Fokus November
Der Krankheit ihren Schrecken nehmen
Der Schlaganfall ist seit jeher eine Volkskrankheit und eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft. Er ist noch immer die dritthäufigste Todesursache und der häufigste Grund für Behinderungen im Erwachsenenalter.
Als die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe im Januar 1993 ihre Arbeit aufnahm, galt der Schlaganfall als Stiefkind der Medizin. Das Wissen über die Erkrankung war noch rudimentär, wirksame Behandlungsmöglichkeiten existierten kaum. Der renommierte Essener Neurologe Prof. Dr. Hans-Christoph Diener erinnert sich an seine Zeit als junger Assistenzarzt in den 1970er Jahren so: „Wenn wir damals einen Schlaganfallpatienten aufnahmen, legten wir ihn in ein Bett und warteten ab, ob er überlebte.“
Stroke Units: Eine Erfolgsgeschichte
Kurz nach Gründung der Schlaganfall-Hilfe, 1995, eröffnete eben dieser Christoph Diener in Essen eine der ersten Stroke Units Deutschlands – eine Spezialstation allein für Schlaganfallpatienten, auf der rund um die Uhr ein neurologischer Facharzt Dienst tut, die Pflegekräfte spezielle Weiterbildungen haben, ein Computertomograf (CT) oder ein Magnetresonanztomograf (MRT) jederzeit zur Verfügung stehen und Therapeuten auch am Wochenende an das Bett des Patienten kommen.
Im angelsächsischen Raum war das Konzept der Stroke Units bereits bekannt. Und auch in Deutschland setzte sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass diese spezialisierte Behandlung deutliche Vorteile für die Patienten bietet. Heute können wir feststellen: Die Stroke Units haben sich zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt, sicherlich zu einer der größten in der Neurologie.
Bis heute hat die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe gemeinsam mit der wissenschaftlichen Fachgesellschaft, der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft, mehr als 330 Stroke Units in Deutschland zertifiziert. Von den allermeisten Orten aus ist eine Stroke Unit innerhalb von 30 Minuten erreichbar. 270.000 Menschen pro Jahr erleiden in Deutschland einen Schlaganfall, mehr als 80 Prozent von ihnen werden auf Stroke Units behandelt. Akutmedizinisch also sind Schlaganfallpatienten in Deutschland in fast allen Regionen hervorragend versorgt.
Überlebensquote verdoppelt
Die medizinische und technische Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte hat den Neurologen in der Schlaganfallbehandlung neue Optionen aufgezeigt. Mittels CT und MRT sind sie nun in der Lage, sich ein Bild vom Gehirn zu machen und zu erkennen, ob es sich um einen Gefäßverschluss (85 Prozent der Fälle) oder eine Gehirnblutung (15 Prozent) handelt. Zu Beginn der 2000er Jahre schließlich wurde die Thrombolyse zugelassen, die medikamentöse Auflösung von Gefäßverschlüssen. Für diese Therapie bleibt den Neurologen allerdings nur ein Zeitfenster von maximal 4,5 Stunden, und je früher die Therapie einsetzt, desto geringer sind die bleibenden Folgen für den Patienten. Deshalb gilt nach wie vor: „Jeder Schlaganfall ist ein Notfall – 112!“ Die Schlaganfall-Hilfe ist daher regelmäßig mit zahlreichen Aufklärungskampagnen aktiv, um das Wissen der Bevölkerung über Notfälle zu stärken.
In den 2010er Jahren folgte mit der Thrombektomie eine weitere Therapieoption. Hierbei wird das Gerinnsel mittels eines Katheters aus dem Gehirn entfernt, auch diese Therapie ist zeitkritisch. All diese Entwicklungen führten in der Summe dazu, dass heute – 25 Jahre nach Eröffnung der ersten Stroke Unit – doppelt so viele Menschen einen Schlaganfall überleben wie früher.
