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Titelthema

Jenseits der Verheißung

Titelthema - Jenseits der Verheißung
Deutsche Lyrik: Zahlreiche deutschsprachige Juden, darunter viele Dichter, flohen nach Israel. Obwohl die deutsche Sprache durch die Shoah verpönt war, dichteten einige auf Deutsch weiter – auch Else Lasker-Schüler © sz photo/bridgeman images

Erst in den 1970er Jahren wurde die deutsche Sprache in Israel wieder salonfähig. Davon zeugt unter anderem der Dichterkreis „Lyris“

Michael Jeismann01.05.2023

An der ersten modernen (technischen) Universität im Nahen Osten in Haifa sollte deutsch gesprochen und geschrieben werden. So wollte es der „Hilfsverein der deutschen Juden“, der das Projekt maßgeblich unterstützt hatte, so drängte auch das kaiserliche Außenamt in den Jahren 1912/1913 mit imperialer Geste und dem Nimbus wissenschaftlicher Großtaten des Deutschen Reichs. Diese Haltung löste allerdings den erbitterten Widerstand vor allem orthodoxer osteuropäischer Einwanderer aus, der noch vor dem Ersten Weltkrieg in einen „Sprachenkrieg“ mündete. Warum sollte denn Deutsch allein die Sprache der Wissenschaft sein?

Für die Zionisten war von Beginn an klar, dass das Hebräische als jüdische Nationalsprache auch die Sprache der Wissenschaft zu sein hatte. Das galt erst recht, nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, das Osmanische Reich, der Verbündete des Deutschen Reichs im Weltkrieg, von der Landkarte verschwand und Palästina britischer Mandatsherrschaft unterstellt wurde. Hatte bereits der Erste Weltkrieg dem Ansehen alles Deutschen und eben auch der deutschen Sprache Schaden zugefügt, so wurde Deutsch in Israel im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft und nach dem Bekanntwerden der Massenvernichtungspolitik gegen die Juden in Europa „verpönt und verfemt“, wie sich die Schriftstellerin Eva Avi-Yonah erinnert.

Flucht und Anpassung

Man mag sich gar nicht vorstellen, wie Else Lasker-Schüler – eine der bedeutendsten Lyrikerinnen deutscher Sprache der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – gegen Ende ihres Lebens, in den 40er Jahren, in Jerusalem umherirrte, verarmt, des Hebräischen nicht mächtig, mehr und mehr geistesverwirrt und von jeder Heimat abgeschnitten. In einem ihrer letzten Gedichte mit dem Titel An meine Freunde schrieb sie:

Der Überlebenden schwarzer Schritt Zertritt den Schlummer, zersplittert den Morgen. Hinter den Wolken verschleierte Sterne Über Mittag versteckt … So immer neu uns finden. In meinem Elternhause nun Wohnt der Engel Gabriel. O ich möchte mit euch dort Selige Ruhe in einem Fest feiern: Sich die Liebe mischt mit unserm Wort.

Nein, die Liebe mochte sich mit dem deutschen Wort nicht mehr mischen. Es ist kein Zufall, dass die Lyrikerin Rose Ausländer, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem damals sowjetisch gewordenen Czernowitz, dem „Jerusalem des Ostens“, in die USA zog (sie besaß einen amerikanischen Pass), in Amerika keine Gedichte auf Deutsch verfasste. Erst nach ihrer Rückkehr nach Deutschland schrieb sie wieder deutsch. Unter den 55.000 Juden, denen zwischen 1933 und 1939 die Flucht vor Krieg und Vernichtung gelang, befand sich auch eine Reihe bedeutender Schriftsteller deutscher Sprache. Man fragte sie, ob sie aus Zionismus oder aus Deutschland gekommen seien. Damit war viel gesagt – und viel gemeint. Vor allem aber eines: Anpassung. Im Jahr 1935 zählte man bereits 20.000 deutsche Einwanderer, die entweder die Jüdische Rundschau oder das MB, das Mitteilungsblatt der Einwanderer aus Deutschland lasen.

Die Sprache von den Nazis befreien

Je mehr aber auch die „Jeckes“, also die im Vergleich zu ihren neuen Landsleuten in Kleidung und Umgang förmlicheren deutschen Juden, sich in den israelischen Staat integrierten, je mehr die Shoah, die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegen die Juden in Europa und die Erinnerung daran mit der Staatsräson Israels zusammengingen, desto deplatzierter mussten das Deutsche und deutsche Dichtung in Israel wirken.

