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Aktuell

Wo ist die Angst?

Aktuell - Wo ist die Angst?
© Thomas Fuchs

Angesichts der drohenden Rezession ist es in Deutschland bemerkenswert ruhig. Noch.

01.11.2022

Manche sagen, dass Angst kein guter Ratgeber ist, andere wieder das Gegenteil. Solche Diskussionen sind nicht sehr zielführend. Sinnvoller scheint es mir, mit Sigmund Freud drei große menschliche Ängste zu unterscheiden: die Realangst, die Gewissensangst und die neurotische Angst. Freud sprach von den "drei gestrengen Herren" der Realität, des Gewissens und unseres triebhaften Es, zwischen denen sich das Ich mit seinen zahlreichen Bewältigungs-, Abwehr- und Verleugnungsmechanismen um die Reduktion von Angst und um die Erhaltung eines Minimums von Lebensfreude bemüht.

Fangen wir mit der Gewissensangst an. Wenn Sie zum Beispiel feststellen, dass Sie vergessen haben, eine kranke Verwandte, die vielleicht auch noch Geburtstag hatte, im Krankenhaus zu besuchen oder sich bei ihr zu melden, wird es Ihnen vermutlich schlecht gehen. Das Ich wird plötzlich hochaktiv, versucht vielleicht den Besuch für eigentlich unwichtig zu erklären, der betroffenen Person übertriebene Erwartungen zu unterstellen, für sich selbst triftige Entschuldigungsgründe zu entwickeln und so weiter. Nur völlig verwahrloste und narzisstische Menschen haben in einem solchen oder ähnlichen Fall kein echtes Problem. Trump konnte öffentlich kranke und sterbende Menschen verhöhnen. Wir können natürlich auch versuchen, die gestörte Balance in der Beziehung zu unserem Gewissen mit einer ehrlichen Entschuldigung und einer tätigen Wiedergutmachung zurückzugewinnen. In den letzten Jahren ist es üblich geworden, Menschen, die uns sehr deutlich und mit einer gewissen Penetranz an unsere Hilfsverpflichtung gegenüber den vergessenen Personen und Gruppen in unserer Gesellschaft erinnern – Arme, Kranke, Geflüchtete, Kriegsopfer – als "Gutmenschen" zu belächeln und abzuwerten. Die Schimpfenden versuchen auf diese Weise, in der Welt draußen die eigenen Gewissensregungen zu bekämpfen und sie loszuwerden.

Die Repräsentanten des Gewissens wirken in unserer Welt des Konsumismus wie lästige Spaßbremsen, die man besser auf Distanz hält. Allenfalls in der Vorweihnachtszeit dürfen sie auftreten. Die anwachsende Not der Flüchtlinge aus der Ukraine kann man sich mit der halblustigen Rede von den "Sozialtouristen" (Friedrich Merz) vom Leibe halten. Eine noch radikalere Rhetorik gab es in der Flüchtlingskrise 2015/16.

Der von demagogischen Aktivisten und in den neuen Medien geschürte Hass auf hilfsbereite "Gutmenschen" und Gewissens-Repräsentanten kann sich ins Mörderische steigern. Am 1. Juni 2019 traf es in Deutschland den liberalen CDU-Politiker Walter Lübcke, der Verständnis für Flüchtlinge gezeigt hatte, am 29. Juni 2022 in Österreich die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die in der Corona-Pandemie als unermüdliche Helferin im Einsatz und zur Zielscheibe von Impfgegnern geworden war.

Nun zur Realangst. Hier handelt sich um die Angst vor realen Gefahrenquellen in der materiellen und sozialen Realität, die uns umgibt. Diese Angst ist buchstäblich lebensrettend. Es geht hier um harte Fakten, die bedrohlich sind. Oft sind diese gut sichtbar, wie eine verkehrsreiche Straße, ein Brandherd oder ein bissiger Hund. Aber in vielen Fällen liegen die Fakten nicht offen zu Tage, sondern sind verdeckt – wie Landminen unter einer harmlos erscheinenden Oberfläche. Zur angemessenen Wahrnehmung und Bewältigung der Realangst brauchen wir Experten. Darauf hatte schon Freud hingewiesen. Heute treten im Falle einer angstmachenden Krise gleich Dutzende von medizinischen, ökonomischen, ökologischen und militärischen Experten auf, die teilweise auch noch unterschiedlicher Meinung sind. Von diesen wird aber zu Recht erwartet, dass sie sich mit wissenschaftlichen Methoden der Beweisführung auskennen und sich einem Faktencheck stellen können. Die Debatten der Experten in den meistens deutschsprachigen TV-Talk-Shows über die Pandemie und über die Folgen von Putins Krieg in den letzten zweieinhalb Jahren haben viele überfordert. Aber sie waren (anders als im US-Sender Fox und bei Servus TV) zumeist sachbezogen und frei von neurotischen Fantasien und verschwörungstheoretischen Hirngespinsten. Diese durften sich dafür auf der Straße und in den neuen sozialen Medien austoben. Trump entwertete den epidemiologischen Experten Fauci und seine Kollegen kurzerhand als "Idioten".

