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Buch der Woche

Daniel Galera: «Flut»

Brasilien und seine Literatur stehen im Fokus der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt am Main. Ein Roman, der vorab schon viel Beachtung bekam, ist "Flut" von Daniel Galera.

02.10.2013

Er sieht eine knollige Nase, glänzend und porös wie eine Mandarinenschale. Ein seltsam jugendlicher Mund zwischen Kinn und Wangen, die von feinen Falten durchzogen sind, die Haut ein wenig schlaff. Frisch rasiert. Große Ohren mit noch größeren Ohrläppchen, die aussehen, als würden sie von ihrem eigenen Gewicht nach unten gezogen. Augen in der Farbe von wässrigem Kaffee, ein lasziver, entspannter Blick. Drei tiefe waagerechte Furchen auf der Stirn. Gelb liche Zähne. Blondes volles Haar, das sich in einer einzigen Welle über den Kopf legt und von dort in den Nacken fällt. Sein Blick erfasst zwischen zwei Atemzügen alle vier Quadranten des Gesichts, und er hätte schwören können, diesen Menschen noch nie in seinem Leben gesehen zu haben, aber er weiß, dass es sein Vater ist, weil sonst niemand in diesem Haus hier auf dem Land bei Viamão wohnt und weil rechts neben dem Mann im Sessel die bläulich schimmernde Hündin liegt, die seit Jahren an seiner Seite ist.
Was machst du für ein Gesicht?
Der Vater deutet ein Lächeln an, der Witz ist alt, die Antwort immer die gleiche.
Dasselbe wie immer.
Jetzt fällt ihm seine Kleidung auf, die dunkelgraue Anzughose und das hellblaue Hemd mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln, Schweißflecken unter den Armen und über dem Bauch, die Sandalen, die wirken, als würde er sie nicht freiwillig tragen, als hätte ihn nur die Hitze davon abgehalten, Lederschuhe anzuziehen, und dann noch die Flasche französischen Cognacs und der Revolver auf dem kleinen Tisch neben dem verstellbaren Sessel
Setz dich, sagt sein Vater und deutet mit dem Kopf auf das weiße Zweiersofa aus Kunstleder.
Es ist Anfang Februar, und unabhängig davon, was die Thermometer sagen, beträgt die gefühlte Temperatur in Porto Alegre und Umgebung über vierzig Grad. Bei seiner Ankunft war ihm aufgefallen, dass die Blätter an den beiden hohen Bäumen vor dem Haus sich kein bisschen bewegten. Als er das letzte Mal hier war, noch im Frühling, hatten die gelb und rot blühenden Kronen im kühlen Wind gezittert. Die Weinstöcke links vom Haus hingen voller kleiner Trauben. Er stellt sich vor, wie sie in den Monaten der Dürre und Hitze ihre Süße ausschwitzten. Auf dem Grundstück hat sich seitdem nichts verändert, genauso wenig wie die Male davor, ein von Gras bewachsenes ebenes Rechteck an einer unbefes tigten Straße, mit dem noch nie benutzten kleinen Fußballfeld, das nervige Kläffen des anderen Hundes auf der Straße, die offen stehende Haustür.
Wo ist der Pick-up?
Verkauft.
Warum liegt da ein Revolver auf dem Tisch?
Das ist eine Pistole.
Warum liegt da eine Pistole auf dem Tisch?
Das Knattern eines Motorrads vermischt sich mit dem Bellen des Hundes, heiser wie das Röcheln eines Kettenrauchers. Der Vater runzelt die Stirn. Er kann den lästigen Straßenköter nicht ausstehen und behält ihn nur aus Verantwortungsbewusstsein. Du kannst ein Kind sitzenlassen, einen Bruder, einen Vater und mit Sicherheit eine Frau, all das kann unter gewissen Umständen gerechtfertigt sein, aber nicht einen Hund, um den du dich eine Zeit lang gekümmert hast, dazu hast du nicht das Recht, hatte sein Vater einmal zu ihm gesagt, als er noch ein Kind war und die Familie in einem Haus in Ipanema wohnte, in dem sie ein halbes Dutzend Hunde gehabt hatten. Hunde geben einen Teil ihres Instinkts auf, sobald sie mit Menschen zusammenleben, und erlangen ihn danach niemals ganz zurück. Ein treuer Hund ist ein verkrüppeltes Tier. Diesen Pakt können wir nicht lösen. Der Hund kann es, aber das passiert sehr selten. Der Mensch hat nicht das Recht dazu, sagte mein Vater. Deshalb mussten sie sein trockenes Husten ertragen, er und Beta, die wirklich bewundernswerte alte Hündin an seiner Seite, ein Australian Shepherd, intelligent und aufmerksam, kräftig und zäh wie ein Wildschwein. Was macht das Leben, mein Sohn? Was ist mit dem Revolver? Der Pistole. Du siehst müde aus. Ja, bin ich auch. Ich trainiere jemanden für den Ironman. Einen Arzt. Der Typ ist gut. Ein großartiger Schwimmer, und auch sonst schlägt er sich nicht schlecht. Sein Fahrrad wiegt sieben Kilo mit Reifen, die Dinger kosten an die fünfzehntausend Dollar. Er will nächstes Jahr am Wettkampf teilnehmen und sich spätestens in drei Jahren für die Weltmeisterschaft qualifizieren. Ich schätze, das schafft er.  Nur, dass der Kerl eine totale Nervensäge ist. Ich hab wenig geschlafen in letzter Zeit, aber es lohnt sich, er zahlt gut. Außerdem gebe ich weiter Schwimmunterricht. Neulich hab ich es endlich geschafft, mein Auto zu reparieren. Sieht aus wie neu. Hat mich zwei Tausender gekostet. Und letzten Monat war ich eine Woche mit Antônia am Strand in Santa Marta. Die Rothaarige. Ach, stimmt, die hast du nicht mehr kennengelernt. Zu spät, wir haben uns danach getrennt. Ich glaube, das war’s schon, Papa. Alles andere ist wie immer. Warum liegt die Pistole da?
