Buch der Woche
Einblicke in ein verstörendes Land
Nordkorea ist das isolierteste Land der Erde. Wenige Nachrichten dringen aus dem vom Kim-Clan diktatorisch regierten Staat nach außen, und wenn, dann sind es meist Negativschlagzeilen. Rüdiger Frank ist weltweit einer der wenigen Kenner Nordkoreas, seit vielen Jahren besucht er das Land regelmäßig. Unser Buch der Woche.
Tradition und Ursprung
Um zu begreifen, wo ein Land steht, und um abschätzen zu können, wohin es sich entwickeln wird, hilft die Kenntnis seiner Vergangenheit.1 Nordkorea ist da keine Ausnahme. Welches sind also diese prägenden Ereignisse, Erfahrungen und Traditionen?
Es erscheint zweckmäßig, hier eine Zweiteilung vorzunehmen. Ein Teil des historischen Erbes ist koreanisch, ein anderer ist spezifisch nordkoreanisch. Zwischen beiden Traditionslinien kommt es zu gewissen Überschneidungen. Nicht zuletzt im Hinblick auf eine Wiedervereinigung und das Verhältnis zwischen den zwei koreanischen Staaten ist es interessant, sich die geschichtlich bedingten Gemeinsamkeiten bewusst zu machen, von denen es erstaunlich viele gibt. Der Stolz auf gemeinsame historische Errungenschaften wie die koreanische Schrift, die Trauer über erlittene Unbill und die Antipathie gegenüber Feinden der Nation haben das Potential, nach einer Vereinigung bei der Überwindung ideologischer Gräben zu helfen – schlimmstenfalls auf dem Wege der Schaffung eines gemeinsamen Feindbildes.
Darüber hinaus gibt es einige historische Wurzeln, die in Nordkorea gänzlich anders als im Süden interpretiert werden; dazu gehören der Widerstand gegen die Japaner und der Koreakrieg. Und es gibt eigene nordkoreanische Erfahrungen, etwa die der Auseinandersetzung mit den zwei großen sozialistischen Verbündeten China und Sowjetunion.
Rüdiger Frank: Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates.
»Korea ist ein Land mit einer 5000-jährigen Geschichte«, so lautet ein im Norden wie im Süden gebräuchlicher Standardsatz. Die Zahl 5000 ist symbolisch zu verstehen; Korea ordnet sich ganz bewusst zwischen dem offiziell etwas älteren China und dem etwas jüngeren Japan ein. In groben Zügen ist damit auch die koreanische Weltsicht erklärt; ich werde später darauf zurückkommen.
Wie ernst man nationale Legenden in Nordkorea nimmt, zeigt der Umgang mit dem mythischen Urvater aller Koreaner, einem gewissen Tan’gun. Als Sohn eines vom Himmel herabgestiegenen Wesens und einer Mensch gewordenen Bärin herrschte Tan’gun von 2333 v. u. Z. an und wurde nach einem übernatürlich langen Leben zu einem Berggeist. Wie bei vielen Mythen haben Historiker auch hier Elemente entdeckt, die einen realen Hintergrund zu haben scheinen. So könnte das vom Himmel kommende Wesen eine aus dem sibirischen Raum auf die koreanische Halbinsel eingewanderte höher entwickelte Zivilisation verkörpern, die sich mit dem dort bereits ansässigen Bären-Clan gegen den rivalisierenden Tiger-Clan verbündet und später verschmolzen hat.
In Nordkorea hat man derart profane Interpretationen allerdings mit Leichtigkeit übertroffen. Auf direkte Anweisung des Großen Führers Kim Il-sung2 machten sich nordkoreanische Wissenschaftler Anfang der 1990er Jahre auf, um nach den Gebeinen des Urvaters Tan’gun zu suchen. Dank weiser Anleitung durch Kim wurden sie fündig, und zwar praktischerweise in der Nähe von Pjöngjang. Ich kann mich noch gut an die verblüfft-amüsierten Gesichter meiner Kollegen erinnern, als wir bei einer großen internationalen Koreanistentagung in Prag Anfang April 1995 der von der nordkoreanischen Delegation mit großem Ernst vorgetragenen Präsentation der Grabungsresultate lauschten.3 Heute kann man die überdimensionierten Knochen im Inneren einer an das ägyptische Sakkara erinnernden monumentalen Stufenpyramide bewundern.
