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Corona schürt die Angst
Der Zauberlehrling, ungerufene und gerufene Geister: Die Pandemie führt zu einem Kontrollverlust im Zeitalter digitaler Allgegenwart. Etwas mehr Rationalität täte uns gut.
Angst ist das Ende aller Vernunft. Und damit aller Wissenschaft. Angst wiederum ist das Erleben von Bedrohung, zunächst einmal gleich welcher Art. Bedrohung ist Bedrohung, Bedrohung unserer physischen und oder auch unserer sozialen Existenz. Historisch gesehen mag die Bedrohung der physischen Existenz am Anfang gestanden haben, erst kommt fressen und gefressen werden. Gleich danach, Augenblicke der Menschheitsgeschichte später, kommt die soziale Bedrohung. Die Ehre ist die Ehre. Der Verlust der Ehre ist keine Komödie, es ist der soziale Tod. Wer ohne Ehre zu vegetieren gedenkt, der ist, sozial gesehen, nie gewesen. In dieser Kombination hat es jahrzehntausendelang funktioniert, das Leben der Menschen. Alles, nur keine Angst. Für den Frieden in allen Dimensionen kämpfen — notgedrungen mit Angst und durch die Angst hindurch. Was unter dem Strich erfreulicherweise so gut funktionierte, dass sich Angst kultivieren ließ. Man kann sie gewissermaßen in Blumentöpfe pflanzen, in Dramen, in Romane, in Geisterbahnen. In entsprechenden Portionen ist Angst das Salz in der Suppe. Man kann fast süchtig danach werden, ein Krimi jagt den nächsten. Ein bisschen Gruseln gehört in jede gute Stube und in jedes ansonsten ach so langweilige Leben. Solange der Rahmen stimmt, die eigenen vier Wände vier Wände bleiben und der Sturm vor der Haustür bleibt.
Angst bleibt draußen? — War einmal
Die hier skizzierte Welt, in der die Angst draußen bleibt und, nur nach Bedarf und Verträglichkeit, portionsweise dosiert hereingeholt werden kann, war einmal. Nicht erst seit Corona. Der Digitalisierung sei Dank. Was nach Service klingt, Nachrichten im Fünf-Minuten-Takt, macht jeden Konsumenten zum mündigen Bürger. Meint man. Es macht ihn, der ansonsten Kunde ist, allgegenwärtig zum verwöhnten Konsumenten. Auch die Nachrichten werden, was jeder weiß und nebenbei mit "zulassen" bestätigt, mit Werbung finanziert. Die Informiertheit des mündigen Bürgers wird solange bedient, solange er kauft und bezahlt, mit Geld und mit Daten.
Wenn er nicht genügend kauft, wenn nicht genügend Geld und Daten ins System zurückgespielt werden, dann werden die Informationen so dosiert, dass es funktioniert. Jeder, der das wissen will, weiß es. Alle anderen mögen träumen. Von einer heilen Welt, in der das ewige Leben und hinreichend Spaß für alle Kunden garantiert wird. Was früher Hybris war, ist heute das gute Recht jedes Kunden. Und wenn es mal nicht so läuft, wird schnell der dafür Schuldige ausgemacht und bestraft. Mit sozialem Tod, in Form von Shitstorms, von Stürmen, die dank Digitalisierung nicht vor der Haustür bleiben, die durch alle Ritzen dringen und sich, sobald man argumentativ dagegen anzugehen versucht, teilen. Mit potenzierter Intensität ergießt sich dann das Öl auf die Wunden des Schuldigen. Zu Recht. Anspruchsberechtigte, in ihren Ansprüchen gekränkte Wutbürger, haben es immer: Recht. Der Mechanismus ist keineswegs subtil, sondern archaisch, praktisch, gut. Angst eben. Nun wieder in unkultivierter Form, nicht in Blumentöpfen, sondern aus Eimern.
Angst ausblenden
Jenseits dessen hat man hat sich an fast alles gewöhnt, was die Eskalationsspirale weiter antreibt. Angst ausblenden funktioniert fast immer, solange sie dosiert genossen werden kann. Wer nicht genug verkauft, hat Angst um seine Existenz. Wer nicht genug kauft, muss Angst bekommen, damit er kauft. Kapitalismus im digitalen Zeitalter ist überall und immer. Angst vor Klimawandel und der Zerstörung der Natur. Eine Tragödie und eine Geschäftsidee mit Potential. Austariert mit der Angst vor Arbeitsplatzverlust und wirtschaftlichem Niedergang. Was dabei der Fortschritt ist, dem wir uns stellen müssen, für den wir uns fit machen und den wir gestalten müssen? Rasender Fortschritt, die Spirale dreht sich, entkommen wollen ist überflüssig. Wenn wir nicht täglich vor Bedrohungen und Untergängen gewarnt werden, dann sinkt das Interesse. Also noch ein bisschen mehr. Die Welt ist groß und bunt. Aspekte und Details, die als Angst-Gespenster taugen, finden sich immer, hinter der Fassade des gefahrlos glücklichen, unbegrenzt-anspruchsberechtigten Lebens. Wenn ein Mensch stirbt, dann war es mit Sicherheit ein Kunstfehler, der vor Gericht, durch mehrere Instanzen verhandelt wird. Es kommt nur auf die Perspektive an. Schräg von unten gesehen, wird alles zur Bedrohung. Und irgendwer schlägt immer Alarm.
