Buch der Woche
Ein wenig bekannter Winston Churchill
Am 24. Januar jährt sich der Todestag von Winston Churchill zum 50. Mal. Aus diesem Anlass stellen wir Ihnen heute eine Biografie über den britischen Staatsmann vor, die Churchill in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Auf Messers Schneide:
Mai 1940
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.
(J. W. von Goethe, «Kophtisches Lied»)
Um 7.30 Uhr am 15. Mai 1940 klingelt im Schlafzimmer des britischen Premierministers Winston Churchill das Telefon, ungewöhnlich früh für einen Mann, der bis in die Nacht hinein zu arbeiten pflegt und gerne spät aufsteht. Es ist der französische Ministerpräsident Paul Reynaud, der ihn aus der Morgenruhe scheucht, mit einem SOS: «Wir haben die Schlacht verloren, unsere Armee löst sich auf (...), die Schlacht ist verloren.» Der Franzose steht noch unter Schock, er wiederholt sich, spricht wie gestammelt, denn kurz zuvor hat ihm Außenminister Daladier mitgeteilt, was dieser von der Generalität erfuhr: Es ist aus, vorbei, gegen die nach Frankreich hereinströmenden feindlichen Heere gibt es keinen Widerstand mehr.
Nun, die Franzosen mochten sich geschlagen geben – ein Churchill nicht. «Es ist einfach lachhaft zu glauben, Frankreich könne von 120 deutschen Panzern erobert werden», grollt er durch den Rauch seiner Zigarre, die nicht fehlen darf, wenn er nach dem Frühstück im Bett seine Berater ins Schlafzimmer bittet und hoch gegen sein Kissen aufgerichtet die Geschäfte dirigiert. Der deutsche Angriff war am 10. Mai, dem Tag von Churchills Amtsübernahme als Premierminister, losgebrochen, ein ominöses Zusammentreffen – der «Blitzkrieg», wie man diese Phase des Krieges im Westen bald nennen würde, rollte an. Offenbar war Churchill über die prekäre Lage der Truppen des mit England verbündeten Frankreich nicht eingeweiht und auch nicht über den Niedergang der französischen Kampfmoral. Das sollte er in seiner Geschichte des Zweiten Weltkrieges, deren sechs Bände 1948 zu erscheinen begannen, anprangern: «Warum war die Regierung Seiner Majestät nicht ins Bild gesetzt, warum nicht genauer informiert worden!?»
Zu Frankreich unterhielt Churchill schon immer ein romantisch-sentimentales Verhältnis. «Die französische Infanterie wird die Rechte und Freiheiten Europas treu bewachen», hatte er 1907 geschwärmt, nach einem ersten Besuch bei französischen Manövern. London und Paris waren seit 1904 durch eine Entente Cordiale verbunden, in Frankreich sah Churchill, neben England, ein Urmeter der Zivilisation aufbewahrt. Noch im September 1938 lesen wir in einem seiner Artikel für den «Daily Telegraph», nach dem Besuch des britischen Königspaares in Paris: «Ist es nicht wunderbar, die Ruhe eines Volkes zu beobachten, wo die Nation die Armee ist und die Menschen ihre Regierung in Besitz haben (...) Kein Sprengstoff ist so stark wie die Seele eines freien Volkes.» Das klingt wie die Projektion des eigenen Nationalcharakters auf eine befreundete, bewunderte Nation. Nur ungern wollte sich Churchill im Mai 1940 bequemen, den Zusammenbruch der französischen Kampfbereitschaft zur Kenntnis zu nehmen.
Stattdessen beschloss er, sich trotz der deprimierenden Nachrichten aus Paris dem drohenden französischen Kollaps entgegenzu - stemmen. Fünf Mal wird er zwischen dem 16. Mai und dem 13. Juni 1940 in dieser Mission nach Frankreich fliegen. Schon bei seinem Besuch im Quay d’Orsay, dem französischen Außenministerium, fällt ihm die «absolute Niedergeschlagenheit in jedem Gesicht» auf. Am 11. Juni empfängt ihn auf einem Flugfeld südlich von Paris ein fran - zösischer Militär mit finsterer Miene. «Ich trug die lächelnde Sicher - heit und den zuversichtlichen Ausdruck zur Schau, die als angemessen gelten, wenn die Dinge sehr schlecht stehen», erinnert sich Churchill später, nicht ohne Ironie. Aber die Begrüßungsordonnanz hat dafür keine Antenne – oder durchschaut der Mann die freundliche Maske des Briten? Beim letzten Mal, zwei Tage später, landet der Premier in Tours, wohin die französische Regierung vor der deut - schen Wehrmacht zurückgewichen ist – einen Tag danach, am 14. Juni 1940, wird Paris besetzt.
Bei allem Ringen um den Willen Frankreichs, weiterzukämpfen, muss sich Churchill auf die Zeit einstellen, wenn «eine gewisse Eventualität», wie der britische Generalstab den möglichen Zusammenbruch Frankreichs umschreibt, eintreten würde. Was dann? Was dann mit England, das einem von Nazi-Deutschland eroberten Europa vorgelagert wäre? Ein Szenario, das nicht nur nach Vorausschau, sondern vor allem nach Voraushandeln ruft, nach Verankerung des Schicksals der Insel an einem Ort möglicher Hilfe. Und der lag in Amerika, Churchills zweiter Heimat – seine Mutter, Jennie, eine geborene Jerome, war Amerikanerin. Seit Beginn des Krieges im September 1939 standen der Präsident der USA , Franklin Delano Roose velt (« FDR »), und Churchill, der neue Marineminister in der Regierung Neville Chamberlains, in Briefkontakt, von FDR am 11. September («My dear Churchill») initiiert – der Präsident war selbst einst Staatssekretär im amerikanischen Marineministerium gewesen, das verband. Aus diesen tastenden Kontakten erwuchs im Laufe der Kriegsjahre eine gewaltige Korrespondenz von über 1700 Briefen, Telegrammen und anderen Botschaften – 700 von Roosevelts, über 1000 von Churchills Seite. Das Barometer einer einzigartigen Partnerschaft, durchmischt mit immer stärker hervortretenden Anzeichen einer politischen Konkurrenz, wie wir noch sehen werden.
