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Die Geschichte einer schwierigen Annäherung

Deutschland und Sefarad

Vor 50 Jahren – am 12. Mai 1965 – nahmen die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel offizielle diplomatische Beziehungen zueinander auf. Wie schwer der Weg dorthin nach dem Holocaust war, zeigt Dan Diners neues Buch über die „rituelle Distanz“ der Juden nach 1945 gegenüber den Deutschen. Der folgende Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors ein Auszug daraus.

Dan Diner16.04.2015

Nach der Katastrophe lastete auf Deutschland ein herem, ein Bann. Niemand hatte ihn verhängt, und doch war er allgegenwärtig. Das „Land der Mörder“ sollte geächtet sein – auf alle Zeit. So war die Stimmung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, insbesondere in Palästina, wo diese sich im Übergang zum Staat befand.

Auch und gerade unter national empfindenden, sich säkular verstehenden Juden, der Tradition entfremdet und den heiligen Texten fernstehend, schlug sie tiefe Wurzeln. Unter den strikt gesetzestreuen religiösen Juden schien sie verhaltener. Jedenfalls verhängten deren Rabbiner keinen rituellen Bann über Deutschland. Auf den nach 1945 einberufenen rabbinischen Versammlungen war die Frage zwar stets Thema gewesen, von einer religionsgesetzlichen Bannung Deutschlands jedoch hatte man abgesehen. Dies entsprach der halachischen Maßgabe, mit der Auferlegung ritueller Bürden, die nicht zumutbar sind, zurückhaltend zu verfahren – gsera sh’ein hazibur yachol leamod ba.

Gleichwohl war das Wort vom Bann in aller Munde, nicht zuletzt weil das hebräische herem eine Bedeutungsverschiebung erfahren hatte – weg von seinem sakralen Ursprung hin zu einem profanen Gebrauch im Sinne einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Acht, also dem, wofür das moderne Wort „Boykott“ steht. So war im Frühjahr 1933 als Reaktion auf die einsetzenden antijüdischen Maßnahmen der Nazis von Juden international ein wirtschaftlicher Boykott gegen das Dritte Reich ausgerufen worden. Auch in der rabbinischen Literatur der Zeit finden das Wort herem und das des Boykotts alternierend Verwendung. Sakrale Bedeutung und profaner Sachverhalt, im Hebräischen semantisch ohnehin nicht unterscheidbar, verschränkten sich ineinander.

In die Stimmung des infolge der Katastrophe über Deutschland und allem Deutschen schwebenden jüdischen Banns gehen Spuren zweier verschiedener religiöser Traditionsbestände jüdischer Achterklärung ein: die archaische Damnation nach 3. Mose 27:28ff., die der biblischen Erzählung nach Feindvölkern gegenüber ausgestoßen wurde, und die in der Zeit des Exils nach innen, in die jüdische Gemeinschaft hinein gerichtete, den Maßgaben von Esra 10:8 folgende Acht. Der biblische Bann zieht eine sakral begründete militärische Exekution nach sich; der rabbinische Bann ist im Unterschied dazu ein jüdischen Frevlern gegenüber angewandtes rituelles Zuchtmittel rabbinischer Autoritäten und somit Ausdruck einer innerjüdischen Exklusion. Er diente der Wahrung des Zusammenhalts der Gemeinschaft, mithin der Volksdisziplin, der Gesetzestreue.

Dem nach außen, zu Ehren Gottes ausgestoßenen archaischen Bann erwuchsen harsche Konsequenzen. Die von ihm betroffene feindliche Bevölkerung wird Gott überantwortet. Die Kriege Israels galten als Kriege des Herrn (Richter 5:23); den Menschen war versagt, die Acht, einen Akt der Weihung, von sich aus aufzuheben. Nichts durfte verschont, nichts angeeignet werden. Der gebannte Feind war mit all seinen Angehörigen und all seinem Besitz – „Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel“ (1. Sam. 15:3) – dem Untergang geweiht und damit der Vernichtung. So erzählt die Bibel, dass Saul, der auf Geheiß des Allmächtigen Krieg gegen die Amalekiter führte, der Weisung des herem zuwiderhandelte, indem er deren König Agag gefangennahm, statt ihn zu töten, und auch die besten seiner Schafe und Rinder verschonte – ein Frevel, mit dem er sich Gottes Zorn aus dem Munde des Propheten Samuel zuzog.

Die Vorstellung von Amalek als dem ultimativen Feind Israels ist mit der biblischen Achterklärung aufs Engste verbunden. Das Schreckbild von Amalek geht auf eine in 2. Mose 17:8–16 erzählte Episode zurück, in der die Kinder Israels, nachdem sie unter Moses’ Führung aus Ägypten ausgezogen waren, im Norden der Wüste Sinai von einem nomadischen Volk ohne Anlass angegriffen wurden. Die rabbinische Literatur hat sich der mythischen Kollektivfigur Amaleks bedient, um eine absolute, durch nichts zu besänftigende Judenfeindschaft zu bebildern. So hat Don Isaac Abarbanel, ein mittelalterlicher Bibelkommentator, Amalek mit einer jenseits allen Konflikts angesiedelten, gegen das Volk Israel gerichteten Vernichtungsabsicht in Verbindung gebracht – eine Vernichtung um der Vernichtung willen.

