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Zum 100. Todestag Christian Morgensterns

Dichtung von subversiver Kraft

Jochen Schimmang zum 100. Todestag von Christian Morgenstern

Jochen Schimmang14.03.2014

Zugegeben, vor ein paar Jahrzehnten war er im Bewusstsein deutscher Leser noch präsenter. Seine Galgenlieder und verwandte Werke gehörten zum normalen Bestand bildungsbürgerlicher Bibliotheken, auch wenn in seinen Schriften der antibürgerliche Impuls nicht zu übersehen ist. Heute verbinden viele mit seinem Namen nichts mehr, aber manche zitieren ihn, ohne es zu wissen, etwa, wenn sie sagen: „Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen.“ Sein Ruhm begann leider erst nach seinem Tod und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, überdauerte aber mehrere Staatsformen und ist bis heute nicht wirklich erloschen.
So könnte eines dieser beliebten Rätsel „Erkennen Sie den Dichter?“ beginnen.

Die Rede ist natürlich von Christian Morgenstern, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt. Die Lebensdaten Morgensterns transportieren geballt historische Bedeutung: Geboren am 6. Mai 1871 in München, wenige Monate nach der Reichsgründung und sieben Wochen nach der Wahl Bismarcks zum Reichskanzler, starb er am 31. März 1914, ebenfalls nur wenige Monate vor dem Beginn der ersten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Morgenstern lebte also einerseits in einer der bis dahin längsten europäischen Friedensepisoden; andererseits war er Zeitzeuge und Betroffener einer Ära des Aufbruchs, des rasanten technischen Wandels, der Industrialisierung, des Fortschrittsoptimismus und schließlich auch imperialen Größenwahns. Die Ära des deutschen Kaiserreichs war keineswegs eine „gute alte Zeit“, sondern eine Umbruchsperiode. Dies gilt auch kulturell. Gemessen an der Zeit von 1890 bis 1914 waren die angeblich so goldenen und innovativen zwanziger Jahre ein matter Abklatsch.

»?Sonnenschein der Kindheit?«
Christian Morgenstern war der Sohn sehr junger Eltern und außerdem väterlicherseits der Spross einer Dynastie von Landschaftsmalern. Auch der Großvater mütterlicherseits war Maler, die Mutter musikalisch begabt. Morgenstern wuchs also in einer Künstlerfamilie auf, und man darf es ihm getrost abnehmen, wenn er noch 1908 vom „Sonnenschein seiner Kindheit“ spricht. Mit dem ist es allerdings nach dem frühen Tod der Mutter – Christian ist knapp neun Jahre alt – abrupt vorbei. Denn das Verhältnis zwischen Vater und Sohn Morgenstern bleibt im Wesentlichen ein Nichtverhältnis, bedingt auch durch die komplizierten Heirats- und Scheidungsgeschichten des Vaters. In gewisser Weise erlebt Morgenstern schon früh ein Umfeld, das seinen Namen erst viel später bekommen sollte: die Patchwork-Familie. Zwischen 1895 und 1908 herrscht dann zwischen Vater und Sohn dreizehn Jahre lang völliges Schweigen.

Morgenstern beginnt seinen Weg also früh auf sich gestellt. Schon als Dreiundzwanzigjähriger geht er nach Berlin und macht Bekanntschaft mit der künstlerischen Moderne. Er ist durchaus ein geschickter Netzwerker und steht darin heutigen Autoren in nichts nach. In seiner Existenzform als freier Autor, der durchaus oft in prekären Verhältnissen lebt, gehört er der Moderne schon ganz und gar an. Bald schreibt er für eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften, gibt selbst welche heraus, arbeitet lange Zeit für den bedeutenden Verleger Bruno Cassirer als freier Lektor und übersetzt Teile von Ibsens Werk ins Deutsche, wofür er unter anderem ein Jahr lang in Norwegen verbringt. Diese Übersetzungen finden Ibsens Anerkennung – der große norwegische Autor hat lange in Deutschland gelebt – und gelten übrigens noch heute als keineswegs angestaubt.
Morgenstern ist also der Prototyp des erst knapp hundert Jahre später von Richard Sennett analysierten „flexiblen Menschen“. Und er ist ein Wanderer von früh an. Dies sowohl aus innerem Antrieb: „Mein Wohnungsideal ist das Zelt“, schreibt er. Aber auch gezwungenermaßen: Der Ausbruch der Tuberkulose schon beim jungen Autor verhindert, dass Morgenstern sich in Berlin, das natürlich das kulturelle Zentrum des Kaiserreichs ist, wirklich festsetzen kann. Das Klima im flachen Land bekommt ihm einfach nicht. Die Krankheit zwingt ihn zu einer nie abreißenden Kette von Klinik- und Kuraufenthalten in höheren und höchsten Lagen, also in den schweizerischen oder österreichischen Alpen. Die einzelnen Stationen Christian Morgensterns, zuweilen im Vierwochentakt, im Einzelnen aufzuzählen und zu schildern, würde Hunderte von Seiten füllen. Während dieser endlosen Wanderschaft also und zeitgleich mit den Tätigkeiten als Übersetzer, Feuilletonschreiber und Lektor, entsteht sein Werk.