Der beliebteste Bewältigungsmechanismus gegenüber der Realangst ist die Verleugnung. "Wer seine Post nicht mehr öffnet, weil er verzweifelt versucht, das finanzielle Desaster zu verleugnen, auf das er unaufhaltsam zusteuert, wird über kurz oder lang mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft machen." (Hans-Jürgen Wirth) Ähnlich sind wir mit den schon seit Jahrzehnten immer wieder zugestellten Nachrichten über den Klimawandel und mit den vorhandenen Informationen über Putins grausame Eroberungspolitik in Tschetschenien, Syrien und anderswo umgegangen. Es gibt noch weitere problematische Bewältigungsmechanismen von Realangst. Bei der Normalisierung des Alltags inmitten einer Gefahrensituation kann das Weiterführen von bis dahin vertrauten und beliebten Routinepraktiken (Frühstücken wie immer, Einkaufen in den bekannten Geschäften, Einschalten der TV-Lieblingssendungen) einerseits Beruhigung und Widerstandskraft vermitteln. Andererseits kann dies dazu führen, dass der rettende Musterwechsel angesichts einer Katastrophe zu spät vorgenommen wird. Beim Anklammern an das business as usual und an ein vertrautes Geschäftsmodell im Wirtschaftsleben ist es ähnlich. Das Festhalten gibt Sicherheit, auch wenn schon klar ist, dass die Basis für das Geschäftsmodell bereits zerfällt. Die Trägheit ist gefährlich. Dazu kommt noch ein Last-Minute-Konsumismus, der ebenfalls der Angstabwehr dient. Man bucht noch die alljährliche Urlaubsreise, vielleicht mit dem Flugzeug, kauft Möbel, die man sich schon länger gewünscht hat und gibt Geld für gutes Essen und Trinken aus. Die Wirtschaft brummt. Von der Krise ist noch nicht viel zu spüren.

Die Realangst ist mit unserem Egoismus assoziiert. Niemand will sich infizieren, hungern oder im Kalten sitzen. Aber am besten ist es für eine Gesellschaft, wenn sich die Realangst und die Gewissensangst miteinander verbinden. Man denke an die ersten Wochen der Coronapandemie im Frühjahr 2020. Man hatte eine realistische Angst, sich zu infizieren, war aber auch in Sorge um Verwandte, Nachbarn und um das Krankenhaus- und Supermarkt-Personal. Bei älteren und kranken Personen standen plötzlich Leute mit gefüllten Einkauftaschen vor der Tür, die man zuvor kaum gekannt hatte. Erst in den Monaten danach drangen die neurotisch-paranoiden Fantasien über Corona in die Gesellschaft ein und trugen zur gesellschaftlichen Spaltung bei. Vielleicht können wir auch im Umgang mit dem gegenwärtigen Krieg versuchen, zwischen der egoistischen Realangst und einer Gewissensverpflichtung gegenüber den Opfern einen produktiven Ausgleich zu finden, statt die eine Orientierung gegen die andere auszuspielen.

Jetzt kommen wir zur neurotischen Angst. Sie bezieht sich auf unser Innenleben, den "dunklen, unzugänglichen Teil der Persönlichkeit" (Freud). In diesem sind jede Menge von egomanischen, infantilen und sexorientierten Regungen und Fantasien, inklusive Rachsucht und Neid, aktiv, welche nur selten und meistens verkleidet in unserem Bewusstsein auftauchen. Viele dieser Regungen sind gesellschaftlich verboten. Das innere Chaos macht uns Angst, wird durch zahlreiche Abwehrmechanismen mühsam niedergehalten und besonders gerne auf andere projiziert, von denen wir behaupten, dass sie hoch aggressiv, herrschsüchtig, sexuell gierig oder pervers sind und deshalb verfolgt werden müssen. Die Nazis haben sich die Juden so vorgestellt. Auch das Bild der Flüchtlinge kann so ähnlich konstruiert werden. Mit einer realen Bedrohung haben die Fantasien nicht viel zu tun. Sie sind ein Hirngespinst. Heute sind es in allen autoritären Staaten die Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die vom heterosexuellen Standard-Ideal abweicht, und die emanzipierten Frauen, die als Sündenböcke und Verursacherinnen von sozialen Missständen und allgemeiner Unzufriedenheit in der Gesellschaft herhalten müssen. So meinte der orthodoxe russische Patriarch Kyrill, dass der Kriegsherr Putin gebraucht würde, um Gay-Paraden in Moskau zu verhindern. Auch feministische Frauen und Gruppen wie Pussy Riot erscheinen als ein lebender Alptraum, der außer Landes geschafft werden muss. Ein Sammelname für das, was bei den alten und neuen männlichen Autokraten Angst auslöst, ist die in den liberalen Demokratien angeblich vorherrschende "Dekadenz". In ihrem Kampf gegen diese Chimäre und für die Rettung der patriarchischen Ordnung haben Putin und sein Hofphilosoph Alexander Dugin derzeit eine breite Unterstützung: bei den frauenfeindlichen Islamisten im Iran, in Afghanistan und in den meisten arabischen Ländern, bei den Rechtspopulisten in Europa, bei vielen Republikanern in den USA und bei den rechten Kräften in Brasilien und manchen afrikanischen Ländern.

Klaus Ottomeyer

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© Psychosozial-Verlag

Klaus Ottomeyer ist Sozialpsychologe und Psychotherapeut. Er war bis 2013 Professor an der Universität Klagenfurt und arbeitet derzeit in einer Trauma-Beratungsstelle für Flüchtlinge und Familien von NS-Opfern.


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