Der Kollektivfigur Amalek, die auf die Feindschaft zwischen Esau und Jakob zurückgeht, ist ein Wiederholungszwang eingeschrieben. Der Furor kehrt in Zyklen wieder – von „Generation zu Generation“. Das Erinnerungsgebot „Denk daran, was Amalek dir […] angetan hat“ (5. Mose 25:17) fällt liturgisch auf den Wochenabschnitt des Sabbath vor dem Purim-Fest – jenes Fest, das dem Buche Esther zufolge der glücklichen Errettung der Juden in Persien gewidmet ist.

Im Juli 1945, kurz vor Abmarsch in Richtung des niedergeworfenen Deutschland, wurde den Angehörigen der in Tarvisio, nahe der italienisch-jugoslawischen Grenze stationierten Jüdischen Brigade ein Tagesbefehl verlesen, dem in Wort, Ton und Tenor der biblische, gegen Fremdvölker gerichtete archaische Bann eingeschrieben war. Den jüdischen Soldaten wurde auferlegt, die Gemeinsamkeit des Daches mit den Deutschen zu meiden und sich jeglicher Berührung mit ihnen zu versagen. Die Deutschen und ihre Kinder seien ebenso zu achten wie ihr Hab und Gut; es herrsche ewiger Bann.

Die Jüdische Brigade war eine den britischen Streitkräften zugehörige militärische Einheit aus Palästina. Als Erkennungsmal war der Uniform ihrer Angehörigen ein Ärmelzeichen aufgenäht. Es setzte sich aus Elementen jüdisch-nationaler Symbole zusammen: ein goldfarbener Davidstern auf senkrechten blau-weiß-blauen Streifen. Nach der Staatsgründung Israels bildeten die Offiziere und Soldaten, die in der Brigade gedient hatten, das professionelle Rückgrat der israelischen Armee – im Unterschied zu den während des Weltkrieges in Palästina verbliebenen, eher irregulär agierenden Milizen.

In Deutschland angelangt, wurde die Brigade von den jüdischen überlebenden, denen sie dort begegnete, als Verkünder einer bevorstehenden nationalen jüdischen Autorität in Palästina begrüßt. Ihr wenig kalkulierbares Verhalten in Deutschland, im Lande Amaleks, bewog die Briten, die Truppen alsbald nach Belgien und in die Niederlande zu verlegen.

Auch Anklänge an die Tradition des innerjüdischen, rabbinischen Banns waren nach Krieg und Holocaust zu vernehmen. Eine darauf beruhende, weit verbreitete Stimmung richtete sich vornehmlich gegen Juden, die sich mit dem Gedanken trugen, in Deutschland, dem „verfluchten Land“, zu leben. Der World Jewish Congress verfügte im Sommer 1948 ein an Juden gerichtetes Verbot, sich dort niederzulassen. Es wurde 1950 nochmals verschärft, als kundgetan wurde, dass Juden, die in Deutschland zu verbleiben gedachten, keinen Anteil an der Gemeinschaft der Juden der Welt mehr haben dürften. Bei diesen und ähnlich lautenden rhetorischen Inszenierungen handelte es sich freilich nicht um einen rituellen, religionsgesetzlich verfügten Bann, sondern um den Nachklang einer fernen Überlieferung, in der sich Anteile jener strafenden archaischen Acht von Feindvölkern mit solchen einer nach innen gerichteten rabbinischen Bannung mischten.

Gershom Schocken, der sonst auf seine weltliche Einstellung Wert legende Herausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz, sprach sich 1949 in einem Atemzug für beides aus: für einen Bann gegen Juden, die sich wieder in Deutschland niederließen – ein, wie er meinte, widerwärtiges, ja, erniedrigendes Geschehen, dem der gerade souverän gewordene jüdische Staat mit scharfen Sanktionen begegnen müsse –, und für die politische Erneuerung der biblischen Acht Fremdvölkern gegenüber. Deutschland und das Volk der Deutschen gelte es mit einem herem, einem Bann, zu belegen. Zwar benutzte Schocken diesen Begriff um seiner rhetorischen Wirkung willen und nicht im ursprünglichen, sakralen Sinn – ihre Kraft verdankt diese Redefigur gleichwohl einem liturgischen Gedächtnis. Die Verwendung der Tradition entlehnter Bilder und Metaphern unter weltlichem Vorzeichen verweist jedenfalls darauf, dass die hebräisch-politische Begriffswelt, allen im 19. und 20. Jahrhundert sich einstellenden Tendenzen der Säkularisierung von Lebenswelt und der Profanierung von Textkultur zum Trotz, den religiösen Arsenalen archaischen, antiken oder rabbinischen Ursprungs verhaftet bleibt. Solche Aktualisierungen generieren politisch-theologische Neigungen.