Der eher lockere Austausch aus der Anfangsphase des Krieges ändert sich mit Churchills Ankunft in der Downing Street, die fran - zösische Kalamität bringt Dringlichkeit in die Korrespondenz. Dem Amerikaner soll reiner Wein eingeschenkt werden über die Lage eine Aufforderung an den Partner, die isolationistische Stimmung in den USA zu überwinden, ziehe doch auch für Amerika und seine Weltgeltung große Gefahr herauf. Es geht Churchill um nichts Geringeres als darum, in Amerika einen neuen Verbündeten zu finden und diesen für die schweren Tage zu verpflichten, die er auf sich und England zukommen sieht. Unter dem Eindruck des Telefonats mit Reynaud schreibt Churchill noch am gleichen Abend an Roosevelt:
«Wie Sie zweifellos bemerkt haben, hat sich die Szene rasch ver - düstert. (...) Wir müssen damit rechnen, dass Mussolini eilen wird, sich an der Plünderung der Zivilisation zu beteiligen. [Italien trat am 10. Juni an der Seite Nazi-Deutschlands in den Krieg ein.] Wir selbst rechnen damit, in naher Zukunft aus der Luft und mit Fall - schirmtruppen angegriffen zu werden; darauf bereiten wir uns vor. Wenn nötig, werden wir den Krieg allein fortsetzen, das schreckt uns nicht. Aber Sie, Herr Präsident, sind sich gewiss darüber im Klaren, dass Stimme und Kraft der Vereinigten Staaten vielleicht nichts mehr zählen, wenn beide allzu lange zurückgehalten werden. Vielleicht se - hen Sie sich schon morgen einem völlig unterworfenen, nazifizierten Europa gegenüber. (...) Alles, worum ich Sie bitte, ist daher, dass Sie sich offiziell als nicht kriegführend erklären, was bedeuten würde, dass Sie uns mit allem helfen könnten, bis auf den tatsächlichen Ein - tritt in den Krieg.» Unter dem Kriegsmaterial, um das Churchill bit - tet, sind auch «vierzig oder fünfzig Ihrer älteren Zerstörer».
Ein Verbündeter ist dabei, verloren zu gehen – ein anderer soll den frei werdenden Platz einnehmen, um England vor dem Unter - gang zu bewahren. Auch der britische Generalstab hatte in einer geheimen Studie festgehalten, die Insel könne den Kampf zwar ohne Frankreich fortsetzen, aber nicht ohne die Vereinigten Staaten. Die Stabschefs nahmen aber an, dass die USA bereitwillig «volle wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung gewähren würden, ohne welche wir den Krieg nicht mit Aussicht auf Erfolg glauben führen zu können». Konnten sie so sicher sein?
Roosevelt hatte – was Churchill nicht wusste – von verschiedenen Beratern längst erfahren, was in Europa auf dem Spiel stand. Einer davon, ein anti-britischer Einflüsterer, war der damalige US-Botschafter in London, Joseph P. Kennedy, der Vater des späteren Präsidenten. «Ein neureicher Millionär mit vulgären Zügen in Charakter und Denken», wie John Lukacs ihn in seiner bedeutenden Studie «Fünf Tage in London» nennt, hatte Kennedy im März 1940 sei - nem Amtskollegen William C. Bullitt Jr. in Paris anvertraut, seiner Meinung nach werde Deutschland den Krieg gewinnen und Groß - britannien «zur Hölle gehen». Die Aussicht schreckte ihn nicht, hielt der Nazi-Freund doch Churchills scharfe Ablehnung des Hitler- Regimes für einen schweren Fehler – der Hauptgegner sei und bleibe der Kommunismus. Kennedy agierte als gläubiger Defätist, was selbst ehemalige britische Befürworter der Appeasement-Politik ge - genüber Hitler als unerträglich empfanden. Er sah überall auf der Insel nur Verzagtheit, eine Einschätzung, die 1940 der Wahrheit nicht einmal gänzlich widersprach. Am Sonntag, den 19. Mai, hörte Chur - chills Gattin Clementine von dem Geistlichen in der Kirche St Martin-in-the-Fields am Trafalgar Square «eine derart pazifistische Rede (...), dass sie aufgestanden sei und die Kirche verlassen habe», wie John Colville, Churchills stellvertretender Privatsekretär, in seinem Tagebuch notierte. «‹Du hättest laut Schande rufen sollen›, bemerkte Winston, ‹das Haus Gottes mit Lügen zu entweihen.›» Colville, ursprünglich in seiner Einstellung zu Churchill eher kritisch, kommentierte: «Es ist erfrischend, für einen Mann zu arbeiten, der sich auch von der größten Gefahr, die sein Land bedroht, nicht unterkriegen lässt.»
Die Überzeugung, dass England auf verlorenem Posten stehe, bewog Kennedy zu versuchen, Roosevelt von der Nähe zu London abzudrängen und der anti-britischen Neigung unter den amerikani - schen Isolationisten weiter Nahrung zu geben. Schon im November 1939 hatte er den Präsidenten gewarnt: «Wir sollten keinen Fehler begehen. In Großbritannien gibt es einen starken unterschwelligen Hang zum Frieden.» Im Dezember war er mit Roosevelt zusammen - getroffen und hatte ihm berichtet, wie unbeliebt Churchill in Cham - berlains Kabinett sei, «skrupellos und hinterhältig», ein Mann, der die USA am liebsten in den Krieg verwickeln würde. Auch damit hatte Kennedy nicht ganz Unrecht, obwohl seine Beschreibung von Churchill grob übertrieben war. Im Übrigen pflege der neue Marine - minister, so giftete der Botschafter, besondere Kontakte «zu gewissen einflussreichen jüdischen Persönlichkeiten». Als im Februar 1940 der britische Geheimdienst ein Telegramm Kennedys aus Washington an seine Mission in London abfing, worin der Botschafter um «pazifisti - sche Literatur aus England» bat, verfasste der damalige Staatssekre - tär im Foreign Office, Robert Vansittart, eine empörte Aktennotiz: «Mr. Kennedy ist ein unerträglicher Lügner und Defätist.» Auch für Roosevelt wurde dieser Nazi-Freund und Churchill-Verächter mehr und mehr zu einer Hypothek – im November 1940, nach nur zwei Jahren, berief er ihn von seinem Londoner Posten ab.
