ist, ergebende Eskalationsdynamik wird spannenden Stoff für die sozialpsychologische Forschung abgeben. Danach. Was schon heute unübersehbar ist, wenn man es denn sehen will, ist eine dahinter grassierende, alles beherrschende Angst. Nüchtern betrachtet, aber was ist Nüchternheit angesichts des Soges einer Pandemie, war, ist und wird Covid-19 ein Virus sein, den die allermeisten Infizierten, solange sie keine gravierenden Grunderkrankungen haben und noch einigermaßen fit sind, entweder ohne oder mit gegebenenfalls leicht variierten Symptomen einer "gewöhnlichen Grippe" überstehen. Angesichts der methodisch ansonsten überwiegend desolat aufbereiteten Zahlen ist zumindest daran nicht zu zweifeln (der Zufall und limitierte praktische Möglichkeiten bestimmen, wer getestet wird; die Relation der gemeldeten Zahlen - unter anderem zu "normalen" Streberaten in einem Land - bleiben vage, und dass die weit überwiegende Zahl Infizierter klinisch gesund sind, liest man - wenn überhaupt - im Kleingedruckten). Aber: Ausnahmen bestätigen immer die Regel. Und dass die Situation in Brennpunkten, wo diverse ungünstige Aspekte zusammenkommen, in Massenveranstaltungen und Seniorenheimen, angesichts desolater medizinischer Rahmenbedingungen und in Ländern, in dem es für Nicht-Vermögende kaum medizinische Grundversorgung gibt, eskaliert, ist unbestritten und unübersehbar. Siehe oben. In Endlosschleife. Man darf Corona auf keinen Fall bagatellisieren! Man weiß letztlich nie, wie schlimm es noch werden kann. Selbst wenn die Zahlen, nüchtern betrachtet (was aber angstbedingt unmöglich ist) in eine andere Richtung weisen. Es darf nicht argumentiert, es muss entschieden gehandelt werden! Viel Spielraum für Virologen, Politik und Politiker bleibt nicht. Wer nicht maximalen Aktivismus angesichts maximal möglicher Horrorszenarien predigt, und sei es noch so unsinnig, läuft Gefahr, angesichts des nächsten Toten, der so sicher ist, wie das Amen in der Kirche (in der aus infektionstechnischen Gründen kein Amen mehr gepredigt werden darf), das Schlimmste zu erleiden, was jenseits des eigenen biologischen Todes denkbar ist: einen höchstpersönlichen medialen Shitstorm.

Die Dynamik, die aus dem Zusammenspiel dieser Aspekte resultiert, hat in fast allen demokratischen Ländern zu Zuständen geführt, die sich kein Diktator perfider hätte ausdenken können. Ganze Wirtschaftszweige wurden lahmgelegt. Wenn nicht Ausgangssperre, dann Ausgangsbeschränkungen. Wer auf einer Parkbank sitzt und ein Buch liest, begeht eine Straftat. Wer sein Kind von der Tante beaufsichtigen lässt, ebenfalls. Wer versuchen sollte, seine sterbende Mutter im Seniorenheim zu besuchen, ist offenkundig ein Feind von Staat und Gesellschaft. Kindergärten, Schulen, Universitäten wurden längst geschlossen (obwohl Menschen dieser Altersgruppe praktisch nie gefährliche Verläufe der Erkrankung zeigen). Krankenhäuser mussten in Erwartung unzähliger zu beatmender Corona-Patienten geleert werden. Alle nicht-sterbenskranken Menschen, auch solche, die unter Ängsten leiden, wurden auf Anordnung von oben entlassen. Die Betten sind leer. Krankenhausbetreiber bekommen dafür mitunter mehr Geld, als sie im Regelbetrieb verdient hätten. Ärzte und Krankenpflegepersonal werden zudem kostengünstig in Kurzarbeit geschickt. Gute Geschäfte im Windschatten des Krieges gab es immer. Aktuell sind Desinfektionsmittel, Masken und leere Krankenhausbetten vielversprechende Investitionen. Der beherzt handelnde Staat hat versprochen, für alles zu bezahlen. Ehemals etablierte Bürgerparteien bekommen ihre zwischenzeitlich in grüne und abseitige Gefilde abgewanderten Wähler zurück. Jedes noch so vage medizinisch-epidemiologische Argument rechtfertigt Maßnahmen, die noch vor wenigen Wochen nicht gegen mutmaßliche Straftäter hätten angewendet werden dürfen. Ende nicht absehbar. Man weiß ja nie. Das Schlimmste kommt möglicherweise noch, warnen strategisch gut platzierte Forscher, die ihre neue Popularität erst verdauen müssen und ihre Verantwortung auf das rein Sachliche beschränkt sehen wollen.