Wie war die Rothaarige? Deinen Geschmack hast du von mir geerbt.
Papa.
Ich sag dir gleich, warum die Pistole da liegt, okay? Mann, tchê, merkst du nicht, dass ich mich erst mal ein bisschen unterhalten will?
Okay.
Scheiße.
Okay, Entschuldigung.
Willst du ein Bier?
Wenn du auch eins trinkst.
Das werde ich.
Sein Vater hievt sich mühsam aus dem weichen Sessel. Die Haut an seinen Armen und seinem Hals hat im Laufe der letzten Jahre einen rötlichen Ton angenommen und insgesamt etwas Hühnerhaftes. Als er und sein älterer Bruder Jugendliche waren, spielte er hin und wieder Fußball mit ihnen, und bis Anfang vierzig ging er phasenweise ins Fitnessstudio, aber seitdem, als hätte es etwas mit dem wachsenden Interesse seines Jüngsten für diverse Sportarten zu tun, hat er beharrliches Sitzfleisch entwickelt. Er hatte immer gegessen und getrunken wie ein Pferd, seit dem sechzehnten Lebensjahr Zigaretten und Zigarren geraucht und Kokain und Halluzinogene genommen, so dass es ihm mittlerweile nicht mehr ganz leichtfällt, seine müden Knochen durch die Gegend zu schleppen. Auf dem Weg in die Küche kommt er durch den Flur, wo an den Wänden etliche Preise hängen, gerahmte Urkunden und Schilder aus gebürstetem Metall mit Datums - Angaben aus den achtziger Jahren, dem Höhepunkt seiner Karriere als Werbetexter. Auf der Mahagoniplatte eines Gläserschranks im Wohnzimmer stehen zwei weitere Trophäen. Beta folgt ihm zum Kühlschrank. Die Hündin wirkt genauso alt wie ihr Besitzer, ein lebendes Totem, das fast geräuschlos hinter ihm herläuft. Die Sinnlosigkeit dieses Sonntagnachmittags und der Anblick seines Vaters, der schwerfällig an den Erinnerungen an eine lang zurückliegende berufliche Glanzzeit vorbeitrottet, den treuen Hund im Schlepptau, erwecken in ihm eine so unerklärliche wie vertraute Betroffenheit, ein Gefühl, das ihn manchmal überkommt, wenn er sieht, wie jemand verzweifelt versucht, eine Entscheidung zu fällen oder irgendein unbedeutendes Problem zu lösen, als hinge das ganze l eben davon ab. Sein Vater ist am Rande seiner Kräfte, kurz davor aufzugeben. Die Kühlschranktür öffnet sich mit einem ächzenden Schmatzen, er hört Glas klirren, und Sekunden später sind sein Vater und die Hündin zurück, viel unbeschwerter als zuvor.
Santa Marta, das ist doch bei Laguna, oder?
Genau.
Sie drehen die Deckel der Bierflaschen ab, die Kohlensäure steigt mit einem verächtlichen Zischen aus den Flaschenhälsen, sie stoßen auf nichts Bestimmtes an.
Ich bereue es, nicht öfter nach Santa Catarina an die Küste gefahren zu sein. In den Siebzigern haben das alle gemacht. Deine Mutter auch, bevor sie mich kennenlernte. Ich hab sie dann mit in den Süden genommen, nach Uruguay und so. Die Strände in Santa Catarina waren mir irgendwie unheimlich. Mein Vater ist in der Nähe von Laguna ums Leben gekommen. In Garopaba.
Es dauert einen Augenblick, bis ihm bewusst wird, dass die Rede von seinem Großvater ist, der starb, bevor er auf die Welt kam.
Mein Opa? Du hast immer gesagt, du wüsstest nicht, wie er gestorben ist.
Hab ich das?
Mehrmals. Weder wie noch wo er gestorben ist.
Hm. Kann sein. Wahrscheinlich hab ich das wirklich gesagt.
Obwohl es gar nicht stimmte? Sein Vater überlegt kurz, bevor er antwortet. Es sieht nicht aus, als wolle er Zeit gewinnen, er denkt wirklich nach, vielleicht gräbt er in der Erinnerung oder sucht nur nach Worten.
Nein, es stimmte nicht. Ich weiß, wo er gestorben ist und auch mehr oder weniger wie. Es war in Garopaba. Deswegen hatte ich auch keine große Lust, in die Gegend zu fahren.
Wann?
Das war 1969. Den Hof in Taquara hat er 1966 verlassen. In Garopaba muss er zirka ein Jahr später gelandet sein, dann hat er zwei Jahre lang dort gelebt, bis sie ihn umgebracht haben.
Ein kurzes Lachen entweicht ihm aus Nase und Mundwinkel. Sein Vater lächelt ihn an. Was soll das heißen, Papa? Sie haben ihn umgebracht?
Du lächelst genau wie dein Großvater, weißt du das?

Quelle: Daniel Galera: Flut.Aus dem brasilinaischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 425 Seiten, 22,95 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 13 bis 18.

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