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Fremde Federn

Polio als Lehrstück

Hamid Jafari erläutert, wie die Welt von den Erfahrungen aus dem Kampf gegen die Kinderlähmung profitiert.

Hamid Jafari30.07.2015

Rotary International stellte sich 1985 eine historische und beachtenswerte Aufgabe: Jedes Kind, wo immer es lebt, ein Leben lang gegen Kinderlähmung zu schützen.

In dieser Zeit erkrankten jährlich über 350.000 Kinder an Kinderlähmung in über 125 endemischen Ländern weltweit. Dank Rotary steht die Welt heutzutage näher denn je vor der endgültigen Ausrottung dieser Krankheit. Wie bemerkenswert diese Leistung auch sein mag, noch bemerkenswerter ist das, was sich hinter dem Wort ‚Plus‘ in Rotarys PolioPlus verbirgt. Die Bemühungen um die Ausrottung von Polio umfassten stets mehr als nur den Schutz der Kinder gegen Polio. Im Bemühen um die Ausrottung dieser Krankheit gelang PolioPlus der Aufbau einer weltweiten Infrastruktur, die für das Erreichen umfassender gesundheitspolitischer Ziele und in Notsituationen genutzt wird.

Gefahren durch infektiöse Krankheiten

In der Folge von Naturkatastrophen oder im Verlauf von bewaffneten Konflikten ist der Anstieg infektiöser Krankheiten eine Gefahr für Menschen, die in Gebieten mit geschwächten oder zerstörten Sanitäts- und Gesundheitssystemen leben. Als Nepal in diesem Jahr von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde, nahm das Polio-Personal der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNICEF unverzüglich die Arbeit auf und unterstützte das Gesundheitsministerium in der Planung, Durchführung und Überwachung der Impfkampagnen gegen Masern und Röteln in den betroffenen Gebieten. Gleichzeitig erhöhte dieses Personal die Überwachungskapazität, insbesondere im Hinblick auf ansteckende Krankheiten, einschließlich und insbesondere Cholera. Das Polio-Netzwerk überwacht routinemäßig sonstige Krankheiten, die im Gesundheitswesen von Bedeutung sind, einschließlich Masern, Gelbfieber, Tetanus bei Neugeborenen und Vogelgrippe. Aufgrund der Kenntnis der Kommunen, der Gesundheitssysteme und der staatlichen Strukturen vor Ort leistet das Polio-Netzwerk oft maßgebliche technische Unterstützung in der Überwachung von Krankheiten und in der Planung groß angelegter internationaler und nationaler Hilfsmaßnahmen.

Das umfassende Netzwerk für die Ausrottung von Polio auf Länderebene hat wiederholt seine einzigartigen Fähigkeiten zur unverzüglichen Unterstützung in Notsituationen oder im Ausbruch von Seuchen unter Beweis gestellt. Nach dem Erdbeben im nördlichen Pakistan im Oktober 2005 kamen am Tag nach dem Erdbeben über 50 medizinische Fachkräfte aus dem pakistanischen Polio-Bekämpfungsprogramm am Ort der Katastrophe an, ausgestattet mit Impfstoffen, Medikamenten, Trinkwasser und Schlafsäcken, und leisteten gleichzeitig logistische Unterstützung durch den Einsatz von 15 Fahrzeugen und Radio- und Satellitengeräten. Die medizinischen Führungskräfte beurteilten die Lage und gaben ihre Beobachtungen an die Hauptstadt weiter, um eine effektive Planung der Katastrophenhilfe zu ermöglichen. Darüber hinaus leisteten sie in den darauffolgenden Tagen erste medizinische Hilfe, richteten Camps ein für die Versorgung der Verletzten und den Transport von Patienten, während sie gleichzeitig Massenimpfkampagnen gegen Masern, Polio und Tetanus planten und durchführten.

