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Was die Krise des gemeinsamen Geldes über uns aussagt

Ein europäischer Bürgerkrieg

Dan Diner12.11.2012

In Europa herrscht Krieg. Kein veritabler europäischer Krieg, dem wie in zurückliegenden, wenig anheimelnden Vergangenheiten, furchteinflößende Aufmärsche von Landheeren, See- und Luftflotten vorausgegangen waren, ebenso wenig wie ein sich blutig entladendes Kräftemessen in sichtbarer militärischer Schlachtenordnung. Also kein Krieg im althergebrachten Sinne, aber doch ein Krieg entlang traditioneller europäischer Konfliktlagen. So gesehen – und der notwendigen Erkenntnis in der Sache wegen überspitzt – können die gegenwärtigen, in der Euro-Gruppe ausgetragenen Aus-einandersetzungen durchaus als eine Art innereuropäischer Krieg um Dominanz und Unterordnung historisch unterschiedlich gewachsener habitueller Tugenden erachtet werden.

Bei diesem Krieg geht es nicht um so Althergebrachtes wie etwa Gewinn oder Verlust von Territorien oder anderer, mittels Gewalt zu erlangender Trophäen von Über- oder Unterordnung wie das Schleifen von Festungen und Trutzburgen oder dem demütigenden Auferlegen von Tributzahlungen. Im Unterschied zu vergangenen, angesichts nachmoderner Lebenswelten gleichsam archaisch anmutenden Zeiten nimmt das Ringen der Europäer untereinander die Semantiken von Finanz-, Haushalts- und Währungspolitik und deren Regularien an. Die sich heute einstellenden „Kriegsziele“ kulminieren letztendlich in der Frage, wessen Sekundärtugenden und habituellen Prägungen des Wirtschaftens und Haushaltens in Europa obwalten sollen, bzw. wie Kompromisse zu diesem Zwecke untereinander zu gestalten sind. Gilt die Geldwertstabilität als ein etwa nicht zu berührendes Sanktuarium, so wie es eine eher dem deutschen Gedächtnis von Inflation und Währungsreform verpflichtete Tradition zu wissen vorgibt? Oder sollen andere Werte obwalten, solche etwa, die – wie in Frankreich geltend und klassenkämpferischer Erinnerung gehorchend – den Vorstellungen von Vollbeschäftigung Vorrang zu gewähren vermeinen?

In der gegenwärtigen Schuldenkrise stoßen in Europa, genauer: in der Euro-Zone, eine Vielfalt von Traditionen, Gedächtnissen und habituellen Neigungen aufeinander. Dieser Zusammenstoß erweist sich deshalb als so heftig, weil mittels der Krise die europäische Geschäftsgrundlage neu ausgemacht wird. Vermittels einer komplexen Zahlensemiotik werden Hierarchie und Wertigkeit der jeweils verschiedenen, indes tief verwurzelten kulturellen und habituellen Tugenden des Wirtschaftens und Haushaltens ausgehandelt. Und dieses an heftigem Streit gemahnende Aushandeln von Rang und Geltung, ja von Hierarchie, ist der Paradoxie einer gemeinsamen Währung geschuldet. In der Tat: Erst die abstrakte Gemeinsamkeit in der Währung, das gemeinsame Maß, lässt die jeweils bestehenden, historisch tradierten Unterschiede derart massiv zu Tage treten.

Die Wahrheit der gemeinsamen Währung offenbart anhand der Krise eine bislang eher verborgen gebliebene, unausgewogene innere Statik des europäischen Projekts. Und diese unausgewogene Statik lässt eine denkwürdige Topographie sichtbar werden: Die Länder des europäischen Nordens und des europäischen Südens treten auseinander, wobei die Länder des Nordens eine auffällige Affinität zu als protestantische Traditionsbestände erachteten Sekundärtugenden aufweisen. Dem ideengeschichtlich Informierten wird dabei die (anhand empirischer Belege von der Geschichtswissenschaft gern zurückgewiesene) These Max Webers von der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus in den Sinn kommen. Webers provokative religionssoziologische These muss derweil im Einzelnen nicht zutreffen, um gleichwohl den zudringlichen Eindruck zu hinterlassen, Europa werde von einer Art tektonischer Spalte historisch tradierter Unterschiede des Sozialverhaltens im Allgemeinen und des Wirtschaftens wie Haushaltens im Besonderen durchzogen, wobei Topographie und Konfession sich in einer denkwürdigen Weise zu überlagern scheinen.

Ein historisch geschärfter Blick vermag in der erschütterten europäischen Statik weitere traditionelle Anlagerungen von Vergangenheit erkennen – so etwa den Umstand, dass das von der Schuldenkrise besonders gebeutelte Griechenland weder aus dem protestantischen noch dem katholischen Traditionszusammenhang hervorgegangen ist, sondern seine Wurzeln in Byzanz hat und lange dem Osmanischen Reich zugehörte. Dort scheinen kulturhistorische Voraussetzungen rationaler Verwaltung, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die Trennung der Sphären zwischen „privat“ und „öffentlich“ weniger scharf gezogen als in den Kernländern des protestantischen Nordens, in dem sich auch der Katholizismus was Habitus und Alltagsverhalten angeht, ohnehin protestantisiert hat. Die Vielfalt Europas, eben jener kulturelle Segen einer produktiven Verschiedenheit, erweist sich unter den Maßgaben einer gemeinsamen Währung im Zeichen der Schuldenkrise als strukturelle Gefährdung jener über Jahrzehnte hinweg erlangten Gemeinsamkeiten. Schließlich ist die gemeinsame Währung der am höchsten abstrakt verdichtete Ausdruck von miteinander in ein dynamisches Verhältnis von Konkurrenz und Abgleich versetzten Sekundärtugenden. Dass diese wiederum – vom Produktivitätsgefälle und anderen Maßgaben des Sozialverhaltens bestimmt – letztendlich hierarchisch zueinanderstehen, genauer: durch die Währungseinheit hierarchisch direkt zueinander gestellt werden, schlägt sich in jenen Spannungen nieder, von der die Euro-Zone gegenwärtig durchzogen wird.

