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Die Emanzipation des Körpers
Andreas Beyer begibt sich auf Spurensuche der vergessenen Körperlichkeit der Kunst. Über den Kampf der Künstler um, mit und gegen den Leib.
Eigentlich versuchten die Künstler seit der Renaissance, ihren Körper loszuwerden. Denn allein durch demonstrative Geistesarbeit ließ sich die jahrhundertealte Zuordnung von Malern und Bildhauern zu den „artes mechaniae“ – den „niederen“ produzierenden Gewerben – überwinden. Nur ein Produkt des Kopfes und eben nicht des Körpers versprach sozialen Aufstieg und Aufwertung der eigenen Tätigkeit. Die Vorstellung von Kunst und Kunstwerk, wie sie sich zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert herausbildete, beruhte ganz wesentlich auf dem Ausblenden des Körpereinsatzes. Erfolgreich angewandt hatten diese Strategie im Übrigen bereits die Architekten, die sich auf den Entwurf eines Baues konzentrierten, die konkrete Ausführung delegierten und daher bereits um 1400 deutlich höher angesehen waren als Maler und Bildhauer.
Michelangelos Genügsamkeit
Die heute so naheliegend scheinende Einsicht, dass man als Maler „den Kopf (auch und vielleicht sogar vor allem) in der Hand haben könne“, wie es in der niederländischen Kunstliteratur des 17. Jahrhunderts formuliert wurde, blieb ein Minderheitenvotum. So kann etwa Gotthold Ephraim Lessing den Maler Conti in Emilia Galotti (I, 4) verwundert fragen lassen: „Oder meinen Sie, […] dass Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?“ Ganz in diesem Sinne bewahrte noch der berühmteste französische Maler des mittleren 19. Jahrhunderts, Jean-Auguste-Dominique Ingres, einen Knochensplitter selbstverständlich von Raffaels Schädel als eine Art inspirierender Reliquie in seinem Atelier auf.
Erst als wenig später die Avantgarden die Tradition der Kunst seit der Renaissance radikal infrage stellten, wurde auch dem Körper der Künstler (und nun zunehmend auch der Künstlerin) wieder mehr Bedeutung zugestanden. Brillant illustriert dies der Zeichner Caran d’Ache um 1880 in einer Serie von Künstler-Karikaturen: Die körperlichen Besonderheiten der Maler spiegeln sich unmittelbar in ihren Werken. Der Witz ergibt sich daraus, dass hier Kopf, Körper und Kunst so offensichtlich in eins zusammenfallen.
Gegen diese Verdrängung des Künstler-Körpers in der Frühen Neuzeit erkundet Andreas Beyer in seinem neuen Buch die „vergessene Signatur des Lebens“ in der Kunst. In 16 Kapiteln wird das Spektrum der Körperlichkeit frühneuzeitlicher Künstler entfaltet. Es reicht vom niederländischen Maler Cornelis Ketel, der sich 1599 entschlossen hatte, seine Bilder ohne Pinsel direkt mit den Fingern zu malen und der im folgenden Jahr noch exzentrischöffentlichkeitswirksamer dazu überging, ausschließlich seine Füße zu benutzen, bis hin zum Freitod des Architekten Francesco Borromini im Rom des Jahres 1667. Anhand zeitgenössischer Zeugnisse rekonstruiert Beyer die Beweggründe des berühmten Baumeisters für diesen finalen Schritt, die wohl weniger mit „Melancholie“ und psychischer Disposition zu tun hatten als mit anhaltenden schweren Schmerzen und Borrominis Bewunderung für antike Vorbilder, die ebenfalls selbstbestimmt ihrem Leben ein Ende setzten.
Die eigentlichen Protagonisten von Beyers Buch heißen jedoch Michelangelo, Dürer, Cellini und Pontormo. Für Michelangelo kolportieren die zeitgenössischen Lebensbeschreibungen seine geradezu asketische Genügsamkeit: Er isst und schläft wenig. Ein kostbares Kleidergeschenk und anderen Luxus weist er zurück. Michelangelos Körperhygiene dürfte heute bedenklich erscheinen: „Als er noch kräftiger war, hat er oft in Kleidern und mit Halbstiefeln an den Füßen geschlafen, weil er diese sowohl wegen der Krämpfe, an denen er andauernd litt, als auch wegen anderer Gründe immer anbehielt. Manchmal zog er sie so lange nicht aus, dass zusammen mit den Stiefeln sich auch die Haut wie die einer Schlange löste.“ Die körperliche Anstrengung, die Decke der Sixtinischen Kapelle auf dem Gerüst über Kopf zu freskieren, kommentiert Michelangelo selbst mit einem Gedicht und einer karikierenden Zeichnung. Zu fragen wäre, ob er seine Rückenschmerzen durch exzessiven Alkoholkonsum lindern wollte, auf den die Rechnungsbelege für umfangreiche Wein-Lieferungen während der Arbeit in der Sixtina hinweisen.