Roosevelts Antwort vom 16. Mai auf Churchills aufrüttelnde Botschaft vom Tag zuvor beruhigt diesen nicht, sie ist ihm zu hinhal - tend, vor allem in der Frage der Zerstörer, mit denen der Präsident «zu diesem Zeitpunkt» noch nicht vor den Kongress gehen zu können glaubt. Was nützt dem Wartenden in London das «The best of luck to you» am Ende des Briefes? Seiner Enttäuschung macht er in einem frustrierten Ausbruch Luft. «Ich werde die Vereinigten Staaten hi - neinziehen» – «I shall drag the United States in», äußert er «mit gro - ßer Intensität» gegenüber Randolph, seinem ältesten Sohn, wie dieser später berichtet. Churchill läuft die Zeit davon, und so entschließt er sich, FDR noch einmal wachzurütteln, mit einem Schreiben, das er zunächst wegen der Dramatik des Inhalts nicht hat abschicken wol - len, dann aber doch, allen Bedenken zum Trotz, am 20. Mai auf den Weg bringt:
«Wenn Mitglieder der jetzigen Regierung verschwinden und an - dere auftreten sollten, um unter Trümmern zu verhandeln, so dürfen Sie die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass als einziger Aktivposten bei Verhandlungen mit Deutschland die Flotte übrig wäre. Wenn die Vereinigten Staaten unser Land seinem Schicksal überlassen sollten, so hätte doch kein Mensch das Recht, den dann Verantwortlichen [in Großbritannien] einen Vorwurf daraus zu ma - chen, wenn sie versuchen würden, für die überlebenden Bewohner die bestmöglichen Bedingungen herauszuschlagen. Verzeihen Sie, Herr Präsident, dass ich diesen Albtraum so rückhaltlos ausmale. Ich kann selbstverständlich nicht für meine Nachfolger bürgen, die sich vielleicht in äußerster Verzweiflung und Hilflosigkeit dem deutschen Willen fügen müssten.» Der Hinweis auf die britische Flotte war ge - schickt – es war eine für Amerika und seine Sicherheit entscheidende Frage, in welche Hände die Royal Navy im Falle einer englischen Niederlage übergehen würde.
Ende Mai 1940 spitzt sich die Lage für Churchill, den Kriegs - herrn, weiter zu. Jetzt hätte auch Roosevelt, der ohnehin bis zum 11. Juni schweigen wird, nicht mehr helfen können. Eine Schicksals - stunde, in der sich die Frage, ob man mit den Deutschen verhandeln soll, mehr als je aufdrängt. Nicht nur ist Frankreich dabei, aus der Allianz auszuscheren, auch das britische Expeditionsheer, fast eine viertel Million Mann stark, gerät mehr und mehr in die Zone der Ausweglosigkeit. Unter den Kanalhäfen ist Boulogne bereits gefallen, Calais wird belagert und am 24. Mai geräumt, es bleibt Dünkirchen – und nur 24 Kilometer davon entfernt stehen die Spitzen der Heeresgruppe A unter dem Oberbefehl Generals von Rundstedt. Da ordnet Hitler am 24. Mai das berühmte Halt des weiteren Vormarsches an beziehungsweise bekräftigt das Einhalten, das Rundstedt bereits für diesen Tag befohlen hat: Die Panzerkräfte, erschöpft und dezimiert nach den Wochen des rapiden Vormarsches, sollen eine Verschnaufpause erhalten. Bis zum 26. Mai – dann will Göring den Rest der alliierten Truppen aus der Luft schachmatt bombardieren.
Dieser Halt-Befehl Hitlers bereitete das «Wunder von Dünkirchen» vor, die Evakuierung von 224 301 britischen und 111 172 franzö sischen Soldaten von den Stränden Nordfrankreichs bis zum 4. Juni. Doch Ian Kershaw zählt in seinem einschlägigen Buch «Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg» nicht Dün kirchen zu diesen Wendepunkten. Wie Lukacs und viele andere Historiker schaut er vielmehr auf den Churchill jener Tage und dessen dramatischen Kampf um Konsens im eigenen Kabinett, allen Vorschlägen zu widerstehen, mit Hitler einen Verhandlungsfrieden auszuloten. Dieser Kampf war der Wendepunkt und sollte mit kriegsentschei - dend werden.
Entscheidend wurde er aber auch für Churchills Bild in der Geschichte. Der Mann, den man vor 1939 gerne als einen Egomanen und Karrieristen einstufte, einen Hasardeur geradezu, unleugbar brillant, aber höchst unzuverlässig, gescheitert an sich selbst, mit einer Liebe zu überzogener Rhetorik und einer überholten Vor - stellung von Englands Größe – dieser Mann fand sich plötzlich auf den Sockel des Erretters gehoben. Ein Außenseiter, unbeirrt wider den Strom schwimmend – das werden nun die Attribute, mit denen er den Widerstandsgeist der Nation wachzurufen versteht. Das engere Kriegskabinett, mit ihm zusammen gerade einmal fünf Köpfe, wird zum ersten Testfall für diese Überredungskunst, die auch eine Form von Überwältigung ist durch die unwiderstehliche Vitalität der Persönlichkeit, die dahinter steht.
Aber zunächst agiert Churchill vorsichtig. Mit dem todkranken Neville Chamberlain als seinem Stellvertreter und Viscount Halifax als Außenminister hat er taktisch klug zwei Galionsfiguren der Appeas ement-Ära in sein Kriegskabinett gezogen, die beide weiterhin auf großen Rückhalt unter den konservativen Unterhausabgeord - neten rechnen dürfen, den er, der Premier, zu diesem Zeitpunkt noch nicht hat; zu tief sitzt in der Partei das Misstrauen gegen den «Aben - teurer», den man nach Chamberlains Erklärung seiner Rücktrittsbereitschaft am 9. Mai eigentlich nicht als Premierminister haben wollte. Halifax sollte es sein, «the Holy Fox», wie man ihn gerne nennt, wegen einer gewissen Frömmelei und seiner Liebe zur Fuchsjagd. Eher noch als die Konservativen stehen die Labour-Männer im Kriegskabinett, Clement Attlee und Arthur Greenwood, auf Churchills Seite, wie auch der Führer der Liberalen, Sir Archibald Sinclair, den der Regierungschef gelegentlich in die sich aufheizenden Diskussionen einbezieht.