Überprüfung der eigenen Erzählung

Die aktuelle Krise Europas legt nahe, sich den historischen Bedingungen und Umständen des Einigungsprozesses nochmals zuzuwenden und dabei zu prüfen, inwieweit die erzählte Geschichte der europäischen Einigung, das vorherrschende Narrativ, wie es heute heißt, tatsächlich die gewesene Wirklichkeit abbildet. Dabei ist die das gegenwärtige Geschehen begleitende Geschichtserzählung keinesfalls folgenlos. Sie hat für das unmittelbare Handeln einen gleichsam legitimatorischen Charakter. Kurz: Aus der gesponnenen Geschichtserzählung ergeben sich politische Konsequenzen. So wird die Geschichte Europas gemeinhin teleologisch erzählt – von der Idee der europäischen Einigung als Friedensprojekt hin zu ihrer institutionellen Realisierung.

Dabei wird der eigentliche poltische Humus des Einigungsprojektes, der Kalte Krieg, gern übergangen. Eine solche Amnesie ist verständlich, zumal jene alte Weltordnung durch ihren plötzlichen Verfall auch die an sie gebundenen Erinnerungen mit in den Orkus des Vergessens zog. Indes stellte der Ost-West-Gegensatz so etwas bereit wie ein stabilisierendes Geländer, an dem entlang sich die (west-)europäische Einigung als ein im Wesentlichen den historischen deutsch-französischen Gegensatz neutralisierendes Unternehmen vollzog. Auffälligerweise war es der Zusammenbruch des Sowjetimperiums, der dem europäischen Einigungsprojekt nach einer für das ganze Unternehmen durchaus signifikanten Phase des ziel- und lustlosen Vor-sich-hin-Werkelns neues Leben einhauchte. Und es waren die alten nationalstaatlichen europäischen Verdächtigungen, die mit der deutschen Vereinigung die Währungsunion als eine Art von Kautel erforderlich zu machen schienen, um in Maastricht ratifiziert zu werden.

Die Währungsunion, bzw. der Euro ist heute ebenso ein Stabilisierungsanker wie die gemeinsame Währung die Stabilität des Einigungsprojektes untergräbt. Tatsächlich trifft beides zu. Dieser Widerspruch ist gleichwohl kein vorübergehendes Krisenmoment, sondern ein konstitutives dynamisches Merkmal der europäischen Konstellation. Er macht deutlich, wie schwierig es um klare politische Projektionen in die Zukunft steht – sei es die Projektion in Richtung eines Bundesstaates oder die eines Staatenbundes.

Dabei hält die deutsche Geschichte für beide Projektionen hinreichend Modelle bereit – wobei im 19. Jahrhundert die Währungseinheit übrigens erst nach dem politischen Vollzug der Reichseinheit erfolgte. Ein solches Einigungsnarrativ orientiert sich am Ideal eines homogenen, horizontal integrierten Nationalstaates und dürfte schon aufgrund des Umstandes europäischer Vielfalt wenig Aussichten auf Erfolg haben. Das andere Modell schöpft aus dem Erfahrungsarsenal der Vormoderne, also aus einer Zeit mittels einer damals geltenden vertikalen korporativen Ordnung, die die verschiedenen Stände als nationes zusammengeführt und sich dabei kollektiv auszugleichen hatte. Hier ist vom durch Napoleon 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation die Rede – ein Gefüge, das letztendlich der anbrandenden Moderne unterlag, in der sich die Prinzipien der ethnisch imprägnierten Nation, das horizontalisierende Prinzip von Gleichheit und Mehrheitsentscheidung mit dem der Territorialität verbanden und dann im Zeichen der Krise nicht zuletzt in

die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte.

Nicht, dass jetzt etwa nostalgisch in die – ohnehin nicht wiederbringbare – Vormoderne geblickt würde, um Europa aus der Krise zu führen. Aber die „weichen“ Strukturen einer Koordination nachmodern verfasster Körperschaften, kombiniert aus europäischen Institutionen, aus Staaten und ihren Parlamenten, aus Gebietskörperschaften wie anderen Einrichtungen der Repräsentation, wie sie für die Vormoderne im Unterschied zu den „harten“ Strukturen der Dezision so typisch gewesen waren, dürften für das Europa der nachmodernen Verschiedenheiten angemessener sein als Vorstellungen von Vereinheitlichung, die eher zu brechen als zu biegen vermögen.

Dan Diner
Prof. Dr. Dan Diner ist emeritierter Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und ehemaliger Direktor des Simon-Dubnow Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur und Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig. Er veröffentlichte u.a. die siebenbändige „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ (Metzler 2011) und "Aufklärungen. Wege in die Moderne", (Reclam, Stuttgart 2017). www.dubnow.de

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