Debatte in der Ökonomie
Zurück zum Menschen
Als der Chef der Investmentbank Goldman Sachs, Lloyd Blankfein, im Jahr 2009 nach der Verantwortung der Banken für die Finanzkrise gefragt wurde, konnte er kein Versagen erkennen: „Wir helfen den Unternehmen zu wachsen. Unternehmen, die wachsen, schaffen Wohlstand und geben den Menschen Arbeit, die noch mehr Wachstum und noch mehr Wohlstand schafft.“ Das sei, so Blankfein, der gottgewollte und gemeinwohlfördernde Lauf der Dinge, er selbst verrichte als Banker nur „Gottes Werk“. Das war nicht das letzte Mal, dass jemand so offen und gleichzeitig so unreflektiert über das Prinzip des Finanz-Kapitalismus gesprochen hat. Redet man heute mit Investmentbankern, sagen die dasselbe. Sie sagen es nur nicht mehr so laut. Selten in der Wirtschaftsgeschichte hat sich das Bürgertum so entschieden von seinen Eliten distanziert. Selten haben Politiker sich so deutlich gegen die Manager gestellt. Und selten war das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung so erschüttert. Spätestens, nachdem die Finanzkrise in Europa zur Staatsschuldenkrise geworden ist, wird anders über die Marktwirtschaft nachgedacht. Managergehälter und Boni stehen in der Kritik, die ungleiche Verteilung von Einkommen wird angeprangert. Die Wirtschaft müsse dem Menschen dienen, nicht der Mensch der Wirtschaft – so lautet die Formel, mit der deutsche Spitzenpolitiker in den beginnenden Wahlkampf ziehen. So lautet auch die Parole, mit der die Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft wieder zum Leben erweckt werden soll. Es soll eben nicht mehr um „noch mehr Wachstum und noch mehr Wohlstand“ für die Superreichen gehen. Es soll um ein gutes und gerechtes Leben für alle gehen.
Weniger Wachstum?
Im Bundestag schließt gerade eine Enquete-Kommission ihre Arbeit ab, die drei Jahre lang die Frage verhandelt hat, ob eine Gesellschaft auch mit weniger Wachstum und stagnierendem Wohlstand zufrieden sein kann. Damit wird eines der Charakteristika der westlichen Nachkriegsgesellschaften in Frage gestellt – und an den Ländern der südlichen Eurozone kann man betrachten, was passiert, wenn das Wachstum nicht nur über ein oder zwei Quartale, sondern über drei oder vier Jahre ausbleibt. Ist das anders, wenn sich reife Volkswirtschaften selbst entscheiden, auf Wachstum zu verzichten? Einer ihrer Vordenker, der Bonner Wirtschafts- und Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel, sagt am Ende der Beratungen, das sei die wichtigste Frage für die hochindustrialisierten Länder: „Ob sich das aushalten lässt, ohne dass die Gesellschaften zerfallen“. Nicht nur im deutschen Parlament wird über diese Fragen nachgedacht. Der Anthropologe David Graeber, Kopf hinter der Occupy-Bewegung, hält das Kreditwesen für die Wurzel allen Übels. Der Kredit habe zuerst die sozialen Beziehungen der Menschen entfremdet, dann habe er sich ganz verselbstständigt und sein verheerendes Eigenleben in der Finanzindustrie entfaltet. Zwar teilen nur die wenigsten Politiker und Ökonomen das leidenschaftliche Plädoyer Graebers, dass der Kredit die Wurzel allen Übels sei. Aber dass über den Kredit in den Banken, Hedge Fonds und auf dem grauen Kapitalmarkt nahezu unkontrolliert Geldvermehrung stattgefunden hat, wird allgemein als die große Fehlstelle der Finanzwirtschaft erkannt. Je höher die Eigenkapitalpflichten der Banken werden, desto restriktiver wird künftig dieses Geschäft. Das reicht Graeber nicht aus. Er will das Menschliche in die Wirtschaft zurückholen, zum Beispiel, indem man sich wieder daran erinnere, dass der Kredit ursprünglich auf eine Kultur des Schenkens und Beschenktwerdens zurückgehe. Es sei eins der großen Missverständnisse der Moderne gewesen, dass man den Kredit nur als fortschrittliche Dimension des Tauschhandels gewertet habe. Tauschhandel habe es in den frühen Gesellschaften gar nicht gegeben. Die Menschen hätten sich gegenseitig beschenkt.
Sehnsucht nach Gebundenheit?