Ein sprechendes Bild der Vorbehalte im Regierungsviertel gegen - über dem neuen Mann in der Downing Street vermittelt uns John Colville in einem Tagebucheintrag vom 10. Mai, dem Tag von Chur - chills Ernennung zum Premier. «Er mag zwar zugegebenermaßen der Mann mit Energie und Tatkraft sein», schreibt Colville, den Chur - chill als beamteten Privatsekretär von Chamberlain übernommen hat, «und er mag auch in der Lage sein, unsere ächzende Kriegsmaschine rie wieder in Schwung zu bringen, aber ein gefährliches Risiko bleibt er doch. (...) Jedermann ist verzweifelt über die Aussichten, die sich eröffnen.» 19.15 Uhr am selben Tag: «Rab [Butler] im Außenministe - rium meinte, die gute alte Tradition in der englischen Politik (...) sei zugunsten des größten politischen Abenteurers der Neuzeit aufgegeben worden.» Man habe sich «feige einem amerikanischen Mischling übergeben, dessen Hauptanhänger ebenso untauglich und schwatzhaft seien wie er selbst.» Lord Halifax sekundierte, wie sein Biograph Andrew Roberts («The Holy Fox», 1991) berichtet: «Bald werden die Gangster alles unter Kontrolle haben.» Starker Tobak. Von Colville und seinem Tagebuch wird in unserer Erzählung noch oft die Rede sein.
Vermehrt um das Chaos, das bald an den Kanalhäfen ausbricht, wachsen die Zweifel an Churchills Führungskraft. Jedenfalls gelangt Halifax zu der Erkenntnis, dass es an der Zeit sei, zur Rettung Eng - lands Erkundigungen über Hitlers Friedensbereitschaft einzuziehen. Hatte der Diktator nicht bereits am 6. Oktober 1939 im Reichstag verkündet, er habe sich immer «für eine deutsch-englische Verständi - gung» eingesetzt? Was, wenn die zu annehmbaren Bedingungen zu haben wäre? Das hätte auch den Franzosen geholfen, die längst in Verhandlungen mit Berlin die letzte Rettung aus ihrer ausweglosen Lage sahen. Ministerpräsident Reynaud drängte in diese Richtung, aber die Übereinkunft im britisch-französischen Kriegsrat vom März 1940 untersagte jedem der beiden Verbündeten, ohne Einwilligung des anderen Kontakte in der Frage eines möglichen Waffenstillstands aufzunehmen.
An Churchill ging also kein Weg vorbei, ihm wollte Halifax die Augen für eine andere Sicht als das absolute Nein öffnen. Der Außen - minister vertrat das klassische Prinzip der britischen Diplomatie, «reasonable» zu sein, vernünftig. Und Erkundigungen über Hitlers Einstellungen einzuholen, entspreche doch genau diesem Postulat der Vernunft. Was aber vernünftig ist, soll man nicht unversucht las - sen, das wäre töricht, so sagte er sich, treu der britischen Tradition von Common Sense und Pragmatismus. Halifax war kein Opportunist, kein Appeaser im Sinne einer Kapitulation, er wollte Churchill in Englands äußerst prekärer Lage einfach zügeln in dessen Haltung des Feuer speienden Hitler-Gegners. Anders als Churchill hatte er auch nie sehr viel von der französischen Armee gehalten. Seinem Tagebuch – wer schrieb in diesen Jahren nicht alles Tagebuch! – vertraute er an: «Wir mussten der Tatsache ins Auge sehen, dass nicht mehr die Niederringung Deutschlands zur Debatte stand, sondern die Absicherung unserer Unabhängigkeit (...). Wir sollten selbstver - ständlich bereit sein, alle Vorschläge zu prüfen, die diesem Ziel die - nen.»
Am Morgen des 25. Mai traf sich Lord Halifax mit dem italieni - schen Botschafter in London, Giuseppe Bastianini, um gemeinsam mit ihm die Möglichkeit einer Vermittlung durch Mussolini auszu - loten. Der «Duce» hatte schließlich bereits früher, im September 1938 in München, beim Zustandekommen eines Abkommens zwi - schen Paris, London und Berlin Pate gestanden. Das hatte zwar in einer schrecklichen Desillusionierung geendet, als Hitler am 15. März 1939 in Prag einmarschierte, unter Bruch der Vereinbarungen von München. Aber das war nicht italienische Schuld gewesen – vielleicht, so dachte Halifax, könnte man Mussolini mit der Verlockung italienischer Gewinne im Mittelmeer für eine neue Vermittlungsrolle gewinnen, diesmal für eine größere Friedensordnung, mit ihm und Hitler als den Baumeistern. Halifax und Bastianini verabredeten sich für den nächsten Tag erneut.
An diesem 26. Mai aber, einem Sonntag, sollte sich das Drama zwischen Churchill und Halifax in drei Sitzungen des Kriegsrats crescendohaft zuspitzen. Reynaud war nach London gekommen, um den dringenden französischen Wunsch nach Kontakten mit Mussolini zu bekräftigen. Halifax berichtete über seine Gespräche mit Bastianini. Beim zweiten Treffen des Kriegskabinetts, am frühen Nachmittag nach einem Essen mit Reynaud, zeigte Churchill sich zunächst von einer, wie Halifax es genannt hätte, «vernünftigen» Seite, ein kategorisches Nein zu Verhandlungen schien ihm offenbar noch nicht ratsam. Vielmehr, so belegen es die Protokolle jener Tage, sei er «dankbar für Angebote, die uns aus unseren gegenwärtigen Schwierigkeiten heraushelfen, selbst wenn es uns einige unserer Territorien I. Auf Messers Schneide: Mai 1940 27 kosten würde.» «Territorien»? Was für Territorien? Kolonien, nach denen es Hitler bekanntlich gelüstete? Churchill fügte allerdings seine immer wieder vorgetragene Skepsis hinzu, dass er nicht an die Möglichkeit eines solchen Handels von deutscher Seite aus glaube.