Missverständnis des eigenen Werks
Dieses Werk umfasst einige Prosafragmente und Skizzen zu einem Theaterstück, einige Sketche, die auch heute noch auf Kleinkunstbühnen Bestand haben könnten, eine Reihe sehr lesenswerter aphoristischer Notizen und Epigramme und rund neunhundert Gedichte. Von diesen Gedichten ist vor allem der Komplex der Galgenlieder, zu dem auch die Bände „Palmström“, „Der Gingganz“ und „Palma Kunkel“ gehören, lebendig geblieben, und dies zu Recht. Morgenstern war der gar nicht so seltene Fall eines Dichters, der sein eigenes Werk missverstand. Während er die eben genannte Lyrik als „Beiwerkchen“ bezeichnete und hoffte, dass sein „seriöses Werk“ dereinst bleiben werde, ist dieses „seriöse Werk“ zu Teilen längst vergessen und wird allenfalls noch von den Anthroposophen gelesen. Denn Morgenstern, der in späten Jahren seine Frau Margareta kennen lernte, wurde durch sie zum persönlichen Jünger Rudolf Steiners, dem er, so lange seine Krankheit es erlaubte, auf seinen Vortragsreisen folgte. Seiner Lyrik hat das nicht gut getan. Schon vorher aber war die sogenannte ernste Lyrik zu sehr Gedankenlyrik, formal oft schwach und nicht ohne epigonale Züge, in der Tradition des Symbolismus. Nur in der Naturlyrik finden sich hier und da besonders gelungene Gedichte, die Bestand haben.

Dagegen haben die Gedichte über Palmström, Palma Kunkel und von Korf, über das Nasob?m, das Geierlamm, das Mondschaf, den Zwölf-Elf und den Gingganz subversive Kraft, vor allem, weil sie die Sprache bis an den Rand ihrer Möglichkeiten und darüber hinaus ausloten. Und sie haben Nachfolger gefunden. Das große Lalul? etwa wurde von den Dadaisten aufgegriffen, und das rein typographische Gedicht „Fisches Nachtgesang“ ist ein früher Vorläufer jener Konkreten Poesie nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Namen wie Eugen Gomringer und Franz Mon stehen. Noch Ernst Jandl knüpft ebenso an ihn an wie Robert Gernhardt, der sich ausdrücklich zu ihm bekannt hat. Für Walter Kempowski waren die Galgenlieder gar „eines der wichtigsten Bücher dieses Jahrhunderts“.
Auch deshalb, weil Morgenstern in dieser Lyrik eine eigene Welt geschaffen hat, genauer eine Welt eigenen Rechts, die direkt aus der Sprache geboren ist und dabei zugleich so wirklich, so plastisch, so eindrücklich ist, dass sie manchmal ein Gefühl nachgerade metaphysischer Verlassenheit hervorrufen kann. Lesen Sie mal:

Himmel und Erde
 
Der Nachtwindhund weint wie ein Kind,
dieweil sein Fell von Regen rinnt.
 
Jetzt jagt er wild das Neumondweib,
das hinflieht mit gebognem Leib.
 
Tief unten geht, ein dunkler Punkt,
querüberfeld ein Forstadjunkt.
 
Dagegen sind doch die Schauder der Verlassenheit, die nach dem letzten Krieg die Romane der Existentialisten hervorrufen konnten, nur wohlige Gänsehäute. Oder bezweifelt man etwa, dass es den Nachtwindhund und das Neumondweib wirklich gibt?
Und wenn die Sprache mit sich selbst spielt, dann wird auch die Welt auf umstürzlerische Weise verändert, wie das folgende berühmte Beispiel zeigt:
 
Der Lattenzaun
 
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun
 
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
 
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
 
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.
 
Ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
 
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.
 
Hier geschehen gleich mehrere subversive Akte. Zunächst einmal verstößt der Architekt gegen das Bürgerliche Gesetzbuch, indem er ein Eigentumsdelikt begeht. Das ist auch der Grund, warum er später flieht: um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Vorher aber hat er demonstriert, wie man etwas buchstäblich aus dem Nichts heraus schafft, wie man also aus dem entwendeten Zwischenraum ein ganzes Haus schafft, ein Kunststück, das uns aus der neueren Architektur vertraut ist. Allerdings ist der Lattenzaun durch diese illegale Beschaffung von Baumaterial unumkehrbar beschädigt und wird deshalb vom Senat auch eingezogen, also abgerissen. Der Architekt nun entflieht auf Kontinente, auf die der Arm der wilhelminischen Strafverfolgungsbehörden keineswegs reicht, weil es diese Kontinente gar nicht gibt, sondern nur klangverwandte. Die Erschaffung zweier neuer Kontinente – auch das wieder ein subversiver Akt! – ergibt sich hier zwingend aus der Logik von Reim, Klang und Rhythmus, die Morgenstern in diesen Gedichten geradezu traumwandlerisch handhabte.
Deshalb sollte man Morgenstern lesen – bei uns und auch in Afri- od- Ameriko.
Jochen Schimmang

Jochen Schimmang ist Schriftsteller und Publizist. 2009 erschien  „Das Beste, was wir hatten“, ein Roman über die letzten Jahrzehnte der Bonner Republik (Edition Nautilus). Vor kurzem erschien „Christian Morgenstern. Eine Biografie" (Residenz Verlag).

www.residenzverlag.com

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