Verantwortungsübernahme des Bürgers wurde mit dem Einverständnis weitgehender Einschränkungen seiner sozialen Existenz gleichgesetzt. Sicherheit um jeden Preis. Zusätzlich hamstert man Toilettenpapier. Wer lächelt, ist verdächtig. Dank Maske fällt zumindest das nicht mehr auf. Kontakte meiden, Eltern in Kliniken und Pflegheimen alleine sterben lassen, keine Freunde treffen. Schul- und Studienjahre gehen verloren. Bewegungsarme Risikopatienten verlieren Lebensqualität und Lebensjahre. Wer den häuslichen Frieden nicht halten kann, ist selber schuld. Wer würde von Geld reden, wenn es gilt, Menschenleben zu retten? Eine smarte App zeigt auf, wer sich wann und wo wem zu sehr genähert hat. Nachbarn bei der Polizei anzeigen, weil sie Besuch von Freunden hatten. Idealerweise wird nun und zukünftig alles online passieren (wo man nebenbei die neuesten Corona-Zahlen erfährt). Hände schütteln und persönliche Nähe sind unverantwortliche Risiken. Eine Maske tragen ist erste Bürgerpflicht. Um andere vor mir zu schützen. Jeder, der sich mir nähert, mit Maske oder sogar ohne, ist ein Aggressor.

Die Zeit danach ist nicht definiert. Sie wird sich irgendwie und irgendwann ergeben müssen. Martialisch wie in China, wo der heroische Sieg gegen das selbst ins menschliche System eingeschleuste Virus gefeiert wird. Im Westen wird es absehbar eher diffusionistisch. Der systemische Impetus großer Siege ist hier unvorstellbar. Wenn gelockert wird, erhöht sich das potentielle Risiko. Und nach dem Virus ist vor dem Virus. Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder heraus beziehungsweise will man das überhaupt? Lieber die Wirtschaft ruinieren (das tun die in den anderen Ländern ja auch), als einen Corona-Toten gegebenenfalls persönlich verantworten müssen. Es bleibt, irgendwie und irgendwann, ein sozialer, wirtschaftlicher und politischer Scherbenhaufen übrig, der idealerweise als zwangsläufig, als notwendiges Opfer und überhaupt als eine neue, der veränderten Welt angemessene Lebensform gerechtfertigt werden kann. Es bleibt eine Gesellschaft übrig, die dann noch unübersehbarer als zuvor damit konfrontiert ist, dass sie keine solche mehr ist. Wer soll, kann und muss dann aufräumen? Neue Steuern von denen, die noch besteuert werden können? Eine Welt aufbauen, noch schöner als zuvor, bis zum nächsten Corona- oder einem anderen Virus? Zieldimension: Pandemien überleben. Und ansonsten? Solche Fragen verwirren nur und nehmen die Kraft, entschieden zu handeln. Schließlich ist noch nicht alles vorüber. Das Schlimmste könnte noch kommen.

Das Bemerkenswerteste und vielleicht überraschendste an der Corona-Dynamik ist: Sie ist das Leben selbst! Für jeden von uns und immer gilt: Das Schlimmste (wenn damit Krankheit und Tod gemeint sind) kommt noch! Wie war vor Corona ein Leben möglich, in dem eben dies kategorisch übersehen wurde? Nachdem ein Blick in die Zukunft sowieso nur die Gegenwart spiegelt, läge ein Blick in die Vergangenheit nahe. Wie konnten Menschen vergangener Epochen Epidemien (die man damals noch nicht Pandemien nannte), die in kurzer Zeit große Bevölkerungsteile hinwegrafften, überstehen, ohne in Panik zu verfallen und den ethisch-moralischen Boden unter ihren Füßen aufzugeben? Menschen brauchen Halt. Dieser wiederum kann aus naheliegenden biologischen Gründen nicht die eigene Unsterblichkeit sein. Ein "Halt" dieser Art liegt damit zwangsläufig in irrealen Sphären. Eben das macht ihn auch in Lebenskrisen tragfähig. Angefangen von der Idee einer über mich als Individuum hinausweisenden Bestimmung meiner Familie, meiner Sippe, meines Volkes bis zur Ahnung und dem Glauben an göttliche Sphären. Solche Perspektiven beinhalten und geben mehrdimensional Sinn. Der selbstverständlich und rein rational gesehen stets angreifbar und relativ bleibt. Keine sinngebende Dimension hält auf menschlich-argumentativer Sachebene dem Feuerwerk fundierter Kritik stand. Was sich anhand der Geschichte der Philosophie unschwer explizieren lässt. Es gibt keinen Grund, warum meine Familie, mein Volk, meine Ideologie und mein Gott wichtiger oder irgendwie besser sein sollten, als andere Familien, andere Völker, andere Ideologien und andere Götter. Gottesbeweise schmelzen angesichts der menschlichen Logik wie Schnee in der Klimakatastrophen-Sonne. Rationalität schafft Handlungsspielräume, schafft Freiheiten und ist gewinnträchtig. Der Mensch, zumal der der westlichen Welt, hat über Generationen hinweg eben daran gearbeitet. Er ist mündig geworden und steht nun als gänzlich emanzipiertes und individualisiertes Individuum einem - verglichen mit Pest und Cholera (unter den seinerzeitigen Bedingungen) - schmächtigen Coronavirus gegenüber, dessen uncharmante Botschaft der Hinweis auf die Bodenlosigkeit unseres Schicksals in der postmodernen Gesellschaft ist. Vor und unter uns ist, abgesehen von Plattitüden wie denen vom exponentiellen Wachstum ("Nichts ist so gut, als dass es nicht verbessert werden könnte"), der Illusion von "zukunftssicheren Arbeitsplätzen" und den gesundheitsförderlichen Wirkungen von gesunder Ernährung, Sport und Achtsamkeit: nichts. Kein Sinn, kein Wozu, kein Wir, kein Wohin.