Am späten Nachmittag beraten sich Halifax und der französische Ministerpräsident, auch Reynauds Militärberater Oberst Paul de Villelume ist anwesend. Die Franzosen erfahren jetzt, wie tief ge - spalten das britische Kabinett in Wahrheit ist. Villelume, auch er ein eifriger Tagebuchschreiber, notiert sich anschließend: «Halifax zeigt Verständnis [für den Wunsch nach Sondierungen bei Mussolini]. Churchill, noch immer ein Gefangener seiner eigenen Prahlerei, bleibt entschieden ablehnend.» Als Churchill später zum dritten Mal an diesem Tag seine vier Kollegen zur Besprechung einbestellt, geht er in die Offensive: «Wenn sich Frankreich nicht länger verteidigen kann, wäre es besser, es würde aus dem Krieg aussteigen, als auch noch uns in ein Abkommen hineinzuziehen, das unannehmbare Bedingungen enthält. Wenn man Deutschland gewähren lässt, werden seinen Forderungen keine Grenzen gesetzt sein.» Dann kommt er zum Kern seiner Argumentation, dem Credo eines «free-born Englishman»: «Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht in eine schwache Position gedrängt werden, in der wir dann zu Signore Mussolini gehen und ihn auffordern, zu Herrn Hitler zu gehen mit der Bitte, er möge nett zu uns sein. In eine derartige Position dürfen wir uns nicht bringen lassen, bevor wir überhaupt ernsthaft gekämpft haben.»
Sir Alexander Cadogan, Unterstaatsekretär im Außenministerium, den Churchill zu einem Teil der Beratungen hinzugezogen hat, vermerkt danach in seinem Tagebuch: «Nichts geklärt. Churchill viel zu weitschweifig, romantisch, sentimental und erregbar. Old Neville [Chamberlain] noch immer der Beste.» Am folgenden Montag, dem 27. Mai, ist «die Stimmung im Kabinett so düster wie immer – nir - gendwo Licht zu sehen», wie sich der Beamte notiert. Churchill ver - sucht, seinen Standpunkt zu verdeutlichen: «Die einzige Möglich - keit, [unser geringes Ansehen in Europa] zurückzugewinnen, ist, der Welt zu zeigen, dass Deutschland uns nicht geschlagen hat. Doch selbst wenn wir geschlagen würden, stünden wir nicht schlechter da als bei einem Aufgeben zum jetzigen Zeitpunkt.» Zum letzten Mal macht er einen erstaunlichen Vorschlag zur Güte an die Adresse des Holy Fox: «Sollte Herr Hitler bereit sein, ein Friedensangebot zu ma - chen, das die Rückgabe der deutschen Kolonien und seine Oberherr - schaft über Mitteleuropa vorsieht», so sei das erwägenswert. Aber – Churchills altes Argument – es sei höchst unwahrscheinlich, dass Hitler ein solches Angebot jemals unterbreiten würde. Überhaupt, so trumpft er zurück: Könnte man den Worten eines Wortbrüchigen wie Hitler jemals wieder Glauben schenken?
Abgesehen von diesem Gedankenspiel bewegt sich nichts, keine Ermutigung kommt aus der Downing Street zur Aufnahme von Ge - sprächen mit Rom. In Dünkirchen sind bis zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als 5000 Soldaten evakuiert, die «Operation Dynamo» läuft erst an, aber Churchill redet von kämpfen, kämpfen, kämpfen. Nur: wo sind die Kämpfer? Und bis zu welchem Ende soll gekämpft werden? Seine Entschlossenheit hatte er bereits in der Rundfunkan - sprache vom 19. Mai unmissverständlich bekannt gegeben, am Drei - faltigkeitssonntag, wie er, der zu verfasster Religion eigentlich keine Beziehung hatte, die Zuhörer erinnerte. Er schloss mit einem Zitat aus dem 2. Buch Makkabäer: «Be ye men of valour» – «bewaffnet euch, seid Männer der Tapferkeit und bereit für den Konflikt. Denn es ist besser, wir kommen im Kampf um, als dass wir Zeuge werden der Entehrung unserer Nation und unseres Altars. Wie der Wille des Herrn im Himmel, so möge es geschehen.»
Zu solcher Unbeugsamkeit schärft Churchill seine Sprache in den Beratungen Ende Mai immer weiter an. Das geht niemandem mehr auf die Nerven als dem Mann alter Schule, Außenminister Halifax. «Ich kann mit Winston nicht mehr zusammenarbeiten», klagt er seinem Freund Cadogan und spielt mit dem Gedanken eines Rück - tritts. In seinem Tagebuch vermerkt er am Abend des 27. Mai: «Win - ston redet den unglaublichsten Mist. Greenwood war nicht besser. Nachdem ich mir das eine Zeitlang angehört hatte, sagte ich rund - heraus, was ich von ihnen hielt. Und ich fügte hinzu, dass sich unsere Wege trennen müssten, wenn sie ihre Meinung tatsächlich mit alle Macht durchzusetzen versuchten (...) Ich bin entsetzt, wenn ich sehe, wie sehr Churchill sich in leidenschaftliche Gefühlszustände hineinsteigern kann, wenn er eigentlich einen klaren Kopf bräuchte und seinen Verstand benutzen sollte.» Dabei hatte Churchills Ver - stand das allen zivilisatorischen Normen Hohn sprechende Phäno - men Hitler weit besser als seine Zeitgenossen begriffen.
Um 22 Uhr an diesem Montag ruft Churchill das engere Kriegs - kabinett der Fünf noch einmal zusammen. Seine Stimmung hebt sich merkwürdigerweise, obwohl er nach zweitägigen erschöpfenden De - batten seinen Willen noch immer nicht hat durchsetzen können. Um Mitternacht zieht er sich zurück und lässt sich einen «sehr leichten» Whisky-Soda kommen. Die Trinkgewohnheiten Churchills machten schon damals die Runde, aber die Fama übertrieb. «Der Alkohol hat weniger aus mir genommen als ich aus ihm», pflegte er zu kommen - tieren, völlig zutreffend.
