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Das unbekannte Genie

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Verrückt, leidenschaftlich, wild: ein großes Wandgraffiti in Beethovens Geburtsstadt Bonn © Andreas Rentz/Getty Images

Über Sinn und Unsinn großer Jubiläen mag man streiten. Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag ist jedoch ein exzellenter Anlass, genauer hinzuschauen. Jenseits gängiger Heldenmythen kann man einen Komponisten entdecken, der wie kein anderer die Musikwelt revolutionierte und auch auf dem gesellschaftlichen Parkett alle Regeln brach.

Christine Eichel01.12.2020

Als im Jahre 1825 zwei Gendarmen nahe Wien einen Landstreicher verhaften, staunen sie nicht schlecht: Der abgerissene Mann mit der wirren Mähne behauptet allen Ernstes, eine Berühmtheit zu sein. Erst ein herbeigerufener Musikdirektor kann das Missverständnis aufklären. Niemand Geringerem als Ludwig van Beethoven wurden Handschellen angelegt – der naturliebende Komponist hatte sich bei einem Spaziergang schlicht verlaufen. Äußerst zerknirscht und unter vielen Entschuldigungen entlässt man Beethoven noch am selben Abend aus der Haft.

In den kunstsinnigen Kreisen Wiens wundert sich niemand über diesen kuriosen Vorfall, kennt man Beethoven doch bereits als Enfant terrible. Seit er 1792 in die Donaumetropole kam und sein Publikum mit Klavierimprovisationen zu Begeisterungsstürmen hinriss, führt er sich wie ein Rockstar heutiger Tage auf: wild, ungepflegt, provokativ. Während Haydn und Mozart noch gepuderte Perücken und elegante höfische Kleidung trugen, erscheint Beethoven demonstrativ nachlässig gewandet und mit ungekämmtem Haar in den adeligen Salons. Auch seine Umgangsformen lassen zu wünschen übrig. Mit bloßen Händen greift er in die Zuckerdose, schockiert Freund und Feind mit exzentrischen Launen und scheut sich nicht, selbst wichtige Mäzene vor den Kopf zu stoßen: „Für solche Schweine spiele ich nicht!“, ruft er aus, als sich jemand während seines Klavierspiels unterhält.

Musik als Medium des Fortschritts

Woher nimmt er dieses Selbstbewusstsein? Als glühender Anhänger der Französischen Revolution verachtet Beethoven die Ständegesellschaft und damit auch die höfische Etikette. Hinzu kommt ein neuartiges Selbstverständnis als Künstler. Beethoven will kein Domestik mehr sein, der musikalische Kulissen fürs noble

Divertissement anfertigt. Genauso wenig versteht er sich als „Tonsetzer“, damals ein Synonym für solides Handwerk. Er ist der erste Komponist, den eine höhere Mission beflügelt, weshalb er auf den Titel „Tonkünstler“ besteht. Mit diesem neuen Begriff verknüpft er einen nie dagewesenen Anspruch: Wie Philosophen, Schriftsteller und Bildende Künstler will er dazu beitragen, die Menschheit vom Elend zu erlösen. Im Geist der Aufklärung erzogen, betrachtet er sein Werk als Medium des Fortschritts – und sich selbst als geistige Elite. Wozu also noch Demutsgesten zeigen?

Musik als Menschwerdung und Erziehungsprojekt, das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, zumal im konservativen Wien. Eine Anstellung als Hofkompositeur oder Kapellmeister kommt für Beethoven daher nicht in Frage. Er braucht seine Freiheit, und dafür geht er hohe Risiken ein. Mehr schlecht als recht schlägt er sich mit Auftragskompositionen durch, darüber hinaus feilscht er mit Verlagen um Druckhonorare. Manchmal reicht seine Barschaft kaum für die Miete. Einige Gönner zahlen ihm schließlich eine jährliche Apanage, doch auch darauf ist kein Verlass: Nach einer Prügelei mit dem Fürsten Lichnowsky dreht der düpierte Adelige kurzerhand den Geldhahn zu. Und Beethoven? Zertrümmert zunächst eine Büste des Kontrahenten, danach schreibt er ihm einen kecken Brief: „Fürsten wird es noch tausende geben, einen Beethoven gibt es nur einmal.“ Spätestens jetzt ist klar: Unterwerfung ist keine Option für diesen ungebärdigen Komponisten.

