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Interview mit Biontech-Chef Ugur Sahin

„Wir haben die Pandemie noch nicht überstanden“

Interview mit Biontech-Chef Ugur Sahin - „Wir haben die Pandemie noch nicht überstanden“
Biontech-Chef Ugur Sahin © Privat

Während der Sommer Normalität suggeriert, arbeitet Biontech an der Verbesserung seines Coronaimpfstoffs. Biontech-Chef Ugur Sahin über die Gegenwart und die Zukunft.

01.08.2021

Ugur Sahin ist kein Mann für große Gesten und pathetische Worte, für ihn zählt die Wissenschaft. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Türeci und Christoph Huber gründete er 2008 das Unternehmen Biontech in Mainz. Am 9. November 2020 ging die Meldung um die Welt, auf die alle gewartet hatten: ein wirksamer Impfstoff sei gefunden. Seit Dezember wird mit Biontech geimpft, und seit Ende März dieses Jahres, seit die Impferfolge sichtbar sind, schießt die Aktie der Biontech SE durch die Decke.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie jüngst bei der Europameisterschaft 65.000 feiernde Fußballfans in Wembley sahen, die sich beim Torjubel in den Armen lagen?

Ich habe gestern einen guten Satz gelesen: „Wir lockern schneller als wir impfen.“ Klar, es ist eine Massenveranstaltung, aber all die Menschen im Stadion wurden offenbar zuvor getestet. Daher ist es ein Kompromiss und man weiß ja, dass die Ansteckungswahrscheinlichkeit im Freien geringer ist als in Innenräumen. Man muss auch verstehen, dass die Menschen zu ihrem normalen Leben zurückkehren möchten. Klar ist aber auch: Wir haben die Pandemie noch nicht überstanden.


 Zur Person:

Ugur Sahin (RC Mainz 50° Nord) ist Krebsforscher, Immunologe und als Gründer und Vorstandsvorsitzender der Biontech SE einer der weltweit führenden Impfstoffentwickler gegen Covid-19.


Die allermeisten Experten sind sich sicher, dass nach dem Sommer die vierte Coronawelle kommt. Was heißt das, müssen wir uns erneut auf starke Einschränkungen einstellen?

Die vierte Welle baut sich in einigen Ländern schon auf. Insgesamt sollte diese vierte Welle aber milder verlaufen, ohne die hohen Sterblichkeitsraten des letzten Winters. Zwar können sich auch Geimpfte anstecken, aber ihr Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf ist gering. Die Strategie muss sein, allen, die geimpft werden wollen, Impfstoff zur Verfügung zu stellen. Ob es dann wieder Einschränkungen gibt, muss die Politik entscheiden, aber ich gehe davon aus, dass die Geimpften ohne massive Einschränkungen in den Winter gehen können. Für alle anderen muss man Lösungen finden.

Worin besteht die große Herausforderung bei der Bereitstellung eines Impfstoffs für Kinder und Jugendliche?

Der Impfstoff ist derselbe wie bei Erwachsenen, aber er muss in anderen Dosen verabreicht werden. Erwachsene bekommen 30 Mikrogramm unseres Impfstoffs, kleine Kinder vielleicht nur drei Mikrogramm. Mit einer Dosis für Erwachsene könnte man gegebenenfalls zehn Kinder impfen. Die Impfstoffmenge ist nicht die Limitation. Es dauert noch etwas, bis die klinische Entwicklung, die Generierung von Daten, die Testungen und der regulatorische Prozess ausreichend vorangekommen sind. Wir haben bereits Daten vorgelegt für Jugendliche von zwölf bis 15 Jahren, die Ergebnisse der Studien für Sechs- bis Elfjährige werden wahrscheinlich im September vorliegen. Das bedeutet aber nicht, dass es dann sofort losgehen kann, denn zuerst müssen die Behörden die Daten sichten und über eine Zulassung entscheiden.