Mit dem Tan’gun-Mythos verbindet sich ein kaum verborgener Anspruch auf die Führung im gesamten Korea. Wenn die Überreste des übrigens auch im Süden verehrten Gründervaters der Nation in der Nähe der nordkoreanischen Hauptstadt liegen, wo sonst kann dann das Zentrum des dereinst vereinten Landes sein? Der Umgang mit Tan’gun lässt erahnen, welche Rolle die Geschichte in Nordkorea spielt. Die Hauptlegitimation der nordkoreanischen Führung beruht, wie bei Diktaturen üblich, nicht auf regelmäßig wiederkehrenden Prozessen wie Wahlen. Vielmehr sind der Besitz der Vergangenheit und das Monopol, diese zu interpretieren, wesentliche Eckpfeiler des dortigen politischen Systems. Seit wann ein einheitliches koreanisches Staatswesen existiert,
ist umstritten. Sicher ist, dass es mit der Gründung des Reiches Kory? im 10. Jahrhundert einen Staat in etwa auf dem Gebiet des heutigen Korea gab. Von der Bezeichnung Kory? leitet sich auch der Name »Korea« ab, angeblich dank Marco Polo, der von diesem Reich während seiner Zeit am Hofe des Kublai Khan in China erfahren haben soll. Heute ist diese Bezeichnung nur im westlichen Ausland gebräuchlich; im Norden heißt das Land Chos?n, im Süden Han’guk. Man kann sich vorstellen, dass bei einer anstehenden Wiedervereinigung die Wahl eines gemeinsamen Namens ein Problem sein wird.
In Kory? war der Mahayana-Buddhismus, eine der beiden großen Ausprägungen des Buddhismus, Staatsreligion. Das war für die Herrschenden recht praktisch, predigt dieser Glaube doch eine gewisse Duldsamkeit gegenüber schwierigen Lebensumständen und offeriert einen Ausweg, der durch Wohlverhalten
und die Abkehr von materialistischen Wünschen erreicht werden kann. Die buddhistischen Klöster, die während der Kory?-Zeit (918 bis 1392) das Land prägten, waren wirtschaftlich mächtig hinaus und konnten sich aufgrund ihres Wohlstandes auch kleine Privatarmeen leisten, die sie zu einem gefährlich unabhängigen politischen Faktor im Lande machten.
Im heutigen Nordkorea geht man kritisch mit dieser Vergangenheit um. Als Religion bildet der Buddhismus eine direkte Konkurrenz zur herrschenden Ideologie, und auch die feudale Unterdrückung, die man mit dem Buddhismus in Verbindung bringt, wird verurteilt. Allerdings ist der nordkoreanische Staat offenbar bereit, den Buddhismus als Teil des nationalen Erbes anzuerkennen und in einem gewissen Ausmaß zu dulden. Vor allem auf dem Land gibt es heute gut erhaltene buddhistische Klöster, die sowohl Bestandteil von Besuchsprogrammen für westliche Touristen sind, als auch von der Bevölkerung intensiv genutzt werden. Die Kästen für Geldspenden bei den Hauptheiligtümern sind stets gut gefüllt, und junge Paare lassen ihre Hochzeitsfotos vor buddhistischen Pagoden anfertigen.
Im 13. Jahrhundert, also noch während der Kory?-Zeit, erscheint ein Narrativ in der koreanischen Geschichte, das sich seither sehr konstant im Selbstverständnis der Koreaner erhalten hat: die Rolle als Opfer ausländischer Invasionen. Den zwischen 1231 und 1259 von Norden her in sechs Wellen auf die Halbinsel vordringenden Mongolen hatte das militärisch eher schwache Kory? kaum etwas entgegenzusetzen. Es wurde zu einem Satelliten der chinesisch-mongolischen Yuan-Dynastie und blieb es auch bis zu deren Ende 1368. Die Erfahrung der Unterlegenheit und unzureichenden Verteidigungsfähigkeit ist eine der weit zurückreichenden Begründungen der Militär-Zuerst-Politik (s?n’gun ch?ngch’i) in Nordkorea.
Als in China die Yuan-Dynastie im 14. Jahrhundert Anzeichen von Schwäche zeigte, regte sich auch in Kory? Widerstand. Dieser stand ganz im Zeichen des Konfuzianismus, der damals als hochmoderne, um nicht zu sagen progressive Idee angesehen wurde.