Frei von Konventionen

Seine hart errungene äußere Unabhängigkeit korrespondiert mit einer nie dagewesenen künstlerischen Freiheit. Zwar adaptiert Beethoven mühelos die musikalischen Stile seiner Zeit und studiert fast ein Leben lang die Prinzipien des Kontrapunkts, dennoch setzt er sich immer wieder über gängige Regeln hinweg. Mozarts Musik sei lediglich ein Versuch gewesen, die Konvention zu überlisten, so Th. W. Adorno, erst Beethoven habe es gewagt, so zu komponieren, wie er wollte. In der Tat: Bei Beethoven wird die Musik persönlicher, intimer. Ein Epochenstil ist kaum mehr auszumachen, stattdessen immer neue Gratwanderungen im Terrain individueller Ausdrucksformen.

Das Publikum ist entzückt von der ungewohnt emotionalen Musiksprache. So kann es durchaus passieren, dass Damen in Ohnmacht fallen oder gestandene Herren verstohlen schluchzen. Besonders der Hang zu starken Kontrasten und eruptiven Passagen erschüttert die Zuhörer. Bei den Sinfonien mit ihrem Überwältigungspathos regt sich aber auch Kritik. Zuweilen brechen im Konzertsaal sogar Tumulte aus. Manche Kritiker sind ratlos, weil keine gewohnten Formen mehr auszumachen sind; andere sprechen von einem „fürchterlichen Krach“, Heinrich Heine gar von einer „Vernichtung der Natur“. Ganz so nonchalant geht Beethoven keineswegs darüber hinweg. Auch wenn er missliebige Kritiker schon mal als „Rindviehe“ beschimpft, möchte er verstanden werden, musikalisch wie geistig. Anlässlich seiner letzten Sinfonie, der Neunten, überwindet er sich deshalb nach langem Ringen dazu, Schillers „Ode an die Freude“ zu vertonen, als Chiffre für Befreiung und Erlösung. Das ist seine Botschaft, und die soll gehört werden.

Doch wer war der Mensch Beethoven? Kaum jemand spricht heute über seine derben Scherze, sein notorisches Querulantentum oder über die Schlitzohrigkeit, mit der er manche Werke gleich mehrfach verkaufte. Wer weiß schon, dass er selig verzweifelte Liebesbriefe im Werther-Tonfall verfasste, aber nicht multiplizieren konnte? Dass er in Wien fast 70 Mal die Wohnung wechselte, aber von einem Leben als Bauer träumte? Oder dass er sich mit dem Hinduismus und der Überwindung jeglicher Leidenschaften beschäftigte, seine Köchin aber schon mal mit faulen Eiern bewarf?

Brotsuppe und Kleiderberge

Es ist eben so eine Sache mit der Heldenverehrung. Von Ferne wirken Heroen stets imposant, aus der Nähe betrachtet, kann es zu gewissen Irritationen kommen. Diese Erfahrung machten bereits Beethovens Zeitgenossen. Sofern sie überhaupt beim Meister vorgelassen wurden, erwartete sie ein heilloses Durcheinander. Auf dem eingestaubten Flügel lagen kreuz und quer verstreut Notenblätter, darunter stand der ungeleerte Nachttopf. In Ermangelung eines Schranks türmten sich die Kleidungsstücke über Rohrgeflechtsesseln. Dick verkrustete Schreibfedern auf dem tintenfleckigen Schreibtisch zeugten vom rege ausgeübten Komponistenhandwerk, Teller mit Essensresten vom Nachtmahl des großen Musikers – etwa Überbleibsel der berühmten Brotsuppe, in die er sich zehn rohe Eier rührte. Den Parmesankäse hingegen verwahrte er aus Angst, vom Personal bestohlen zu werden, im Schlafgemach, wo er auch manchen Besucher empfing. Im Nachthemd.

