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Antworten von einem der großen Philosophen unserer Tage

»Der Kern des Glaubens ist nicht verhandelbar«

Über den Papst-Rücktritt reden wollte er nicht. Doch zu grundsätzlichen Fragen des Glaubens und der Kirche, allen voran den Begriff des Heiligen, äußerte er sich gern.

Robert Spaemann10.03.2013

Herr Spaemann, zum Amt des Papstes gehört das Verständnis als Heiliger Vater. Was bedeutet der Begriff „heilig“?
Robert Spaemann: Es gibt ein berühmtes Buch von Rudolf Otto: „Das Heilige“. Darin versucht dieser eine „Phänomenologie“ des Heiligen zu geben. Das Heilige ist ganz allgemein etwas, was einem Bereich angehört, der unzugänglich ist, den wir nicht verwerten können und dürfen, den wir auch nicht relativieren können. Es ist ein Bereich des Verehrungswürdigen, von dem ein unbedingter Anspruch ausgeht, wogegen der Mensch und seine Interessen zurückzutreten haben.

Wer erhebt diesen Anspruch?
Im Christentum, aber auch im Judentum, konzentriert sich das Heilige vollkommen in Gott. Etwas ist nur heilig, insofern es auf irgendeine Weise an der Heiligkeit Gottes teilhat, sie repräsentiert, sie spiegelt, ihr gerecht wird. In der Liturgie der katholischen Kirche kommt das Heilige u.a. im „Gloria“ vor: „Tu solus sanctus“ – „Du allein bist heilig“.

Welche Stellung hat das Heilige in der modernen, zu großen Teilen säkularisierten Welt?
Es ist außerordentlich bedroht. Das heißt, das Heilige selbst kann gar nicht tangiert werden, denn unter dem Heiligen verstehen wir auch etwas Unberührbares, zugleich absolut Mächtiges. Allerdings kann das Heilige in Vergessenheit geraten, und die Gefahr besteht heute, weil unsere Gesellschaft in wachsendem Maße funktionalistisch ist, so dass kaum irgendetwas stehengelassen wird, weil es ist, wie es ist. Alles muss ständig evaluiert und abgewogen werden, und alles wird einem ökonomischen Funktionalismus unterworfen.
Das ist nun aber eine Paradoxie. Denn das Heilige, das sich dem Funktionalismus der Welt entzieht, bekommt genau dadurch selbst eine Funktion: nämlich den Menschen auf etwas Größeres auszurichten als er selbst ist. Nietzsche hat deutlich gesehen, was der Mensch verliert, wenn er das Heilige aufgibt. Für ihn ist die höchste Idee, die die Menschheit bisher entwickelt hat, diejenige, dass man Gott um seiner selbst willen lieben müsse. Was also den Menschen absolut übersteigt, das macht ihn selbst groß.

Woher kommt dieses Ausgerichtet-Sein des modernen Menschen auf die Funktionalität? Hat er Angst vor Dingen, die mehr sind als er selbst?
Das ist sicher so. Das Heilige ist immer auch etwas den Menschen Beängstigendes, weil der Anspruch, der davon ausgeht, das Belieben des Menschen einschränkt; vor allem ein Leben, das unter dem Gesichtspunkt steht „to get most of it“.
Doch der Mensch wird klein, wenn er nichts Verehrungswürdiges mehr akzeptiert. Das Heilige gibt dem Leben überhaupt erst einen Wert. Sonst wäre es nur definiert durch den Spaß, den man daran hat – solange man ihn hat – und durch den Nutzen, den dieses Leben für das Gesamtsystem hat. Aber das ist nicht das, was der Mensch eigentlich will. Der Mensch erlangt überhaupt erst Selbstachtung, wenn er ein Heiliges anerkennt – auch wenn es ihn einschränkt, denn er kann nicht einfach machen, was er will.

