Die Botschaft des Orpheus
Hört nicht auf zu singen, auch wenn die Welt an allen Ecken und Enden brennt. Gesang beseelt und öffnet uns für alles Schöne.
Orpheus war der Sohn des Gottes Apollo und der Muse Kalliope, folglich ein Halbgott. Der Mythos sagt, dass die Macht seines Gesanges zur siebensaitigen Leier so gewaltig war, dass er damit seine Frau Eurydike von den Toten erlöst habe. Eurydike war nach einem Schlangenbiss gestorben. Orpheus konnte Persephone, die Göttin der Unterwelt, mit seinem Gesang dazu bringen, Eurydike noch einmal zu den Lebenden zu lassen, – gegen alle Verwaltungsvorschriften der Antike – unter der Bedingung: Orpheus dürfe sich nicht nach Eurydike umblicken, bevor sie beide das Tageslicht erreicht hätten.
Man weiß, wie die Sache ausging: Die bekannte Ungeduld der Männer ließ die Sache schiefgehen. Orpheus sah sich um, und Eurydike starb endgültig.
Heute ist Singen aus unserem Alltag weitgehend verschwunden, kaum eine Mutter singt ihr Kind noch in den Schlaf, es wird nicht mehr zur Arbeit gesungen und auch nicht, um sich in einer Schlacht Mut zu machen. Erstaunlich, welch faszinierende Wirkung Berufssänger auf ihre Mitmenschen ausüben. Ob die drei Tenöre, Michael Jackson und Madonna: Menschen lassen sich von Gesang rühren.
In Zeiten existentieller Bedrohung finden Menschen zum Gesang zurück, so nach der Trauerfeier am 11. September am Ground Zero. Gesang und Sprache – der Unterschied ist größer als vermutet.
Für ein neu geborenes Kind ist die Sprache der Erwachsenen eine unverständliche Ansammlung von akustischen Signalen. Erst allmählich lernt es, den Lauten Bedeutungen zuzuordnen.
"Am Anfang war das Wort": Goethe erkannte, welche Bedeutung Sprache für die Erkenntnisfähigkeit der Menschen bedeutete. Dabei gibt es keinen "inneren Zusammenhang" zwischen einem sprachlichen Laut und dem bezeichneten Gegenstand. Paul Watzlawick beschreibt dies so: "Es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb die fünf Buchstaben k, a, t, z, e in dieser Reihenfolge ein bestimmtes Tier bezeichnen – es besteht lediglich ein semantisches Übereinkommen für diese Bezeichnung. Eine fremde Sprache müssen wir lernen."
Ein Säugling gibt längst lallende, im weiteren Sinne singende Laute von sich, bevor er die Bedeutung eines Wortes kennt. Seine Mutter wird jedoch seine seelische Befindlichkeit und seine Wünsche unmittelbar verstehen.
Ein Hörer kann vom Gesang eines Sängers buchstäblich zu Tränen gerührt sein, obwohl der Singende in einer Fremdsprache singt, er den Sachverhalt des Geschehens also nicht versteht. In diesen Fällen wird offenbar eine Information vermittelt, die anders ist als Sprache, eine Information, die "unmittelbar" verstanden wird.
"Liebste Freundin, was haben Sie nur für ein entzückendes Kleid an!" Dieser Satz ist selten ehrlich gemeint. Die Angesprochene weiß, dass ihre Freundin meist das Gegenteil meint: "Sie alte Ziege haben heute einen besonders schrecklichen Fummel an!" Der gesangliche Anteil überlagert den Wortsinn – eine raffinierte Form der Beleidigung.
Stimmlich begabte Natursänger gelten heute als Ausnahme. Frederick Husler schreibt: "Den künstlerischen Bühnenleitern ist es nur allzu bekannt, jene tonprächtigen Entladungen mit dem klagenden Unterton, mit der 'Träne', mit der brünstigen Beseeltheit, die, so betörend sie sein mag, in keinen Zusammenhang zu bringen ist mit dem, was es zu interpretieren gäbe."
Ein Leben ohne Gesang ist problematisch, der Mensch ist von Geburt an Sänger. Guido Adler zitiert in seinen Vorlesungen Richard Wagner:
"Gesang, Gesang und abermals Gesang, ihr Deutschen! Gesang ist nun einmal die Sprache, in der sich der Mensch musikalisch mitteilt, und wenn diese nicht ebenso selbständig gehalten und gebildet wird, wie jede andere kultivierte Sprache es sein soll, so wird man euch nicht verstehen..."
Günter Binge
Prof. Günter Binge (RC Lübeck-Holstentor) erhielt 1986 den Ruf an die Musikhochschule Lübeck, wo er bis 2012 lehrte. Er unterrichtete in Meisterkursen im In- und Ausland.