Am Dienstag, den 28. Mai, geht er, was er nicht oft tat, in die Westminster Abbey. Es wird ein kleiner Bittgottesdienst abgehalten; in seinen Kriegsmemoiren wird er dazu schreiben: «Den Engländern widerstrebt es, ihre Gefühle zur Schau zu tragen, aber in meinem Sitz im Chor konnte ich die verhaltene, leidenschaftliche Bewegung der Gemeinde spüren und auch ihre Angst – nicht vor Tod und Wunden und materiellen Einbußen, sondern vor der Niederlage und dem Zusammenbruch Englands.» Bei Churchills Erinnerungen weiß man manchmal nicht, was genau beobachtet war und was sein Gefühl in eine Situation hineingelesen hat. Jedenfalls muss das beschriebene Empfinden in der Abbey, auch wenn es nur ein höchst subjektives war, ihn in seiner Überzeugung gestärkt haben, dass er für England sprach, wenn er die Ehre des Landes bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen bereit war und Friedensverhandlungen mit dem deut schen Diktator kategorisch ausschloss. In der zitierten Rundfunk - ansprache vom 19. Mai, dem Dreifaltigkeitssonntag, hatte er auch vom «Kampf für Leben und Ehre, für das Recht und die Freiheit, dem wir uns geweiht haben», gesprochen. Das war seine Predigt an jenem Sonntag, an dem Clementine dem pazifistischen Sermon des Geistlichen in der Kirche St Martin-in-the-Fields entflohen war.
Wir nähern uns dem High Noon des 28. Mai. Churchill trifft sich am späten Nachmittag mit dem Kriegskabinett zum ersten Mal seit einer Woche nicht in d er Downing Street, sondern in seinen Diensträumen im Unterhaus. Ein bezeichnender Ortswechsel, wie sich zeigen wird. Neville Chamberlain, lange Zeit über unbeweglich auf der Seite des Holy Fox, steht inzwischen auf halber Strecke zwischen den Argumentationspolen von Churchill und Halifax, wenn er konsta - tiert, «dass wir einerseits bis zum Ende kämpfen werden, um unsere nationale Unabhängigkeit zu verteidigen», andererseits aber bereit seien, «vernünftige Bedingungen zu erwägen, sofern man sie uns anbietet». Doch endet er mit dem gleichen Zweifel, den auch Churchill immer anbringt: «dass bei einer realistischen Einschätzung der Lage vernünftige Bedingungen wohl nicht zu erwarten wären.» Hatte die Krebserkrankung bereits Chamberlains Kräfte geschwächt?, fragt John Lukacs – Chamberlain erlag seinem Leiden noch im November 1940. Oder wollte er Churchills Großmut anerkennen, dass dieser ihn trotz des Zerwürfnisses über «München» in sein Kriegskabinett aufgenommen hatte? Der Premierminister trägt in dieser Sitzung ein aufrüttelndes, später oft zitiertes Wort vor: «Völker, die im Kampf untergegangen sind, sind auch wieder zu voller Stärke aufgestanden; aber die, die sich mutlos ergeben haben, waren am Ende.» Die beiden Labour-Minister, Attlee und Greenwood, unterstützen ihn mit Wortmeldungen, die Eindruck machen. Beide äußern sich besorgt um die Moral in der Bevölkerung, besonders unter der Arbeiterklasse, die geschlossen hinter der Abwehr der nationalsozialistischen Bedrohung stand. Die bloße Nachricht von Verhandlungen, so Attlee, könnte zu einer Katastrophe führen.
Was dann folgte, entschied diese Schlacht um die künftige Kriegführung, im Grunde eine Schlacht um die Seele Englands. Um 18 Uhr war das Kabinett mit dem Entschluss auseinandergegangen, sich in einer Stunde erneut zu treffen. Da ergriff Churchill eine ungewöhnliche Initiative, wobei ihm der Umstand zugutekam, dass man sich diesmal im Parlamentsgebäude befand: Er bat die anderen Minister im Kabinettsrang, die Leiter der einzelnen Ressorts, zu sich, circa 25 an der Zahl, schilderte ungeschminkt die Lage in Dünkirchen, und dass die Italiener und die Deutschen ein Angebot unterbreiten könnten, das aber abgelehnt werden müsse. Dann unterwarf er die Zuhörer der magischen Wirkung seiner Sprache: «Ich habe in den vergangenen Tagen ausführlich darüber nachgedacht, ob es meine Pflicht ist, mit diesem Mann [Hitler] in Verhandlungen zu treten. Aber es wäre dumm zu glauben, dass, wenn wir jetzt Frieden schließen, die Bedingungen besser wären als im Falle eines Kampfes bis zum Ende. Die Deutschen würden unsere Flotte verlangen – und es ‹Abrüstung› nennen –, unsere Marinestützpunkte und vieles mehr. Aus England würde ein Sklavenstaat werden, wenn eine britische Regierung unter Mosley [dem Anführer der «Schwarzhemden», der britischen Faschisten] oder irgendeiner ähnlichen Figur als Mario - nettenregierung Hitlers eingesetzt würde. Wo würde das enden?»
Churchill setzte jetzt alles auf das erweiterte Auditorium der Mit-Entscheidungsträger. Die hörten ihm gebannt zu. Seine Worte konnten ihnen nicht fremd sein. Schließlich hatte der Premier in sei - ner noch kurzen Amtszeit Englands Lage stets ohne Beschönigun - gen dargestellt, am berühmtesten in der ersten Unterhausrede am 13. Mai, drei Tage nach seiner Ernennung: «Ich möchte dem Haus dasselbe sagen, was ich den Mitgliedern dieser Regierung gesagt habe – ‹Ich habe nichts anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß (blood, toil, tears and sweat).› Uns steht eine Prüfung von allerschwerster Art bevor.» Die Worte sollten bald als «Blut-Schweiß- und-Tränen-Rede» in die Geschichte eingehen, was das ursprüng - liche Zitat um ein Wort – «Mühsal» – verkürzte. Ende Mai war der erste Test herangerückt, ob das Land die Last dieser «Prüfung von allerschwerster Art» mittragen würde oder ob Churchill am 13. des Monats nur leere Worte hervorgestoßen hatte, aus dem unerschöpf - lichen Vorrat seiner sprachlichen Bilder. Er hatte sich weit nach vorn gewagt mit dieser schonungslosen Analyse. Wie konnte er sicher sein, dass die Briten vor der grimmigen Wirklichkeit nicht kapitulieren, sondern sich hinter seiner Entschlossenheit zusammenscharen wür - den?