Nachsorge lange vernachlässigt
Dennoch: Nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung sind mehr Menschen denn je heute auf Pflege und Therapie angewiesen. Die neurologische Rehabilitation hat sich in den vergangenen Jahren stark weiterentwickelt. Mediziner und Therapeuten wissen immer genauer, welche Therapien bei welchen Patienten Wirkung zeigen. Und technische Entwicklungen wie robotikgestützte Trainingsgeräte tragen einen weiteren Teil zu den immer besseren Rehabilitationsergebnissen bei.
Mit der sehr positiven medizinischen Entwicklung ging leider keine adäquate Veränderung der Strukturen und Prozesse im Gesundheitswesen einher. Erfahrungen aus dem Netzwerk der Deutschen Schlaganfall-Hilfe – allein in der Selbsthilfe sind über 15.000 Patienten organisiert – zeigen täglich, dass viele Patienten nach Entlassung aus der Klinik durch das Netz fallen. Sie sind schlicht überfordert mit der Koordination ihrer weiteren Behandlung und den Anforderungen, die auf sie zukommen.
Der Schlaganfall ist eine der komplexesten Erkrankungen. Rund 60 Prozent der Schlaganfallpatienten sind langfristig auf Pflege, Therapien oder Hilfsmittel angewiesen.
Verschiedene Ärzte und Therapeuten, Sanitätshäuser, die Krankenkasse, Rentenversicherung und Ämter – Patienten müssen sich mit vielen Ansprechpartnern und Anforderungen auseinandersetzen. Und das in einer Phase, in der sie geschwächt und verunsichert lernen müssen, sich mit den Folgen ihrer Erkrankung zu arrangieren und ihren Lebensstil umzustellen – für viele Patienten eine komplette Überforderung, oft mit fatalen Folgen.
Schlaganfall-Lotsen und -Helfer
Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe will das ändern. In den vergangenen zehn Jahren entwickelte sie ein neues Versorgungsmodell mit zwei neuen Funktionen im Gesundheitswesen. Professionelle Schlaganfall-Lotsen sollen Patienten künftig ein Jahr lang nach ihrem Schlaganfall begleiten, bis sie in der Lage sind, alle weiteren Schritte selbst zu koordinieren.
Kümmerer und Unterstützer
Lotsen haben eine medizinisch-therapeutische Grundausbildung und eine Weiterbildung zum Case Manager. Mit viel Sachverstand und Empathie lotsen sie ihre Patienten zurück ins Leben.
In ihrer Heimatregion Ostwestfalen-Lippe führt die Stiftung derzeit ein großes Modellprojekt durch (STROKE OWL), das der Bund mit sieben Millionen Euro aus dem sogenannten Innovationsfonds fördert. Parallel entstehen in verschiedenen Regionen Tochterprojekte mit Schlaganfall-Lotsen. Und die Politik überlegt bereits, wie das Modell künftig in die Regelversorgung umgesetzt werden kann.
Unterstützung erhält der hauptamtliche Lotse durch den ehrenamtlichen Schlaganfall-Helfer. Er soll Betroffene im Alltag unterstützen und Angehörige entlasten. In mehreren Wochenendschulungen erhalten Interessenten das Rüstzeug für ihren Einsatz.
Die Schlaganfall-Hilfe entwickelte die Idee des Schlaganfall-Helfers und die Schulungsbausteine. Die Umsetzung vor Ort geschieht jeweils mit regionalen Partnern (wie zum Beispiel mit dem RC Ansbach als Leuchtturmprojekt), weil die Koordination der Einsätze von Helfern vor Ort geschehen sollte.
Projektinfo
Wenn Sie Interesse haben, eines der beschriebenen Projekte gemeinsam mit der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe umzusetzen, wenden Sie sich bitte an den Autor.
Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, Schulstr. 22, 33330 Gütersloh
Tel.: 05241/9770-61, Michael.
brinkmeier@schlaganfall-hilfe.de,
www.schlaganfallhelfer-ansbach.de