Vielleicht sind der Kredit und das Schenken nicht einmal die zentralen Größen in der Debatte um die Rolle des Menschen in der Ökonomie. Zentral aber ist die Frage, ob die Gesetzes des Marktes für alles und alle gelten sollten – oder ob es Ausnahmen geben muss. Der einflussreiche amerikanische Philosoph Michael Sandel würde noch nicht einmal gelten lassen, dass es sich um Ausnahmen handelt, wenn er ganze Bereiche menschlichen Handelns von Marktmechanismen befreien möchte. Der Harvard-Professor, der auf seinen öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig tausende Zuhörer in Begeisterung versetzt, hält das Freiheitsziel der westlichen Marktwirtschaften für unrealistisch. Menschen streben nicht in erster Linie nach Freiheit, sagt er. Sie suchen nach Gebundenheit – in ihren Familien, ihren sozialen Gruppen, in ihren Traditionen. Deshalb sei es wichtig, dass nicht alles Menschliche dem Markt ausgeliefert wird – weil die Dinge, und am Ende auch die Menschen, sich unter dem Einfluss des Marktes zu ihrem Nachteil veränderten. Sandel illustriert das am Beispiel eines israelischen Kindergartens. Die Einrichtung hatte ursprünglich ziemlich rigide Öffnungszeiten, von den Eltern wurde Pünktlichkeit erwartet. Wenn das nicht gelang, kamen sie mit einem schlechten Gewissen zu spät. Weil dem Kindergarten die Anstrengungen der Eltern nicht ausreichten, wurden Strafzahlungen für Verspätungen eingeführt. Alle hatten erwartet, dass die Pünktlichkeit zunehmen würde, doch das Gegenteil trat ein. Die Pünktlichkeit verschlechterte sich von Monat zu Monat. Das Zuspätkommen hatte durch die Geldstrafe ganz einfach seinen Charakter geändert: Wenn man zahlt, muss man kein schlechtes Gewissen mehr haben, man kauft einfach ein bisschen Betreuungszeit dazu. Pünktlichkeit ist kein Wert im sozialen Gefüge mehr, sondern nur noch eine Funktion der Geldbörse: Kann ich es mir leisten, zu spät zu kommen?
Dasselbe stellt Sandel für Warteschlangen, Schulnoten, oder sogar Blutspenden fest. Geduld ist eine Tugend, die man beim Anstehen für Konzertkarten, für die Sicherheitskontrolle im Flughafen einübt. Kann man sich die Schlangen sparen, weil man mehr für das Ticket zahlt, bekommt Geduld einen Preis. Dasselbe bei Schulnoten. Werden schlechte Schüler finanziell dafür belohnt, wenn sie ihre Hausaufgaben erledigen und ihre Nachhilfe nicht versäumen, wird Lernen ein Job. Aber die Schüler erfahren den Selbstwert des Lernens und der Neugier nicht mehr. Als Blutspender in einer amerikanischen Stadt auf einmal bezahlt wurden, ging die Zahl der Spender nicht hoch, sondern sie fiel drastisch zurück. Die Menschen wollten sich ihr Blut nicht abkaufen lassen, sie wollten anderen Menschen mit einer humanitären Geste helfen. Sandel leitet daraus ab, dass die Vergeldlichung des Lebens das Leben selbst verändert hat. Wer Dinge und Dienste bepreist, rückt sie in die Sphäre des Marktes und nimmt in Kauf, dass sie sich allein dadurch ändern. Sie waren Teil des Gefüges zwischenmenschlicher Beziehungen, und werden Teil des Marktes. Dies wiederum würde Robert Shiller begrüßen. Der Ökonomieprofessor aus Yale argumentiert, das unausgesprochen alles längst einen Preis hat. Gibt man den Dingen – wie Organspenden – auch tatsächlich einen Preis, dann stellt man damit nur Transparenz her, argumentiert er. Wären Märkte ordentlich organisiert und transparent, wäre nicht nur die Wirtschaft besser, das Leben insgesamt würde klarer, sagt Shiller.
Das Ende des homo oeconomicus?
Es ist kaum verwunderlich, dass Sandel im Augenblick mehr Zustimmung erfährt. Es soll wieder heimeliger werden im Kapitalismus, so viel scheint klar zu sein. Ob die Schweizer dafür stimmen, die Managergehälter zu beschränken; oder ob es die Europäische Kommission ist, die der Gier der Banker einen Riegel vorschieben will: Die Gier muss weg, da sind sich alle einig. Ökonomen wie Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff warnen zwar, dass das noch nie gelungen sei. Sie zeigen zudem, dass nur die jeweilige Generation denkt, sie selbst lebe in einer Krise der außerordentlichen, der besonderen Art, in Wahrheit aber verliefen Krisen immer nach denselben Mustern und Regeln. Sie scheinen in der menschlichen Art zu liegen. Das will Frank Schirrmacher nicht gelten lassen. Für den FAZ-Herausgeber ist nicht mehr der Mensch die Hauptursache für die Tiefe und Schwere der Krise, es sind Maschinen. Computer und die Algorithmen, die sie steuern, seien die Triebkräfte dieser Krise, meint Schirrmacher. Der „homo oeconomices“, ohnehin kein besonders sympathischer Zeitgenosse, habe seine Arbeit, rein rationale Entscheidungen zu treffen, an Maschinen delegiert. Der Mensch darf die Wirtschaft nicht den rein auf Gewinn getrimmten Maschinen und Algorithmen überlassen, verlangt er. Denn der „homo oeconomicus“, der keine Emotionen und Sentimentalitäten, keine Loyalität und keine Freundschaft kennt, habe in der Wirklichkeit nie existiert, solange die Wirklichkeit in der Wirtschaft von Menschen gemacht und gestaltet wurde. In das Wirtschaftsleben hinein geboren worden sei diese Kreatur erst mit den Hochleistungscomputern an der Wall Street, in der Londoner City, und am Rand von Frankfurt/Main. Das unterscheide die heutige Krise fundamental von allen vorhergegangenen. Und deshalb werde jetzt zu Recht über die Rückkehr des Menschen in den Markt gestritten.
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