Dass England sich seiner Geschichte als würdig erweisen müsse – auf diesem Leitmotiv baute Churchill am Abend des 28. Mai 1940 vor der gesamten Ministerrunde seine Argumentation auf. Er griff damit auf einige seiner frühesten Warnungen vor Hitler-Deutschland zu - rück, etwa in einer BBC -Sendung vom 16. November 1934: «Ich fürchte, wenn man genau hinsieht, was da auf Großbritannien zu - kommt, so wird man erkennen, dass die einzige Wahl, die uns offen - steht, das alte grimmige Entweder-Oder ist, vor dem schon unsere Vorväter standen, nämlich: ob wir uns unterwerfen sollen oder uns stählen, ob wir uns dem Willen einer stärkeren Nation beugen oder uns bereit machen, unsere Rechte, unsere Freiheiten, nein, unser Leben zu verteidigen.» Das hatte man damals als typischen Fall seiner übertriebenen Rhetorik abgetan. Sah Churchill nicht immer nur Krieg vor seinem inneren Auge? Aber das Land wollte 1934 und noch viele Jahre danach Frieden, wie die Ära des Appeasement zu suggerie - ren schien.
Nun aber herrschte Krieg, unleugbar Krieg, der Moment von Churchills früher Prophetie war also eingetreten. Ein Ernstfall, dem er und das Land sich stellen mussten. Wie konnte er da hinter eine Überzeugung zurückfallen, die er schon sechs Jahre früher, noch in Friedenszeiten, vorgetragen hatte? Im zweiten Band seiner Ge - schichte des Zweiten Weltkrieges schreibt er über die entscheidenden Minuten zwischen 18 und 19 Uhr am 28. Mai, er habe «gewisserma - ßen nebenbei» und ohne diesen Punkt besonders hervorzuheben gesagt: «Natürlich werden wir weiterkämpfen, was immer in Dünkir - chen geschehen mag.» Churchill kalkulierte richtig, er setzte in die - sem Augenblick eines psychologischen Roulettes auf den Schulterschluss mit den Ministern seiner Regierung – und gewann. «Kein Zweifel», so schrieb er später: «Hätte ich in dieser kritischen Stunde bei der Führung der Nation gewankt, so hätte man mich aus dem Amt gejagt. Ich wusste nun, dass jeder Minister eher gewillt war, in nächster Zeit zu sterben und Familie und Habe zu verlieren, als nach - zugeben. Darin waren sie die wahren Vertreter des Unterhauses und fast des ganzen Volkes (...) Es war eine weiße Glut, die übermächtig, erhaben von einem Ende zum anderen über unsere Insel lief.»
Sagen wir es genauer: Es war seine weiße Glut, Churchills, die übermächtig «über unsere Insel lief», und das elektrisierte die Zuhöer an diesem Abend. Einige sprangen von ihren Stühlen auf, traten an den Premierminister heran, klopften ihm auf die Schulter, alles jubelte. Churchill musste sich bestätigt fühlen in dem, was er 1937 in einer offenherzigen Unterhaltung mit Joachim von Ribbentrop, der damals Botschafter des Deutschen Reiches in London war, diesem gleichsam ins Stammbuch geschrieben hatte: «Sie dürfen England nicht unterschätzen. Es ist ein seltsames Land, und nur wenige Fremde können seinen Charakter verstehen. (...) Wenn einmal ein großes Problem sich dem ganzen Volke stellt, dann könnte das briti - sche Volk zu ganz unerwarteten Taten finden.»
Hugh Dalton, als Minister für ökonomische Kriegsführung bei der historischen Sitzung am 28. Mai anwesend, ließ in seinen Erin - nerungen, «The Fateful Years» (1957), Churchills Rhetorik weitaus farbiger erscheinen als dieser selbst in der eben wiedergegebenen Stelle aus seinen Kriegsmemoiren. «Dass jeder Minister eher gewillt war, in nächster Zeit zu sterben und Familie und Habe zu verlieren», ist bei Churchill eine eher milde Formulierung. Bei Dalton liest sich das dramatischer, echter, als Wiedergabe der tatsächlich gefallenen Worte: «Wenn die lange Geschichte dieser Insel denn zu Ende gehen soll», erklärte Churchill laut Dalton, «so lasst sie erst enden, wenn jeder von euch in seinem Blut erstickend am Boden liegt.» Wie ähnlich die Rhetorik im Krieg doch klingen kann zwischen einer Diktatur und einer Demokratie, zwischen einem Hitler in seinem rasenden Wahn und einem Churchill, der versucht, die Widerstandskraft sei - nes Landes wachzurufen.
Vielleicht sollten wir an dieser Stelle fragen, aus welchen Quellen der Premierminister überhaupt schöpfte. Geboren 1874, war er noch geprägt vom Zeitalter der imperialen Größe Englands, das auch ein Zeitalter hoher Literatur war, die gerne im alten Rom beispielhafte Tugenden wie Tapferkeit und Heldenmut zu entdecken glaubte. Ein Schultext bis in Churchills Jugendjahre waren die «Lays of Ancient Rome» von Thomas Babington Macaulay, altrömische Legenden in Balladenform, in denen der große Historiker die heroischen Taten der römischen Antike besang. Schon der Schüler Churchill prägte sich Hunderte von Zeilen dieser Geschichte in Versen ein. Er besaß ein phänomenales Gedächtnis, und Lyrik, die sein Inneres bestätigte, begeisterte ihn besonders. Noch bis ins hohe Alter konnte er Gedicht - stellen erheblicher Länge, die er Jahrzehnte früher aufgesogen hatte, hersagen, zum Erstaunen seiner Umgebung.