Körpersäfte als Teil des Werks
Von Dürer kennen wir seine Träume, seine Krankheiten und wissen, dass er seinen eigenen nackten Körper offenbar auch im Hinblick auf seine Sexualität studierte. Ganz explizit dazu äußerte sich der Bildhauer und Bronzegießer Benvenuto Cellini. So diente Cellini seine Magd nicht nur als Akt-Modell für das Relief der Nymphe von Fontainebleau. Gleichzeitig zeugte er mit ihr auch ein Kind. Der frühneuzeitliche „Super-Künstler“ und zugleich „Super-Macho“ beglückt mit seiner unerschöpflichen Potenz nicht nur die Kunst-, sondern auch die Frauenwelt. Dieses (Er-)Zeugen von biologischen und Geistes-Kindern hatte bereits Plato in Beziehung gesetzt. In der Frühen Neuzeit sollte es die wohl verbreitetste Denkfigur überhaupt zum Verhältnis von Künstler-Körper und Werken werden. Dagegen notierte der Florentiner Maler Pontormo penibel nebeneinander in seinem Tagebuch Aufträge und Arbeiten, künstlerische Ideen, Ernährung, Verdauungsprobleme und Krankheiten. Seine Motivation dafür bleibt einigermaßen schleierhaft: „[Den 16. Juli 1555 Dienstag] die Figur da angefangen [am Rand eine Skizze dazu], zum Abendessen ein wenig zähes Fleisch, das mir nicht guttat, […]. Mittwoch, zwei Spiegeleier. Donnerstag früh zwei feste Würste gekackt […].“
Die Ausführungen des sehr ansprechend vom Verlag Klaus Wagenbach gestalteten Buches, das man am liebsten in einem Anlauf durchlesen will, enden nach 251 Seiten und 80 Abbildungen mit einem Ausblick ins 20. Jahrhundert und auf die Gegenwart. 1946 hatte Marcel Duchamp eine „fehlerhafte Landschaft“ („Paysage fautif“) tatsächlich (auch) mit Sperma gemalt. Das Werk verweist einmal mehr auf die lange Tradition der (männlichen) Denkfigur, wonach geistiges und körperliches Zeugen vergleichbare Vorgänge seien. Es markiert aber insofern auch eine Zäsur, als hier die Materialität des Körpers tatsächlich in das Werk eingeht.
Zugleich verweist dies auf die zentrale Frage des gesamten Buches zurück: Spielte auch für die Auftraggeber und das Publikum im Europa vor der Moderne der Körper des Künstlers oder der Künstlerin eine entscheidende Rolle? Oder projizieren wir die aktuelle Faszination an Biografie und Körper mit zu großen Erwartungen auf die seit der Renaissance erstmals in größerer Zahl erhaltenen Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente zurück? Leonardo da Vinci konnte noch um 1500 kritisieren, dass „jeder Maler [nur] sich selbst male“. Für Leonardo galt es, die begrenzten eigenen seelischen und somatischen Erfahrungen zu überwinden, nicht zu reproduzieren. Und anders als beim Fußmaler Ketel scheint es ein weiter Weg von Pontormos Verdauungsproblemen zu dessen hochartifiziellen, überlängten und subtil kolorierten Figuren. Die Vorstellung, dass das Wesen eines Künstlers, einer Künstlerin genau darin bestehe, das individuelle Verhältnis zur Welt zum Ausdruck zu bringen, bildet sich jedenfalls erst im 19. Jahrhundert aus. Andreas Beyers Untersuchung zu Künstler, Leib und Eigensinn bietet nun eine neue Grundlage, um über diese komplexen Dynamiken und „körperlichen“ Faktoren der Kunstproduktion und -rezeption in der Frühen Neuzeit nachzudenken.
Buchtipp
Andreas Beyer
Künstler, Leib, Eigensinn.
Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst.
Verlag Klaus Wagenbach 2022,
336 Seiten, 80 farbige Abbildungen, 36 Euro
© Helena Heilig