Erst mit der besonderen Beachtung, die individuelle wie kollektive Erinnerungen seit dem Ende der 70er Jahre in Israel, in Europa und den USA erlangten, kehrte auch die Erinnerung an die deutsche Sprache in Israel zurück, die nicht durch den Nationalsozialismus okkupiert bleiben sollte. „Warum soll ich mir die Sprache wegnehmen lassen?“, fragt Annemarie Königsberger in dem Film Der Klang der Worte von Gerhard Schick, der im Jahr 2008 im Auftrag des Goethe-Instituts produziert wurde. Gewiss, die Nationalsozialisten und all ihre Mitläufer hätten die deutsche Sprache in Besitz genommen, aber das Schöne konnten sie doch nicht auslöschen, vor allem nicht das „mystische Klangbild der Kindheit“. Der große Journalist und Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin, 1914 als Fritz Rosenthal in München geboren, fasste es einst so: „Aus dem Vaterland kann man auswandern, aus der Sprache nicht.“ So versammelt Annemarie Königsberger spät noch, im Jahr 1982, etwa ein Dutzend deutschsprachiger Dichter und Dichterinnen im „Lyris“-Kreis. Sie treffen sich im Haus von Eva Avi-Yonah in Ost-Jerusalem, es gibt Kaffee und Kuchen, sie tragen sich ihre Dichtungen vor, diskutieren.

Ein neuer Nationalismus

Sie sind betagte Einwanderer und Fremdheit bleibt unter diesen Umständen Teil ihres Lebens. Sie wissen aber auch, dass ganz Israel Einwanderungsland ist und zugleich alte Heimat sowohl für Juden wie für Araber. Und einen eigenen Staat zu bilden, ist eben auch das Ziel und eine Art Verheißung für die Palästinenser. Es war ein Zeichen politischer Klugheit, dass die Verfassung des Staates Israel zwei Amtssprachen zugelassen hatte: Hebräisch und Arabisch. Diese Wahl trug den Realitäten im Land Rechnung und hielt die Tür offen für Verständigung, buchstäblich.

Im Jahr 2018 aber schlug die israelische Politik diese Tür zu: Hebräisch ist seitdem alleinige Amtssprache. Der Sprachenkrieg befeuert einen Nationalismus, der alles Gemeinsame ablehnt. So schrieb die Kinderbuchautorin Eva Avi-Yonah, die 1935 aus Deutschland auswanderte: „Ich wollte nicht mitkommen. Nationalismus fand ich falsch, eine Fortführung der Nazi-Tradition. Ich bin in einer anderen Weise zionistisch.“ Sie hatte als Jugendliche in Deutschland Selbstmordgedanken und beschreibt das Milieu ihrer Herkunft so: „Man war intellektuell, hatte Dienstboten, aber wenig Gefühl.“ Und sie fordert: „Es sollte für ein Einwanderungsland normal sein, dass die Muttersprachen weiter gepflegt werden.“

Ein Gedichtband jenseits der Ausgrenzung

Arnold Zweig, der 1934 nach Haifa zog und in der deutschsprachigen Zeitschrift Orient publizierte, wurde von national-jüdischen Gruppierungen heftig angegriffen. Man verübte Brandanschläge auf das Verlagsgebäude, sodass der Orient zum Januar 1943 eingestellt werden musste. Im Roman De Vriendt kehrt heim hat Zweig die mörderische Exklusivität des Nationalismus anhand des ersten politischen Mordes an dem niederländischen Juden Jacob Israel de Han durch die israelische Untergrundbewegung „Hagana“ literarisch verarbeitet. De Hans Verbrechen bestand darin, dass er sich für Verständigung mit den Arabern eingesetzt hatte.

Der Historiker Moshe Zimmermann stellte vor Jahren fest, dass der zionistische Nationalismus die falsche Konsequenz aus all dem Leid gezogen habe. Die Frage ist nur, ob die fatalen Konsequenzen künftig umgangen werden können. Hierbei sind der Fundamentalismus und die Geschichtsferne der Kritik, wie sie etwa von der Kampagne BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“) und auch von deutschen Institutionen und Vereinen gestützt werden, als Spiegelung des Fundamentalismus Teil des Problems und nicht die Lösung, sie machen die Welt wieder ein Stück schlechter. Wer sich das vor Augen führen möchte, dem sei der Band Lyris. Deutschsprachige Dichter und Dichterinnen in Israel empfohlen. Versammelt sind darin Gedichte und biografische Erläuterungen. Die Herausgeberin, Dorothea Wahl, hat mit Sorgfalt und Empathie Werke und Lebensgeschichten dieses Dichterkreises aufbewahrt und uns damit eine Welt jenseits der Verheißungen der Ausgrenzung eröffnet.

Michael Jeismann
Michael Jeismann ist Historiker und Journalist. Er erhielt den Jean-AméryPreis für Essayistik und veröffentlichte zuletzt Die Freiheit der Liebe. Paare zwischen zwei Kulturen. Eine Weltgeschichte bis heute (Hanser Verlag, München 2019).