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Navigieren für die Gesundheit

Daten sind das Thema, das die nächsten Kapitel in der Geschichte der Medizin bestimmen wird. Digitalisierte Gesundheitsüberwachung ist in der Gegenwart bereits angekommen. In der individualisierten Medizin, die von Big Data lebt, steht der Praxistest noch aus.

Ursula Weidenfeld01.08.2015

Annenwalde 4 in 17268 Annenwalde – diese Adresse finden nicht einmal zuverlässig funktionierende Navigationssysteme. Genau hier lebt Siegfried Riedel. Als sich der Gymnasiallehrer vor zehn Jahren aus dem Arbeitsleben zurückzog, kehrte er Berlin den Rücken, um in der Uckermark (Brandenburg) seinen Ruhestand zu genießen. In Annenwalde gibt es eine Kirche, ein Gasthaus, eine Glasbläserei und eine einzige Straße. Die heißt der Einfachheit halber genauso wie das Dörfchen selbst. Eine Arztpraxis gibt es nicht. Deshalb hat Riedel seit kurzem einen technischen Gesundheitspartner: sein Smartphone plus spezieller App.

„Ich möchte auf gar keinen Fall einen dritten Herzinfarkt bekommen“, sagt der 75-Jährige. Mit einem 50 Gramm schweren digitalen EKG-Gerät und dem Smartphone kann Riedel seinen Gesundheitszustand selbst prüfen. Fühlt er sich unwohl, tippt er die App an, in der sein Referenz-EKG gespeichert ist. Innerhalb einer Minute gleicht die Anwendung es mit seinen aktuellen Werten ab. „Dann sehe ich, ob Gefahr in Verzug ist,“ erklärt er. Zudem sendet die App Riedels EKG regelmäßig an seinen behandelnden Arzt. Stellt dieser fest, dass etwas nicht stimmt, bekommt sein Patient frühzeitig eine Nachricht.

Das Beispiel des Rentners aus Annenwalde illustriert, was an den großen Forschungsstandorten dieser Welt längst Konsens ist: Die nächsten Kapitel in der Geschichte der Medizin werden durch das Thema Daten bestimmt. Reichen im Bereich der elektronischen Gesundheitsdienstleistungen überschaubare Datenmengen, um Patienten medizinisch zu überwachen, so kommt die individualisierte Diagnostik und Therapie ohne Big Data nicht aus. Die Chancen, die aus dem Zusammenwirken von Biotechnologie, Pharmaindustrie, Medizin und Informationstechnologie erwachsen, sind groß. Doch in Deutschland bremsen der strikte Datenschutz und die Skepsis von Investoren immer wieder Projekte aus.

E-Health auf dem Vormarsch

Ausgesprochen optimistisch bewerten Branchenkenner die Möglichkeiten, die sich aus der Digitalisierung von Patientendaten ergeben – E-Health. Unter diesem Begriff subsummiert sich eine Vielzahl von elektronischen Programmen und Anwendungen – von der Telemedizin wie im Falle von Siegried Riedel bis hin zu Stoffwechsel-Checks ohne Arztbesuch. So erlaubt eine App des Potsdamer Unternehmens Metabolomic Discoveries GmbH bereits, dass sich Nutzer mit einem Mess-Kit selbst Blut abnehmen. Zwar müssen sie die Probe physisch in ein Labor schicken. Über ein webbasiertes System erfahren sie jedoch wenig später online die Ergebnisse.

Im Zuge des demografischen Wandels gewinnt die neue elektronische Variante der Gesundheitsüberwachung an Bedeutung. Dies gilt umso mehr für Regionen, die junge Leute meist verlassen. Wie zum Beispiel die Uckermark. Für alte Menschen ohne Familienangehörige oder jüngere Nachbarn, die sie bei regelmäßigen Arztbesuchen begleiten, sind E-Health-Systeme eine gute Sache. Die elektronische Überwachung erlaubt ihnen oft, länger ein selbstbestimmtes Leben zu Hause zu führen. Das wiederum entlastet Altenheime und Pflegeeinrichtungen.