Und dann sind da noch die älteren Menschen, die im letzten Winter als Erste geimpft wurden und nun eine Auffrischung bräuchten. Zuletzt war zu lesen, dass mit Biontech Geimpfte vielleicht gar keine erneute Impfung benötigen.

Diese Meldung war etwas ungenau. Es gab eine Publikation in Nature, die darauf hingewiesen hat, dass bestimmte Immunzellen gebildet werden, die ein Leben lang in uns bleiben. Daraus wurde dann abgeleitet, dass die Impfung ein Leben lang hält. Diese Immunzellen sorgen dafür, dass der Körper bei einer Wiederauffrischung sehr schnell eine Gedächtnisimmunantwort anstößt. Der Körper weiß also, wie er regieren soll, weil er es schon einmal gemacht hat. Uns liegen Daten vor, die belegen, dass der Impfschutz über die Zeit abnimmt, man wird also wieder anfälliger für Infektionen. Daher könnten Auffrischungsimpfungen durchaus sinnvoll sein, entscheiden müssen das die Gesundheitsämter und Impfkommissionen auf Basis wissenschaftlich erhobener Daten. Bevor Auffrischungsimpfungen erfolgen sollten, wäre aus meiner Sicht aber wichtig, zuerst alle zu impfen, die geimpft werden wollen und dann von vorne zu beginnen – das wäre eine logische Herangehensweise.

Bei der Ursprungsvariante hieß es anfangs, dass 70 Prozent der Infizierten keine Symptome zeigen. Ist das bei der Delta-Variante ähnlich?

Bei der originären Variante war es so, dass etwa zwei Drittel der Jüngeren asymptomatisch waren, bei den Älteren nur etwa ein Drittel. Mir ist nicht bekannt, dass sich das bei der Delta-Variante anders darstellt, die Delta-Variante ist aber deutlich infektiöser. Das heißt, dass ein Infizierter die Viren im Schnitt auf sechs bis sieben Personen überträgt anstatt wie anfänglich auf drei.

Christian Drosten sagte kürzlich, dass 100 Prozent der Bevölkerung in den nächsten anderthalb Jahren unweigerlich immunisiert werden – entweder durch Impfung oder durch natürliche Infektion. Teilen Sie seine Auffassung?

Ich teile den Inhalt seiner Aussage im Kern, denn wenn man nicht vollkommen isoliert lebt, werden sich die meisten irgendwann anstecken. In anderthalb Jahren könnten wir eine Immunität von 95 bis 97 Prozent erreichen. Was er damit eigentlich sagt, ist: Du kannst dich entscheiden, ob du dich impfen lässt oder irgendwann mit hoher Wahrscheinlichkeit erkrankst.

Wie lange werden wir Impfstoffe gegen Coronaviren brauchen? Nur noch diese anderthalb Jahre oder doch viel länger? 

Da der Impfschutz mit der Zeit nachlässt, gibt es zwei Szenarien: Im ersten erklären Staaten, dass das Infektionsgeschehen nachrangig ist, so lange die Zahl der Intensivbetten ausreicht. Wir gehen davon aus, dass Impfungen doch eine recht lange Zeit vor schweren Krankheitsverläufen schützen. Wie lange das so ist, wissen wir noch nicht, hier sammeln wir Daten. Im zweiten Szenario ist das Ziel, Infektionen und Erkrankungen zu verhindern. Dazu ist es notwendig, dass Auffrischungsimpfungen regelmäßiger stattfinden. Das könnte etwa eine Auffrischungsimpfung einmal pro Jahr sein, wofür der Impfstoff auch auf die aktuellen Varianten angepasst ist.  

Erkennen Sie eine Impfmüdigkeit in der Bevölkerung? Immerhin gibt es Anzeichen für eine sommerliche Sorglosigkeit und viele Menschen lassen ihre Impftermine ungenutzt verstreichen.