In den Tagen und Wochen nach dem Tsunami im Indischen Ozean im Dezember 2004 wurden Polio-Mitarbeiter aus Indien unmittelbar in die am stärksten betroffenen Gebiete in Südindien entsandt, damit sie sich um die gesundheitlichen Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung kümmerten. Im Hauptsitz wurde das Polio-Personal in die Mobilisierung von Ressourcen und in die Personalkoordination eingebunden. In den betroffenen Ländern kam das Polio-Personal mit Fahrzeugen und Medikamenten ausgestattet vor Ort an, einschließlich Rehydrationssalz und Cotrimoxazol-Tabletten für Kinder, um Tod durch Lungenentzündung zu vermeiden. Das Polio-Team organisierte und unterstützte die Durchführung groß angelegter Kampagnen für die vorbeugende Immunisierung, impfte über 150.000 Kinder gegen Masern und Polio und verabreichte Vitamin A-Ergänzungsmittel.

Kernkompetenz Immunisierung

Ähnliche Unterstützung wurde während der Dürre in der Sahelzone im Jahre 2013 und am Horn von Afrika 2011 und 2012 geleistet. Im vergangenen und in diesem Jahr wurde die Infrastruktur in Westafrika in der Bekämpfung des tödlichen Ebola-Ausbruchs genutzt. Sie half etwa dabei, Kontaktpersonen zu ermitteln oder Schulungen für das Gesundheitspersonal durchzuführen. In Nigeria waren es das „Center für Notfallmaßnahmen“ und das Polio-Personal, die in diesem Land die ersten Ebola-Hilfsmaßnahmen in die Wege leiteten und die lokale Übertragung des Virus stoppte. Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt.

Kern der Polio-Fachkompetenz ist natürlich die Immunisierung, folglich wendet das Polio-Personal im Durchschnitt 50 Prozent seiner Arbeitszeit für die Intensivierung der routinemäßigen Immunisierung auf Länderebene auf. In Afrika konnte in den letzten zehn Jahren die Zahl der Todesfälle durch Masern um die Hälfte reduziert werden. In diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Kinder in den am wenigsten entwickelten Ländern Afrikas und Südostasiens, die mit weitreichenden lebensrettenden Impfstoffen versorgt werden konnten, verdoppelt. Aufgrund der systematischen Verabreichung von Vitamin A während der Polio-Impfkampagnen konnten schätzungsweise 1,5 Millionen Kinder vor dem Tod gerettet werden. Das Polio-Programm bietet einen kritischen Beitrag zur Stärkung der routinemäßigen Gesundheits- und Immunisierungssysteme.

Die Sicherstellung, dass die für die Ausrottung von Polio aufgebaute Infrastruktur selbst nach der Ausrottung der Krankheit weiterhin für die Unterstützung der Gesundheitsdienste eingesetzt wird, ist eine der höchsten Prioritäten des Programms. Ein umfassender Prozess der „Vermächtnisplanung“ ist im Gange mithilfe von Partnern und Regierungen, um sicherzustellen, dass das Wissen und die Erkenntnisse, die aus der Polio-Ausrottung gewonnen wurden, weiterhin die öffentliche Gesundheit stärken, insbesondere bei den Folgen von Katastrophen und beim Aufbau stärkerer Gesundheitssysteme.

Eine andauernd poliofreie Welt ist das Geschenk von Rotary an die zukünftigen Generationen. Jedoch mehr als dies wird PolioPlus sicherstellen, dass die Früchte dieser Bemühungen alle Kinder weltweit erreichen sollen, lange nachdem die Krankheit in die Geschichtsbücher verwiesen wurde. Im Namen der Kinder der Welt und im Namen der Global Polio Eradication Initiative: Danke Rotary!

Hamid Jafari
Dr. Hamid Jafari ist derzeit als stellvertretender Direktor des Zentrums für globale Gesundheit in den Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC) tätig. Das CDC ist eine US-Bundesbehörde des amerikanischen Gesundheitsministeriums. Bis Februar 2016 war er Direktor für die weltweite Polio-Eradikation am Hauptsitz der Weltgesundheitsorganisation in Genf und der Leiter der Global Polio Eradication Initiative. Von 2007 bis 2012 war Dr. Jafari Projektleiter der Weltgesundheitsorganisation Nationales Polio-Überwachungsprojekt in Indien. cdc.gov