Im Vergleich zur individualisierten Medizin stützten sich Systeme zur elektronischen Gesundheitsüberwachung auf deutlich kleinere Datenvolumina, was zu geringeren Entwicklungskosten führt. Auch unter Datenschutz-Gesichtspunkten sind die Programme unkomplizierter. Natürlich legt der User sensible personenbezogene Daten offen. Wird er darüber aber aufgeklärt, und unterschreibt er zudem eine Einverständniserklärung, ist dem strengen deutschen Datenschutzgesetz genüge getan.

Auf der Suche nach Mustern

Ganz anders sieht es auf dem großen Gebiet der personalisierten Diagnostika und Medikamente aus. Einem Forschungs- und Entwicklungsbereich, der vor allem in der Krebstherapie enorme Chancen eröffnet. „Personalisierte Medizin ist eigentlich nichts Neues“, sagt Georg Kääb von BioM Biotech Cluster Development GmbH, der Biotechnologiezentrale in München. „Von jeher sind Ärzte darum bemüht, für ihre Patienten die individuell beste Therapie zu finden.“ Was Mediziner, Biotech-Unternehmen und Pharmakonzerne heute unter personalisierter Medizin verstehen, ist allerdings etwas anderes. Es ist die Möglichkeit, tief in die molekularen Strukturen des Menschen einzudringen. Die Chance, Abweichungen von der Norm zu finden, in riesigen Datenbanken nach ähnlichen Abweichungen zu suchen, um auf Muster zu stoßen. Ist ein Muster gefunden, so können Medikamente entwickelt werden, die exakt darauf zugeschnitten sind. Zudem kann der Einsatz von Therapeutika ausgeschlossen werden, die aufgrund des speziellen molekularen Musters keine Heilung, möglicherweise aber gravierende Nebenwirkungen bringen.

Michael Bonin definiert genau diese Muster, fachsprachlich „Biomarker“ genannt. „In der Onkologie forsten wir in der genetischen Struktur von Tumorzellen, um Biomarker zu entdecken“, erklärt der Geschäftsführer der IMGM Laboratories GmbH in Martinsried. Tumorzellen unterscheiden sich von gesunden Zellen dadurch, dass bestimmte Gene mutiert sind. Ist klar, welche mutierten Gene für das Wachstum der Krebszellen verantwortlich sind, kann die Pharmaindustrie gezielt Medikamente entwickeln, die exakt diese Mutationen unschädlich machen. Die Entwicklung von Medikamenten, die nur in Verbindung mit einem vorgeschalteten Gentest eingesetzt werden dürfen, das Gebiet der sogenannten Companion Diagnostics, ist weltweit der größte Trend in der personalisierten Medizin. In Deutschland sind rund 30 solcher Präparate zugelassen.

„Individualisierte Therapeutika können allerdings nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn exakt die Kombination von Genmutationen aufgedeckt wurde, die den vorliegenden Krebsfall verursacht oder maßgeblich beeinflusst“, gibt Kääb zu bedenken. Und das können unzählige, zuweilen ausgesprochen selten auftretende Verknüpfungen sein. „Der zweite Mega-Trend in der Präzisionsmedizin ist daher das Next Generation Sequencing“, erklärt der Biologe. Bislang werden Genome bei der Sequenzierung auf einzelne mögliche Mutationen hin untersucht. Zeigt sich, dass die Mutation, die als Ursache für die Erkrankung vermutet wurde, gar nicht dafür verantwortlich ist, beginnt die Suche von vorn. „Für den Patienten bedeutet das oft weitere Biopsien und wieder wochenlanges Warten auf das Ergebnis“, sagt Kääb. Next Generation Sequencing erlaubt es hingegen, sehr viele Gene auf einmal zu untersuchen. „In Deutschland übernehmen die Krankenkassen die Kosten jedoch nicht, daher wird diese Methode bisher kaum eingesetzt“, sagt Kääb. Das könnte sich allerdings bald ändern, denn derzeit wird der einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM), die Gebührenordnung der gesetzlichen Krankenversicherung, überarbeitet. „Die Aufnahme des Next Generation Sequencing in den neuen EBM ist für spezifische Indikationen aus Kassensicht vorstellbar“, sagt Dr. Roland Leuschner, stellvertretender Abteilungsleiter Versorgungsmanagement beim BKK Dachverband.