In die wie Mehltau über Deutschland und alles Deutsche sich legende Stimmung eines jüdischen Banns schrieben sich Gedächtnisspuren aus religiösen und historischen Tiefenschichten ein, die das Muster eines fein ziselierten Gewebes hinterließen. So rief die nach 1945 gegen Deutschland und alles Deutsche gerichtete Stimmung eine tief verankerte Referenz auf, nämlich die Erinnerung an die jüdische Acht in Reaktion auf die 1492 verfügte Vertreibung der Juden aus Spanien, genauer: auf das von Ferdinand und Isabella erlassene Ausweisungsdekret – ein immer wieder neu überschriebenes legendäres Palimpsest. (…)

Am 2. März 1949 trat das israelische Kabinett zur letzten Sitzung der provisorischen Regierung zusammen. Das Protokoll weist den Ministerpräsidenten David Ben-Gurion als erkrankt aus. Aus demselben Grund abwesend war Innenminister Yitzhak Grinboim. Den Vorsitz übernahm stellvertretend Moshe Sharett, im Protokoll noch unter dem Namen Shertok ausgewiesen. Die abzuarbeitende Agenda der Sitzung umfasste sieben Punkte. Nach einer allgemeinen Aussprache über die aktuelle Lage, einem Bericht über den Verlauf der Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Libanon und dem damals noch als Trans-Jordanien bezeichneten Nachbarn im Osten wurde der letzte Tagesordnungspunkt, „Beziehungen mit Deutschland“, aufgerufen. Es ging um die Frage möglicher Wirtschaftskontakte. Für die Aufnahme solcher Beziehungen trat der Minister für Handel und Industrie, Peretz Bernstein, ein. Die von ihm vorgetragenen Gründe waren vorwiegend sachlicher, pragmatischer Natur. Er pries die Vorzüge deutscher Produkte, vor allem Maschinen, die in Israel dringend benötigt wurden. Bezüglich des Verfahrens hielt Bernstein den Verordnungsweg für ausreichend, es bedürfe keines besonderen Gesetzes.

Die sachliche Haltung Bernsteins erregte den Widerspruch von Moshe Shapira, Minister für Gesundheit und Einwanderung. Bernsteins Rede rufe bei ihm tiefe Abscheu hervor, ein Gefühl, das der unerträglichen Diskrepanz zwischen den von ihm verachteten „Empfindungen des Händlers“ und den allenthalben vorwaltenden „jüdischen Empfindungen“ geschuldet sei. Vor mehr als vierhundert Jahren – so Shapira – hätten die aus Spanien vertriebenen Juden einen Bann über dieses Land verhängt und gelobt, es weder zu betreten noch Handel mit ihm zu treiben. Und weil die jüngst von Deutschland an den Juden verübten Verbrechen unbeschreiblich entsetzlicher waren als das, was damals auf der Iberischen Halbinsel erlitten worden war, komme die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit Deutschland nicht in Frage. Ein solches Ansinnen verletze das „Empfinden des einfachen Juden“, schloss Shapira, und Transportminister David Remez pflichtete ihm mit dem Ausruf „Denk daran, was Amalek dir […] angetan hat!“ bei.

Die anderen Minister schlossen sich der am Kabinettstisch herrschenden Stimmung eines analog zum mittelalterlich-neuzeitlichen Spanien nunmehr auch über Deutschland lastenden Banns an. Der vorsichtig von Justizminister Pinchas Rosen, damals noch Rosenblüth, vorgetragene Einwand, dass Juden, die sich um Auslösung ihres in Deutschland zurückgelassenen oder ihnen geraubten Eigentums bemühten und ihr Vermögen in Form von Maschinen oder anderen dringend benötigten Gütern ins Land bringen wollten, der Kontakt nach Deutschland nicht verwehrt sein dürfe, fand gleichwohl die verhaltene Zustimmung der anderen Minister. Förmliche Handelsbeziehungen mit dem gebannten Land wurden indes verworfen. Wenige Monate später wurden auch Reisen von Israelis nach Deutschland administrativ unterbunden.


 Dan Diner
Rituelle Distanz
Israels deutsche Frage
176 Seiten, Deutsche Verlagsanstalt 2015
ISBN 3-421-04683-2
19,99 Euro

Dan Diner
Prof. Dr. Dan Diner ist emeritierter Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und ehemaliger Direktor des Simon-Dubnow Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur und Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig. Er veröffentlichte u.a. die siebenbändige „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ (Metzler 2011) und "Aufklärungen. Wege in die Moderne", (Reclam, Stuttgart 2017). www.dubnow.de

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