Diese Tendenz zur Verwahrlosung ist der Spiegel einer verletzten Seele. Lebenslang litt Beethoven unter einer lieblosen, von Gewalt und Vernachlässigung geprägten Kindheit. Bereits als Dreijähriger wurde er zum Virtuosen dressiert, mit Stockschlägen und Essensentzug. Spurte er nicht, sperrte ihn der Vater, ein glückloser Sänger der Bonner Hofkapelle, in den Keller. Selbst im wenig zartfühlenden 18. Jahrhundert war dieses harte Regiment ungewöhnlich. Ein Musikerkollege des Vaters sprach damals fassungslos von „entsetzlichen Misshandlungen“. Die Mutter griff nicht ein, im Gegenteil. Sie überließ die Kinder sich selbst. Mitschüler mutmaßten sogar, sie sei bereits gestorben, weil der kleine Ludwig stets schmutzig und in abgerissener Kleidung in der Schule erschien.

Erst als Jugendlicher fand Beethoven wohlmeinende Mentoren wie den Grafen Waldstein, der sein wahres Talent erkannte und förderte: die Fähigkeit, auf ungewöhnlich farbige Weise am Klavier zu improvisieren. In Wien wurde diese Improvisationskunst dann Beethovens Ticket zum Erfolg. Was von der unglücklichen Kindheit jedoch zurückblieb, war ein lebenslanges Misstrauen selbst engsten Freunden gegenüber – und die Unfähigkeit, sich an eine Frau zu binden. Beethoven liebte systematisch chancenlos. Zumeist handelte es sich um junge adelige Damen, die er als Klavierlehrer kennen und lieben lernte. Wenn er sich dann der Familie offenbarte, wies man ihm die Tür. Ein schrecklicher Affront für einen Mann, der sich dem Geistesadel zugehörig fühlte, an der gesellschaftlichen Realität von Standesheiraten jedoch immer wieder scheitern musste.

Heute fasziniert gerade das Unangepasste dieser Künstlerexistenz. Im Zeitalter gesellschaftlichen Anpassungsdrucks entfaltet Beethoven, der Nonkonformist, eine umso größere Anziehungskraft. Nicht als Held, vielmehr als Antiheld. Wohltemperiert war so gar nichts an diesem Komponisten. Er führte ein Leben auf der Überholspur, leidenschaftlich, arbeitsbesessen, selbstzerstörerisch. Sogar sein trauriges Ende ähnelt dem mancher Rockstars: ein körperliches Wrack und der Alkoholsucht tief erlegen, starb Beethoven mit gerade mal 56 Jahren.

Ludwig van Beethoven, Hirnbesitzer

Immerhin, sein größter Wunsch ging in Erfüllung: dass sein Werk ihn überleben sollte. Anders als Mozart oder Haydn, die ihre Musik als leicht verderbliche Ware betrachteten und quasi im Akkord komponierten, hoffte Beethoven, mit seinen Kompositionen unsterblich zu werden. Das ist ihm zweifellos gelungen. Was er nicht ahnen konnte: Manches Werk entpuppte sich sogar als Schlager. „Für Elise“ machte eine zweifelhafte Karriere als Klingelton und Warteschleifenhit, der erste Satz der „Mondscheinsonate“ ertönt in Filmen und Werbespots, seine Sinfonien dienten der Untermalung von Filmen wie „Clockwork Orange“ und „Mission Impossible“.

Hommage oder Sakrileg? Vermutlich hätte Beethoven darüber gelacht. Denn eines muss man ihm lassen: Er verfügte über einen umwerfenden Humor. Seine Späße und Streiche sind Legende, wenngleich sich nicht jeder darüber amüsieren konnte. Als Beethovens zu Geld gekommener Bruder einen Brief mit „Gutsbesitzer“ unterschrieb, revanchierte er sich auf eine herrlich sarkastische Weise: Er unterzeichnete seine Antwort mit den Worten „Ludwig van Beethoven, Hirnbesitzer“.


Buchtipp

 

 

Christine Eichel

Der empfindsame Titan –
Ludwig van Beethoven im Spiegel seiner wichtigsten Werke

Karl Blessing Verlag 2019,

432 Seiten, 22 Euro

Christine Eichel
Dr. Christine Eichel ist Autorin und Publizistin. Ihre Bücher „Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht“ (2012), „Deutschland, deine Lehrer“ (2014) und „Deutschland. Lutherland“ (2015) erregten großes Aufsehen. Die Presse feiert ihr jüngstes Werk über Ludwig van Beethoven als bestes Buch des Beethoven-Jahres.