Die allermeisten von uns werden Corona ohne nennenswerte körperliche Blessuren überleben. Die Schneise, die die virologische Pandemie psychisch-mental schlagen wird, wird relativ dazu gewaltig sein. Die Zieldimension unserer Gesellschaft, die unendliche Befreiung von allem, was das Individuum limitieren könnte, hat sich nicht nur in Luft aufgelöst. Hinter den antiviralen Masken, die wir aus Sicherheitsgründen nie mehr ablegen sollten, tauchen alle über die Menschheitsgeschichte mit wechselnden Strategien und unterschiedlichem Erfolg beschworenen existenziellen Geister und Abgründe wieder auf. Lebendig wie am ersten Tag. Die Vertreibung aus dem Paradies, das "im Schweiße Deines Angesichtes sollst Du Dein Brot essen", der ängstliche Blick auf unsere "Lieben" und das Wissen, das wir nichts wissen, abgesehen von der Endlichkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass uns die Naivität abhandengekommen ist, einfach irgendwo wieder anknüpfen zu können. Wobei, historisch gesehen, die Vergesslichkeit des Menschen gestürzten Ideologien und Systemen gegenüber, erstaunlich groß war. Das wäre zwar auch jetzt keine Lösung und gibt trotzdem Hoffnung.

Wie lässt sich ansonsten mit einer kollektiv-gefühlten und medial heute derart erfolgreich genutzten Angst leben, wenn therapeutische Bagatellisierung angesichts der globalen Dimensionen leider ausgeschlossen ist? Derzeit ist dies noch unvorstellbar. Hauptsache, wir nehmen es ernst und handeln entschlossen. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Dynamik wird es - wofür jeder, dem man Verantwortung zuschieben könnte, nach Kräften sorgt - keine Schuldigen geben. Die Forscher ziehen sich in ihren Elfenbeinturm zurück. Schließlich hat man nur gesagt, was man aufgrund seines Fachwissens sagen musste. Alle haben alles richtig gemacht. Kein medialer Shitstorm für niemanden. Fast das Paradies auf Erden. Milliarden Kosten, diverse Konkurse? Das war nötig. Dank Corona wurden wir zumindest, womit niemand mehr gerechnet hatte: entschleunigt. Ohne radikale Akzeptanz sind Corona und Post-Corona-Welt nicht auszuhalten. Die Masken aus Sicherheitsgründen weiter zu tragen, ist die reine, jeder Kritik erhabene Vernunft. Wozu Livekonzerte oder Museen, wo alles auch online und ohne Risiko geht? Leider schützen Masken nicht vor existenziellen Fragen und Ängsten. Bei alledem: Katerstimmung oder Weitermachen? Ritualisierter Infektionsschutz als neuer Lebensinhalt? Händeschütteln als Risikofaktor. Größtmögliche soziale Distanz zur eigenen und kollektiven Sicherheit. Sicherheit vor was? Tanz auf dem Vulkan, Besinnung auf das Wesentliche, was immer das sein mag, und neue Blüten der Paradoxien des Mensch-Seins? Vermutlich von jedem etwas.

Andreas Hillert

Andreas Hillert (RC Chiemsee) ist Chefarzt an der medizinisch-psychosomatischen Schön-Klinik Roseneck, im Verbund mit der Ludwig-Maximilian-Universität München, in Prien. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Fachartikel.

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