Nein, eigentlich nicht. Aus zwei Gründen: Je mehr Menschen geimpft sind, desto schwieriger ist es, die Ungeimpften zu identifizieren und zu mobilisieren. Das ist also ein mathematisches Phänomen. Der zweite Punkt ist etwas Alltagsplanung: Viele Menschen fragen sich, ob sie sich vor oder nach dem Urlaub die Zweitimpfung holen sollen. Wollen sie im Urlaub immun sein oder soll die Impfung im Winter länger halten? Ich erkenne hier keine Impfmüdigkeit.

Sie sagten vor etwa einem Jahr in einem Interview: „Kooperation ist ein absoluter Schlüssel für diese globale Herausforderung. Es gibt gar keine Diskussion, ob eine Impfung nur für China, Deutschland oder Amerika zur Verfügung steht“. Was halten Sie von der Forderung, Ihr Impfstoffrezept an Drittweltländer zu geben?

Das Rezept selbst ist nicht das Problem, die Inhaltstoffe stehen in der Packungsbeilage. Entscheidend ist, dass die Herstellung sehr komplex ist. Selbst in einem sehr industrieerfahrenen Umfeld nimmt dieser Prozess etwa ein Jahr in Anspruch. Darum muss es nun zunächst darum gehen, dass wir den Impfstoff aus den Produktionsknoten zur Verfügung stellen, die derzeit auf Maximalleistung laufen. Das wird auch funktionieren. Wir werden in den nächsten 18 Monaten insgesamt zwei Milliarden Dosen in Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen allein aus unserem Produktionsnetzwerk mit Pfizer versenden. Außerdem wollen wir unsere Technologie zu Partnern transferieren, denen wir vertrauen können, aber das braucht seine Zeit. Die Produktion muss von regulatorischen Behörden freigegeben werden. Es braucht etwa 100 analytische Tests, um einen Impfstoff freizugeben, um seine Sicherheit zuverlässig zu gewährleisten. Und die Qualitätsstandards sollen überall auf der Welt gleichermaßen eingehalten werden.

Wie viele verschiedene Coronavarianten sind Ihnen derzeit bekannt und mit wie vielen weiteren gefährlichen Mutanten rechnen Sie?

Es gibt unzählige Mutanten. Jeder, der das Virus in sich trägt, trägt Hunderttausende Mutanten in seinem Körper, denn es mutiert ständig. Wir unterscheiden Varianten, die wir mehr oder weniger ignorieren können, die wir beobachten müssen und die wir sehr ernst nehmen müssen. Wir haben bioinformatische Programmansätze, die uns Daten liefern und verraten, wo welche Varianten auftauchen. So wussten wir schon sehr früh von der Delta-Variante.

Schon vor Ausbruch der Coronapandemie wurde mit mRNA an einer Impfung gegen Krebs geforscht. Mittels mRNA sollen Baupläne solcher Proteine in den Körper gebracht werden, die typisch sind für Krebszellen. So soll das Immunsystem lernen, die kranken Zellen frühzeitig zu erkennen und zu vernichten. Werden sie weiterhin auf diesem Gebiet forschen und wie bewerten Sie die Erfolgsaussichten?

Tun wir schon, ganz intensiv. Gegen Krebs, gegen Autoimmunkrankheiten, gegen andere Infektionskrankheiten. Bei Krebs ist es aber kein Durchbruch in dem Sinne, dass man plötzlich die Wand durchbricht und die Lösung hat, sondern eher ein jahrelanges Graben, bis der Tunnel durch das Gebirge gebaut ist. Wir sind da gut unterwegs, haben in den letzten Jahren ermutigende Daten sammeln können und sogar schon Phase-zwei-Studien angefangen. Unser Plan ist, in einigen Jahren die ersten Krebsimpfstoffe zur Zulassung einzureichen.

Was bedeutet Ihnen Rotary?

Es entspricht unserem Selbstverständnis: sei nützlich. Wir haben Biontech mit dem Ziel gegründet, mit unseren Innovationen die Gesundheit vieler Patienten zu verbessern. Und hieran werden wir gemeinschaftlich arbeiten, bis wir am Ziel sind.

Das Gespräch führte Björn Lange.