Dennoch wird von den Kirchen, vor allem von der katholischen, regelmäßig gefordert, sich stärker der modernen Welt zu öffnen.
Bei den Forderungen an die Kirche wird immer so getan, als würde sie aus eigener Vollmacht handeln. Wenn die Kirche z.B. sittliche Gebote verkündet, von denen sie überzeugt ist, dass es göttliche Gebote sind, weil sie in der Natur der Schöpfungsordnung liegen, dann sagt man, die Kirche sei unmenschlich, sie müsste doch diese und jene Verbote aufheben. Als wär die Kirche ein Gesetzgeber! Es gibt zwar auch ein paar Kirchengebote – z.B. für Katholiken, freitags kein Fleisch zu essen oder jeden Sonntag in die Messe zu gehen – aber in Bezug auf die fundamentalen sittlichen Gebote ist die Kirche nicht Gesetzgeberin. Sie kann auch nichts ermäßigen, wenn sie der Überzeugung ist, dass etwas göttliches Gebot ist.
Die Unauflöslichkeit der Ehe ist dafür ein Beispiel. Als Jesus sagte, was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen, riefen seine Jünger erschreckt: „Wer will denn dann noch heiraten?“ Doch Jesus mildert das nicht etwa, sondern sagt: „Ja, so ist es.“ Da kann man nicht sagen: „Na, jetzt seid doch endlich mal barmherzig!“ Die Kirche kann nur weitergeben, wovon sie glaubt, dass es göttliches Gebot ist. Wenn man das angreifen will, dann muss man diesen Glauben angreifen.
Es gibt durchaus Kirchengebote, die sind verhandelbar, z.B. der Zölibat. Der hat zwar eine Wurzel, die bis in die apostolische Zeit zurückgeht, aber er ist nicht unverzichtbar. Die katholischen Ostkirchen haben ja verheiratete Priester, da kann man die Absolutheit nicht in Anspruch nehmen. Doch das, was Kern des Glaubens ist und somit heilig, ist nicht verhandelbar.

Gerade Nichtgläubige erheben oftmals Forderungen an die Kirche, was sie alles zu tun habe. Muss sich derjenige, dem etwas heilig ist, rechtfertigen gegenüber jenen, denen nichts heilig ist?
Der Gläubige kann sich rechtfertigen – und sollte es auch – gegenüber Menschen, die die Dimension eines Heiligen anerkennen, und die darüber streiten wollen, was der Inhalt des Heiligen ist und was das Unverhandelbare ist. Da gibt es ein berühmtes Wort des Apostels Petrus: „Ihr sollt jedermann Rechenschaft geben, der euch nach dem Grund eurer Hoffnung fragt.“ Das heißt, wenn jemand schon fragt nach dem Grund der Hoffnung der Christen – Petrus spricht gar nicht von Glauben, sondern von Hoffnung, was über den Glauben hinausgeht – sollte man ihm auch Auskunft geben. Aber gegenüber konsequenten Immoralisten, denen einfach nichts heilig ist, denen gegenüber kann man nicht argumentieren.

Als Gegenteil von „Heiligkeit“ gilt das „Profane“. Wie profan muss die Kirche sein, um in ihrer jeweiligen Zeit bestehen zu können?
Zunächst einmal ist in diesem Sinne profan nicht als Gegensatz zu heilig zu verstehen. Die Forderung der Heiligkeit kennt keinen Nachlass. „Ihr sollt heilig sein, das ist der Wille Gottes, Eure Heiligung“, sagt der Apostel Paulus. Dass die Menschen zugleich weltlich sind, auch die Christen, das ist ganz klar.
Papst Benedikt hat zwar die Forderung erhoben zur Entweltlichung, was meiner Meinung nach richtig ist, denn die Kirche darf in diesem Sinne nicht weltlich sein, darum ist auch die Teilung in Priester und Laien so sinnvoll. In der katholischen Kirche zum Beispiel dürfen die Diener des Heiligen, also die Priester, nicht in die Politik gehen, sonst verlieren sie ihr Priesteramt. Aber das heißt nicht, dass die Kirche nicht in der Gesellschaft präsent ist, denn die Mehrzahl der Katholiken sind Laien. Und die sollen sogar in die Politik gehen. Diese Dualität von Klerus und Laien spiegelt die Situation der Kirche: einerseits ganz dem Heiligen zugewandt zu sein und zugleich ganz in der Welt zu Hause zu sein. Dadurch leistet sie eine ständige Übersetzungsarbeit des Heiligen für die Welt.
Das Wort vom Weltlich-werden stammt, glaube ich, von Bonhoeffer, aber das ist vielfach missverstanden worden, im Sinne von Banalisierung und dahingehend, dass man den abgegrenzten Bereich des Kultischen beseitigen müsse zugunsten der Profanität. Das ist ein Missverständnis. Solange die Welt überhaupt eine Welt ist, und zwar eine weltliche Welt, muss die Kirche gleichermaßen ganz dem Heiligen zugewandt sein und ganz der Welt.

