Hoffmeisters Fundstücke
Die Ukraine verstehen
Literatur und Musik gewähren vielfältige Einblicke in das Land und seine Geschichte.
Der österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth zählt fraglos zu den wegweisenden Stilisten der europäischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Werke wie Radetzkymarsch, Hiob, Leviathan, Die Kapuzinergruft ebenso wie zahllose journalistische Arbeiten markieren bis heute sprachliche und stilistische Massstäbe. Zu den zentralen Themen von Roths umfassendem Œuvre gehörten stets das Schicksal der (Ost-)Juden, Aspekte jüdischer Identität und der Untergang des Habsburger Reiches. Selbst galizisch-jüdischer Provenienz erlebte der Autor den Ersten Weltkrieg als Soldat und wandte sich nach der Militärzeit dem Journalismus zu. Roths Essay Juden auf Wanderschaft nimmt das Schicksal der Ostjuden in den Blick, die Mitte der 1920er Jahre infolge des Krieges und der Russischen Revolution ihre Heimat verließen, um im „Westen“, zumal in Metropolen wie Berlin, Wien, Paris oder New York, eine sichere Existenz zu etablieren. Im Reportage-Stil skizziert Roth nicht nur die beschwerliche Reise der Emigranten ins neue Leben, sondern seziert überdies Irrtümer und falsche Hoffnungen. Denn am Ziel angekommen, schlugen ihnen Ignoranz, Ablehnung und Aggression entgegen. Illusionen wendeten sich in Elend, Armut und Verzweiflung. Entschieden zugewandt, entlang subjektiver Verve, zeichnet Roth ein Porträt entwurzelter Menschen, die an den Segnungen der neuen Welt kaum teilhaben konnten. So liegt Roths analytisch-erzählerischer Fokus zum einen auf Reflexion und Darstellung jüdischer Identität und jüdischer Lebenswelten, zum anderen auf Hybris und Missverständnissen westlicher Zivilisation. Seine sprachgewaltig nachgezeichneten Szenerien aus den jüdischen Vierteln der Metropolen bilden seltene literarische Höhepunkte – für das Hörbuch sprecherisch suggestiv und facettenreich umgesetzt von Norbert Wendel.
Drei Komponisten, drei Generationen, drei Werke: Vorliegende CD mit Klavierquintetten des 20. Jahrhunderts ukrainischer Provenienz präsentiert konträre stilistische Tableaus zwischen Polystilistik, russischen Idiomen, Elementen nationaler Folklore und westlicher Avantgarde. Mal kantig, rhythmisch forciert, bedrohlich drängend, mal schwebend-indifferent, kontemplativ-spirituell, mystisch-introvertiert, von romantischem Zuschnitt oder dialogisch zugespitzt. Und wenngleich von Ferne bisweilen Anklänge an Werke Schostakowitschs, Prokofjews oder Weinbergs vernehmbar sind, so offeriert das versiert aufspielende ukrainische Ensemble doch originäre, selten gehörte Klangwelten.
Lassen sich Emigrationserfahrung und Integration in neue, fremde Lebenswelten angemessen, schlüssig und authentisch im Roman spiegeln? Zweifellos, wenn die Dramaturgie entsprechend angelegt ist. Autorin Sasha Marianna Salzmann spielt virtuos auf dem reichen Instrumentarium sprachlicher, stilistischer und formaler Mittel, um dem Sujet gerecht zu werden. Mit Raffinement überblendet und koppelt Salzmann Leben und Erfahrungen von Müttern und Töchtern. Sie zeichnet Biografien, Kontexte und Erfahrungen aus über mehr als vier Jahrzehnten nach: Repression und Korruption in der Sowjetunion, Chaos und Zerfall in der postsowjetischen Ära, schließlich die Übersiedlung der Protagonistinnen aus der Ukraine nach Deutschland. Mit ausgesuchter Empathie gegenüber ihren Figuren verhandelt die Autorin existenzielle Themen wie Entwurzelung, Fremdsein, Mütter-Töchter- und Generationenkonflikte sowie die unterschiedlichen Perspektiven auf Erinnerung und den veränderten Status quo.
Wer – jenseits des Russlandkonfliktes oder von Gaspipelines – von den globalen Leitmedien umfassende und regelmäßige Berichterstattung in Sachen Ukraine erwartet, wird zumeist enttäuscht. Hintergrundinformationen zu geschichtlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen, mithin Aspekte ukrainischer Alltagswelten, bleiben weithin ausgeblendet. Wissen aus erster Hand offeriert mit Ukrinform die einzige nationale, unabhängige Nachrichtenagentur des Landes. Sie verfügt nicht nur über das größte Korrespondentennetz in den Regionen und im Ausland, sondern veröffentlicht ihren Content (Nachrichten, Interviews, Reportagen, Kommentare, Fotos, Grafiken, Special Features und mehr) zudem in sämtlichen gängigen Weltsprachen.
- Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, gelesen von Norbert Wendel, Aureon Verlag, Hörbuch
- Ukrainian Piano Quintets, Lyatoshynsky – Poleva – Silvestrov, Bogdana Pivnenko, Naxos, CD
- Sasha Marianna Salzmann, Im Menschen muss alles herrlich sein, Suhrkamp Verlag, 384 S., 24 Euro, Buch
- Ukrinform, ukrainische Nachrichtenagentur, ukrinform.de
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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