Macaulays «Lays of Ancient Rome» wurden so etwas wie die Stammzellen seiner Denkweise. Das Gedicht über den römischen Offizier Horatius Cocles, der schier aussichtslos eine Tiber-Überque - rung gegen die anbrandenden Kelten verteidigte, hatte es ihm beson - ders angetan; es erfreut sich noch heute in England bei den Kennern großer Beliebtheit. Leider hat die Geschichtsschreibung über die Tage im Mai diesem Teil der Churchill’schen Psychologie, ihrer lite - rarischen Herkunft, keine oder nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist ein Versäumnis bei einem Mann, der selbst zu den heraus - ragenden Schriftstellern seiner Zeit gehörte und neben seiner politi - schen Leistung auch als Autor ausgezeichnet wurde – bis hin zur Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahre 1953, nach François Mauriac (1952) und vor Ernest Hemingway (1954). Eine Überset - zung der entscheidenden Strophe aus Macaulays Ballade «Horatius at the Bridge», die wir hier versuchen, mag den «römischen» Churchill erklären helfen:
Und tapfer spricht Horatius,
Der Captain an der Pforte:
«Der Tod holt alle, früh oder spät,
Und macht nicht viele Worte.
Was wäre besser als ein Ende
Trotzend dem furchtbaren Los,
Würdig der Asche der Väter und
Geborgen in der Götter Schoß?»
Nach der erweiterten Ministerrunde und ihrer überwältigenden Demonstration der Loyalität zu Churchill schloss das Kriegskabinett sofort die Reihen hinter dem Premier, als man um 19 Uhr erneut zusammentrat. Auch Halifax gab seinen Widerstand auf; Churchill sollte ihn Ende 1940 als Botschafter nach Washington entsenden Reynaud seinerseits hatte als Ultima Ratio gefordert, die USA zu bitten, zur Rettung Europas in den Krieg einzutreten, was Churchill noch am Abend des 28. Mai in einem Telegramm an ihn ablehnte: Eine solche Bitte vorzutragen, sei unwürdig, ehe England nicht seinen Willen zu kämpfen, seine Weigerung zu kapitulieren demonstriert habe. Nur das mache in Amerika Eindruck. Bitten um materielle Hilfe – ja. Aber niemals Unterwürfigkeit. Die Welt müsse erst vom britischen Widerstand überzeugt werden. Auch das war altrömi - sches Denken.
Was brachte den Durchbruch? Joachim Fest hat es in seiner Hitler-Biographie am bündigsten formuliert: Es gelang Churchill, «Hitler auf das Maß einer überwindbaren Macht» zu reduzieren. Er hatte einen Kreuzzug ausgerufen nicht nur im Namen Englands, sondern im Namen der Freiheit überhaupt. «Hier geht es nicht um die Frage, ob wir für Danzig oder für Polen kämpfen», hatte der Marineminister bereits am Tag der britischen Kriegserklärung an Deutschland, am 3. September 1939, im Unterhaus erklärt: «Wir kämpfen, um die Welt vor der Pestilenz der Nazi-Tyrannei zu retten, in Verteidigung von allem, was dem Menschen heilig ist.» Der Preis von Churchills Widerstand 1940 war hoch – und doch nicht zu hoch, wenn man bedenkt, was es langfristig für eine Nation bedeutet, ihren Stolz und ihren Ruf als Adresse der Freiheit bewahrt zu haben. Dabei wurden die unmittelbaren Gründe für den Kriegseintritt, die Frei heit Polens, Danzigs, der Tschechoslowakei, tragisch in ihr Gegenteil gekehrt, als diese Gebiete auf Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden.
Wenn heute die Insel zur Verwunderung der Außenstehenden immer wieder mit einer fast lyrischen Liebe auf Englands «finest hour» zurückkommt, seine größte Stunde, wie Churchill sie im Juni 1940 nannte, dann genau aus diesem Grund: weil damals einer in auswegloser Lage die Identität Englands in ihrem Kern getroffen hatte – dem Beharren auf Unabhängigkeit – und damit zum Anwalt der Geknechteten in ganz Europa wurde. Dabei steht außer Frage, dass die Erinnerung an 1940 im Großbritannien von heute zu falschen Schlüssen führen kann, zur Überschätzung des eigenen politischen Gewichts in der Welt, auch zur Unschlüssigkeit gegenüber dem Komplex Europa. Aber Churchills Leistung, den Charakter seines Landes richtig eingeschätzt, ihn gestärkt und bestätigt zu haben, bleibt davon unberührt. In diesem Augenblick der britischen Geschichte war er unersetzlich.
Vom Drama der Mai-Tage 1940, und wie er um den Konsens unter seinesgleichen kämpfen musste, findet sich im Übrigen in Churchills sechsbändigen Memoiren zum Zweiten Weltkrieg keine Schilderung, bis auf das Happy End, den Jubel der Zustimmung in der erweiterten Kabinettsrunde. Das Erinnerungswerk könnte glauben machen, es habe immer große Eintracht in der Frage des englischen Widerstands gegenüber Hitler geherrscht, «eine weiße Glut, übermächtig und erhaben». Weit gefehlt.
Am 20. Juni 1940 sagte der Premierminister vor dem Unterhaus, das sich in geheimer Sitzung traf: «Wenn es Hitler nicht gelingt, Bri - tannien zu besetzen oder es zu zerstören, hat er den Krieg verloren.» Wozu Churchills Weigerung, mit ihm zu verhandeln, einen wichtigen Grundstein legte – ein «Wendepunkt» in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, noch ehe dieser seine schreckliche Dimension ganz ent - faltet hatte. Mit England als Basis erhielten die USA später die Möglichkeit, den Sprung auf den Kontinent zu wagen, und Hitler fand sich in der aussichtslosen Zwei-Fronten-Falle wieder. Seine Triumphe 1940/41 waren Pyrrhussiege, denn den entscheidenden Durch - bruch hatte Churchill ihm im Mai 1940 verwehrt.
Thomas Kielinger: Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biografie. 3. Auflage. C.H Beck 2015. 400 Seiten, 24,95 Euro.