Diese Vorgeschichte, vom Säbelzahntiger bis zum medialen Shitstorm, ist weder eine Selbstverständlichkeit noch eine Lappalie. Sie ist der Aufhänger, an dem diverse Katastrophen unserer postmodernen Gegenwart hängen, wie zerplatzende Christbaumkugeln am Weihnachtsbaum. Die Katastrophen unserer Gegenwart sind samt und sonders Eskalationsphänomene: Sie haben eine faktische Komponente, die mit Angst angereichert immer nebensächlicher und eigendynamisch wird.
Alle haben Angst
Wenn ein Thema hinreichend medienträchtig wird, weckt dies nicht nur Interesse, es stimuliert das vegetative Nervensystem. Ein wenig Grauen, das umgehend Urängste anspricht, die Angst vor physischer und oder sozialer Bedrohung. Die Angst vor dem Kommunismus oder Kapitalismus war gestern, heute sind oder waren es Globalisierung, Überfremdung, islamischer Terror, Umweltkatastrophen und, immer wieder gerne, die Bedrohung unserer Wohlstandsgesellschaft durch den "Markt", von geldgierigen Scheichs bis zu expandierenden Chinesen. Und dann kam Corona. Alle haben Angst, die Bürger, weil sie sterben könnten. Die Experten, weil sie sachlich falsch liegen könnten. Die Politiker, weil das, was sie im guten Glauben an den einen oder anderen Experten entscheiden, entweder falsch, schädlich und, noch schlimmer, letztlich politisch nicht mehrheitsfähig sein könnte. Ein bisschen Shitstorm kann heute einen Seemann zwar noch nicht erschüttern. Die Vision einer verlorenen Wahl schon. Die Corona-Dynamik ist dank des eingespielten medialen Systems zwischenzeitlich derart eskaliert, dass die Bodenhaftung gänzlich verloren gegangen ist. Ein Chefarzt, in dessen Klinik fast 60 Patienten positiv auf den Virus getestet wurden, war "erschüttert", weil alle diese Patienten symptomfrei, also bezüglich des Virus klinisch gesund waren. Die Tatsache, dass die allermeisten Infizierten keine oder unspezifische Grippe-Symptome haben und schnell genesen, wird nicht als positive Nachricht gemeldet, weil man angesichts dessen die Risiken der Pandemie übersehen könnte.
Konsequenterweise dominieren die naturgemäß immer steigenden Zahlen der Infizierten und Toten die mediale Corona-Präsenz. Alles, was Angst reduzieren könnte, macht Angst! Innovativere Konstellationen einhergehend mit vollständigem Kontrollverlust, dürfte es derzeit weltweit nicht geben. Einen Notausgang? Gibt es nicht! Hinter jedem visionären Ende ("nach der Pandemie") zeigt die nüchterne Vernunft sofort neue Gefahren auf, mutierte Viren, Impfschäden, man weiß es nie sicher! Und absolute Sicherheit ist eben das, was der anspruchsberechtigte Konsument meint erwarten zu können.
Allgemein mag das Problem von Corona-Prävention, wie bei jeder Prävention darin liegen, dass im Nachhinein nie bewiesen werden kann, ob die Maßnahmen richtig waren oder nicht. Sinken die Zahlen, hätten sie das nicht auch ohne Lockdown geschafft? Steigen die Zahlen, müssen die Maßnahmen verschärft werden. Sobald einmal mit den bekannten Maßnahmen, mit Mund-Nasenschutz, Abstandhalten und Lockdowns begonnen wurde, kommt niemand mehr angstfrei, also auch ohne Gesichtsverlust, aus deren Dynamik heraus. Die Maßnahmen waren bereits so teuer und haben uns allen so viele Einschränkungen abgenötigt, dass alleine dies zum Weitermachen zwingt. Soll alles umsonst gewesen sein? Weitermachen, im Glauben fest! Neues Geld zu drucken ist kein Problem. Gezahlt wird später. Wer dann zahlt? Wer das heute diskutieren will, wird Schuld am Tod von vielleicht Millionen von Menschen.