Eine Technologie gegen alle Krankheiten

„Es ist wichtig, dass solche Multi-Gentests Standard werden“, mahnt Friedrich von Bohlen und Halbach. Er ist Mit-Geschäftsführer der dievini Hopp BioTech Holding GmbH & Co. KG mit Sitz in Walldorf, zu der 14 Unternehmen gehören. Zudem ist er Chairman der CureVac GmbH, Tübingen. CureVac ist es gelungen, das Botenmolekül Messenger-RNA, kurz mRNA,  medizinisch nutzbar zu machen. Diese neue Technologie funktioniert nicht nur bei Krebs. „Sie kann theoretisch gegen alle Krankheiten wirken, die molekularbedingte Ursachen haben“, sagt von Bohlen und Halbach.

„Wir können Therapeutika aber nur gezielt entwickeln, wenn wir in riesigen Daten-Clouds nach genau der Kombination von veränderten Molekül-Strukturen forschen, für die ein Präparat bestimmt sein soll“, erklärt der studierte Biologe. Das sei wie Navigieren in der Welt der Moleküle. Die Basis dafür ist Big Data. Das Problem dabei: In Deutschland erschweren Datenschutzgesetze den Aufbau von Massen-Datenbanken mit sensiblen medizinischen Informationen. „In den USA ist das anders“, weiß der Experte. Dort fließen die Informationen aus klinischen Studien, Behandlungen oder Pharma-Testreihen bereits heute in Datenbanken ein. Die Chance, darin seltene Mutationen zu finden, ist ungleich größer.

Kaum Risikokapital

Doch mangelndes Big Data ist nicht der einzige Faktor, der die Präzisionsmedizin hierzulande bremst. Es fehlt auch an Risikokapital, das Biotech-Unternehmen benötigen. „Die Situation für Start-ups in diesem Bereich ist schwierig“, sagt Thomas Raueiser, Investment Manager bei der NRW Bank. „Das liegt vor allem daran, dass sich viele private Venture-Capital-Fonds aus der Finanzierung der Frühphase zurückgezogen haben.“ Auch die NRW Bank stellt für die Entwicklung neuer Produkte in der individualisierten Medizin nur gemeinsam mit Co-Investoren Geld zur Verfügung.

Die Zurückhaltung rührt daher, dass sich der Erfolg der personalisierten Medizin im großen Rahmen bislang gar nicht abschätzen lässt. Auch wenn einzelne Medikamente zugelassen sind, kann von einer breiten Anwendung in der Praxis keine Rede sein. Und die Entwicklung neuer Präparate zieht sich über viele Jahre hin. So kann trotz vielversprechender Projekte noch niemand sagen, ob die Medikamente den großen Durchbruch bringen werden, oder ob es sich letzten Endes nicht doch um einen Hype handelt. So wie bei der dotcom-Blase, als Anleger und Venture-Capital-Geber an die Heilsversprechen von Hightech-Start-ups glaubten und 2001 bitter enttäuscht wurden. In der Welt des molekularen Navigierens steht der Praxistest noch aus.

Ursula Weidenfeld
Dr. Ursula Weidenfeld war stellvertretende Chefredakteurin des „Tagesspiegel“, Gründungsredakteurin der „Financial Times Deutschland“ und Chefredakteurin der Zeitschrift „impulse“. Seit 2009 ist sie freiberufliche Journalistin und Moderatorin. www.das-tut-man-nicht.de

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