Ein Problem der Kirche, und zwar aller Konfessionen, ist die Glaubenskrise. Wie kann die Kirche dieser Herausforderung begegnen?
Da muss man zunächst vorsichtig sein gegenüber allen Ratschlägen, die versuchen, Methoden zu entwickeln, um das irgendwie rückgängig zu machen. Diese Krise sitzt viel tiefer, und man kann ihr nicht begegnen durch irgendwelche Strategien und Strategiekonferenzen. Das A und O in der Kirche sind Heilige; heilige Menschen, die den Glauben wirklich zum Maßstab ihres Lebens machen. Wo diese sind und die ihnen eigentümliche Strahlkraft entwickeln, da kehrt sich die Krise um. Das Merkwürdige ist ja, dass überall dort, wo sich die Kirche anpasst, die Gotteshäuser sich noch mehr leeren.

Auch in der nichtreligiösen Sphäre gibt es Werte, von denen Menschen sagen, dass sie ihnen „heilig“ sind, zum Beispiel ganz allgemein das Leben oder auch die Liebe zum Vaterland.
Unser Wort „Heiligkeit“ hat eben viele Facetten, darunter auch diese, dass „jemandem etwas heilig ist“. Doch das ist nicht das gleiche wie zu sagen: „Es ist etwas Heiliges“. Der Mensch kann aber durchaus sagen, dass ihm sein Vaterland etwas Heiliges ist; in dem Sinne, dass er sich auf jeden Fall dafür einsetzen wird. Und wenn ein Mensch sagt, dass er bereit ist, für sein Vaterland sein Leben zu geben, erkennt er ja auch hier etwas an, das größer ist als er selbst.

Und auch diese Form von Heiligkeit ist von Dritten auf jeden Fall zu akzeptieren?
Ja, das kann man sagen.

Damit sind wir bei der Toleranz. Kann nur derjenige tolerant sein, der akzeptiert, dass einem Anderen etwas heilig ist? Auch dann, wenn er mit der Heiligkeit des Anderen selbst nichts anfangen kann?
Mit dem Begriff Toleranz wird viel Schindluder getrieben. Es ist eine weit verbreitete Vorstellung, dass Toleranz Relativismus voraussetzt, vor allem von Werten. Doch das ist ganz falsch. Gerade schwierige Situationen und harte Konflikte in der Gesellschaft zeigen, dass nur derjenige tolerant sein kann, der selbst eine unbedingte und universelle Überzeugung hat – von der Würde jedes Menschen und seines Gewissens. Ohne eine solche Überzeugung gibt es für den Menschen keinen Grund zur Toleranz.
Die Frau Bundeskanzlerin sagte vor ein paar Jahren einmal, der höchste Wert in der Europäischen Union sei die Toleranz. Da kann ich nur sagen, wenn die Toleranz an sich der höchste Wert ist, dann verschwindet sie. Die Heiligkeit der Überzeugungen eines Menschen sind das, was wir tolerieren müssen. Die steht höher als die Toleranz! Nur als sekundäre Tugend hat die Toleranz einen sicheren Stand.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Was ist Robert Spaemann heilig?
Zunächst bin ich der Überzeugung, was mir heilig ist, ist nicht absolut heilig: vom Andenken meiner Eltern zu meinen Kindern und zu meinem Land. Aber gefragt: „Was halten Sie für an sich heilig?“, würde ich sagen: Gott. Sonst nichts.
Robert Spaemann
Prof. Dr. Robert Spaemann war bis zu seiner Emeritierung 1992 ordentlicher Professor für Philosophie an den Universitäten Stuttgart, Heidelberg und München. Zu seinen Schriften gehören u.a. „Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne“ (Klett Cotta 2005) und „Der letzte Gottesbeweis“ (Pattloch 2007). www.klett-cotta.de

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