Hinter jeder Ecke: Angst
Der Teufel, der wahre Hexenmeister, liegt genial verstrickt in jedem Detail. Niemand soll sterben, auch 82-Jährige, bereits an vielen anderen Erkrankungen leidende, Menschen nicht. Alles, nur kein Risiko! Wer solche Sicherheit sucht, findet überall und hinter jeder Ecke: Angst. Trotz Mund-Nasenschutz, Abstand und Lüftung, Gefahren lauern überall. Der einzige Trost: Wenn es passiert, hat ein anderer Schuld. Ein Corona-Impfstoff soll gegen alle Eventualitäten schützen? Wissen wir nicht schon heute, dass Viren mutieren? Soll es nicht Mehrfach-Covid-Erkrankte geben? Warum soll der Wunder-Impfstoff keine Nebenwirkungen haben, vielleicht schlimmere als das Virus selber? Wir verklagen dann die Hersteller! Sind nicht bereits neue Viren schon auf dem Vormarsch? Aus chinesischen Fleischmärkten, wo Fledermäuse, Affen und Gürteltiere als Delikatessen gelten? Aus Laboren, dunklen, schwarzen Höhlen, in denen fortschrittssüchtige Chinesen experimentieren? Experten haben vor alledem bereits gewarnt, nachdrücklich. Wer warnt, hat keine Schuld. Also warnen alle. Wer aktiv gegen das Virus kämpft, hat auch keine Schuld. Also kämpfen alle, mögen die Waffen noch so umstritten bis unsinnig sein, zumindest sind sie eindrucksvoll, etwa Beherbergungsverbote (der Feind kommt immer von außen, vorzugsweise aus Österreich), das Schließen von Restaurants und Theatern. Und wenn das alles nichts bringt und die Zahlen steigen, dann verdoppeln wir unsere Bemühungen, warnen und ergreifen weitere Maßnahmen. Und so weiter.
Der digital-dynamische Zauberlehrling hat diese Geister nicht gerufen, aber er hatte zunächst einmal seinen Nutzen davon, sie in Gang zu setzen. Durch seine Ansprüche und Dynamik wurde ein Virus, der anders aber kaum gefährlicher als eine Grippe ist (was Zahlen des RKI belegen), erst zu einem global-paralysierenden Ungeheuer. Es werden ihrer immer mehr. Sie laufen, entwickeln ihre eigenen Fratzen, müssen bekämpft werden, heldenhaft, konsequent, medienträchtig. Um sich gleich darauf wieder zu vermehren. Noch mehr Aktion, noch mehr Einschränkungen, aus denen unmittelbar andere Geister auftauchen. Die reale Gesellschaft wird zu einem gespaltenen Papiertiger, die Bildung geht bergab, weil die Digitalisierung ein schönes Versprechen, virtuelle Realität jedoch irreal ist.
Jeder ist eine Bedrohung für alle
Sensible bis kranke Menschen leiden unter sozialer Isolation, chronisch Kranke gehen aus Corona-Ansteckungsangst nicht mehr zum Arzt, mit absehbaren Folgen. Jeder ist die potentielle Bedrohung von uns allen. Unis werden überflüssig. Online geht es auch, gerne für immer. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Wenn die Wirtschaft stagniert, wird neues Geld gedruckt. Immer neue Geister. Angstresistenz ist evolutionstechnisch praktisch ausgeschlossen. Corona eine Infektionserkrankung? Corona, ein Medienereignis? Eine neue Sinndimension? Eine Glaubensfrage? Ein Katalysator für eine bessere, die Menschheit einigende Zukunft? Oder das Gegenteil davon? Alles zusammen, immer neue Geister, die aufmarschieren und uns zu Aktionen zwingen, aus denen wieder neue Geister entstehen. So herrlich-angsteinflößend, wie am ersten Tag. Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.
Leider ist der Meister längst im Ruhestand. Es gibt niemanden mehr, der potent genug und in der Lage ist, sich dem Sturzbach der medialen Corona-Angst-Dynamik entgegen zu stellen. Die Einsicht, wonach wir mitten im Leben schon immer vom Tod umgeben waren, ist zu unangenehm, um nicht Shitstorm-trächtig zu sein. In die Ecke, Besen, Besen! Seid‘s gewesen.
Sicherheit ist eine Illusion. Niemand hat angesichts des Schicksals einen Rechtsanspruch, weder auf Unsterblichkeit noch auf ein langes, glückliches Leben. Dafür zu kämpfen ist etwas anderes, als in vorderster Front Sicherheit zu fordern. Es ist tragisch, dass die hier skizzierte, keineswegs innovative Erkenntnis zwangsläufig das schmerzhafte Ende der Geschichte sein muss. Weniger schmerzhaft ließe sich dies schon heute realisieren, wenn nicht die digital-dynamische, anspruchsberechtigte Angstvermeidungsgesellschaft so nachhaltige Geisterpflege betreiben würde.
Andreas Hillert (RC Chiemsee) ist Chefarzt an der medizinisch-psychosomatischen Schön-Klinik Roseneck, im Verbund mit der Ludwig-Maximilian-Universität München, in Prien. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Fachartikel.
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