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Wissenswert

»Impfen bedeutet auch Gemeinschaftsschutz«

Uta Meyding-Lamadé10.12.2012

Die Poliomyelitis wird durch Polioviren Typ1–3 ausgelöst, die zur Gruppe der Enteroviren gehören. Die Übertragung erfolgt direkt fäkal-oral (Schmutz- und Schmier­infektion) oder über verunreinigte Lebensmittel und Wasser, wobei der Mensch das Erregerreservoir darstellt. Die Viren werden oral aufgenommen und vermehren sich im lymphatischen Gewebe des Nasenrachenraums und später vor allem in der Darmwand. Danach gelangen sie auf dem Blutweg (Virämie) zu ihrem „Zielorgan“ und es kommt zur Organmanifestation. Die Inkubationszeit für Polioviren beträgt meist drei bis 14 Tage, 95 Prozent der Poliovirusinfektionen verlaufen allerdings asymptomatisch. Von den klinisch symptomatischen Patienten haben viele nur eine gutartige Hirnhautentzündung mit allgemeinen grippeähnlichen Krankheitssymptomen. Bei einem kleinen Teil der Infizierten (< 1 Prozent) kommt es zu einem Befall des zentralen Nervensystems. Das Virus befällt bevorzugt die motorischen Hirnnervenkerne und die motorischen Zellgebiete des Rückenmarks, was zu den charakteristischen schlaffen Lähmungen führt. Meist sind die Lähmungen und der Muskelschwund rumpfnah und asymmetrisch an Armen und Beinen verteilt. Bei schweren Verläufen sind auch Atem- sowie Schluckmuskulatur betroffen. Eine spezifische Therapie gibt es nicht. Wenn die akute Infektion teilweise mithilfe intensivmedizinischer Maßnahmen überstanden ist, erholen sich die Patienten recht gut. Lähmungserscheinungen, die sich innerhalb eines halben Jahres nicht zurückgebildet haben, sind meist bleibend. In einzelnen Fällen kommt es mit einer Latenz von Jahren bis zu Jahrzehnten zu einem erneuten Krankheitsprozess mit fortschreitenden Lähmungs­erscheinungen in den bereits betroffenen Muskeln (Postpoliosyndrom).

Immunisierung nötig

Vor 50 Jahren wurde in Deutschland die Polioimpfung mit dem von Sabin entwickelten Lebendimpfstoff (orale Poliovakzine, OPV) eingeführt. Die Kampagne „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam“ zeigte schnell Erfolg. Die Zahl der Erkrankten sank von mehr als 4600 Patienten im Jahr 1961 auf weniger als 300 im Folgejahr. Seit 1990 wurden in Deutschland keine Wildpolioviren mehr beschrieben, seitdem traten allerdings immer noch vereinzelt impfassoziierte Poliomyelitisfälle auf. Aus diesem Grund wurde 1998 von der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Empfehlung für die Schluckimpfung mit Lebend­impfstoff aufgehoben und die ausschließliche Verabreichung von inaktivierten Impfstoffen (IPV) propagiert. Angeraten wird eine Grundimmunisierung im Säuglings- und Kleinkindalter, die je nach Hersteller und Kombination mit anderen Impfstoffen im Impfschema variiert. Danach sollte im Jugendalter (9–17 Jahre) eine Auffrischung durchgeführt werden. Erwachsene erhalten ebenfalls eine Auffrischung vor Reisen in Endemiegebiete oder bei beruflicher Exposition, wenn die letzte Impfung mehr als zehn Jahre zurückliegt. Die Kosten werden von den Krankenkassen über­nommen.

Überwachung notwendig

Europa konnte 2002 nach Amerika (1994) und dem Westpazifik (2000) als frei von Poliomyelitis erklärt werden. Das Zertifikat bietet natürlich keine Sicherheit für potenzielle Neuerkrankungen oder Einschleppungen. Auch in poliofreien Regionen sind fortlaufende Überwachungsmaßnahmen und die Beibehaltung einer hohen Impfdisziplin notwendig. Gerade in Ländern mit erfolgreich „weggeimpften“ Krankheiten kann sich eine Impfmüdigkeit entwickeln. In Deutschland stehen über 90 Prozent der Eltern den Impfungen positiv gegenüber. Fast alle Schulkinder (rund 95 Prozent) sind bei den Eingangsuntersuchungen gegen Diphtherie, Tetanus und Polio geimpft. Allerdings bestehen bei den zweiten Impfdurchgängen für Masern, Mumps, Röteln und Keuchhusten sowie bei den Auffrischungsimpfungen Defizite. Gerade die Erwachsenen zeigen ein eingeschränktes Bewusstsein für den eigenen Impfschutz. Impfen bedeutet aber letztlich nicht nur Individual-, sondern auch Gemeinschaftsschutz. Eine bestimmte Impfrate ist erforderlich, damit eine sogenannte Herdenimmunität entsteht, durch die Krankheiten ganz ausgelöscht werden können.

Zur kontinuierlichen Überwachung der Poliosituation in Deutschland werden seit 2010 durch die Nationale Kommission für Polioeradikation am Robert Koch-Institut jährlich circa 2500 Proben mit Verdacht auf virale Hirnhautentzündung oder akuter schlaffer Lähmung untersucht. Dabei konnten glücklicherweise bisher keine Polioviren nachgewiesen werden.

Die aktuellen Anstrengungen der WHO konzentrieren sich auf die letzten drei verbleibenden Endemiegebiete: Nigeria, Afghanistan und Pakistan. Dies gestaltet sich jedoch schwierig u.?a. durch schlechte medizinische Infrastruktur, die instabile politische Situation oder kriegerische Konflikte. In einigen Teilen von Pakistan wurden die Impfaktionen ausgesetzt, nachdem es im Juli 2012 zu einem Angriff auf die WHO-Mitarbeiter gekommen war. Es mangelt insgesamt an Unterstützung vor Ort, sodass nicht alle Kinder von den Impfteams erreicht werden können.

Mit Ausdauer, starkem politischen Willen und Fortführung der gezielten Impfkampagnen kann mit anhaltendem finanziellem Engagement das Ziel einer poliofreien Welt in naher Zukunft erreicht werden. Lassen wir diese historische Chance nicht ungenutzt!

Uta Meyding-Lamadé
Prof. Dr. med. Uta Meyding-Lamadé ist Chefärztin der Klinik für Neurologie am Krankenhaus Nordwest in Frankfurt/M. und Mitglied der Nationalen Impfkommission für die Polioeradikation in Deutschland am Robert Koch-Institut. krankenhaus-nordwest.de