Das Erbe des Konfuzianismus
Fachleute sind in der Regel sehr skeptisch, wenn der Begriff des Konfuzianismus bemüht wird, um »Ostasien« zu erklären. In der Tat sind Ostasien als Ganzes und die einzelnen Länder in dieser Region viel zu komplex und vielschichtig, um sie mit wenigen Schlagwörtern einer über Jahrhunderte gewachsenen Morallehre
erfassen zu können. Hinzu kommt, dass es verschiedene Wahrnehmungen des Konfuzianismus gibt: Ein Bauer im Norden der Provinz Hamgy?ng im 19. Jahrhundert wird ein völlig anderes Bild davon gehabt haben als ein Gelehrter am königlichen Hof in Seoul zur Zeit König Sejongs im 15. Jahrhundert.
Ich konzentriere mich hier auf den vereinfachten (Neo-)Konfuzianismus, der oft kaum mehr als solcher wahrgenommen wird. Ebenso wenig, wie man Theologie studiert haben muss, um Christ zu sein, muss man die konfuzianischen Klassiker gelesen haben, um sich zumindest in groben Zügen dieser Lehre gemäß zu verhalten.
Wie stellt sich also dieser alltägliche, die breite Masse erfassende Konfuzianismus dar? Ein Konfuzianer sieht die Welt als eine Art Uhrwerk an. Jedes einzelne Teil dieses Uhrwerks muss seine Aufgabe peinlich genau erfüllen, und zwar eben diese und keine andere, in perfekter Harmonie mit allen anderen Komponenten. Nur dann kann auch die gesamte Uhr funktionieren. Die Menschen in einer Gesellschaft sind solche Rädchen, Zeiger, Federn oder Achsen. Zur Erfüllung ihrer individuellen Obliegenheiten müssen sie selbige kennen und über die Fähigkeiten zu ihrer Ausübung verfügen.
Hier hat nun die Bildung eine entscheidende Aufgabe: Sie soll die Menschen über ihre Rolle aufklären und ihnen die Kenntnisse zu ihrer Erfüllung vermitteln. Dabei geht es nicht um Kreativität, im Gegenteil; jegliche über das vorgezeichnete Maß hinausgehende Handlung würde den gesamten Mechanismus stören. Entsprechend waren die vermittelten Bildungsinhalte relativ starr und statisch. Vereinfacht gesagt bestand viele Jahrhunderte lang
Bildung für einen Konfuzianer darin, klassisches Chinesisch zu erlernen und hernach eine klar definierte Reihe von in dieser Sprache verfassten Büchern zu studieren, was in der Regel das Auswendiglernen bedeutete. Bei Prüfungen musste man dann zeigen, wie souverän man mit Zitaten aus diesen Werken umgehen konnte. Das Bestehen der Prüfungen, die es in mehreren Schwierigkeitsstufen gab, war die Voraussetzung für die Übernahme eines Amtes. Ein möglichst hohes Amt zu erringen war das ultimative Ziel eines Konfuzianers.
Wenn man sich die heutigen Stärken und Schwächen von Bildungssystemen in Ostasien ansieht, erkennt man gewisse Parallelen. Die Lehrpläne sind von einer enormen Masse an zu erlernendem faktischem Wissen geprägt. Die in Südkorea im Zusammenhang mit den Aufnahmeprüfungen für die Universität gebräuchliche Redewendung sadang orak (wörtlich: Vier-Bestehen, Fünf-Durchfallen) gibt die Ansicht wieder, dass man mit vier Stunden Schlaf auskommen muss, um erfolgreich zu sein; wer sich fünf Stunden Ruhe gönnt, wird das Ziel nicht erreichen. Das in Nordkorea übliche Auswendiglernen von offiziellen Dokumenten und von Zitaten der Führer erscheint vor diesem Hintergrund weniger eigentümlich.
Neben der Bildung spielt die strikt hierarchische Gliederung eine wichtige Rolle in der konfuzianischen Vorstellung von einer Gesellschaft. Auch hier hilft das Bild vom Uhrwerk, um die zugrunde liegende Logik zu verstehen. Es wäre undenkbar, wenn jedes Rädchen selbst entscheiden könnte, ob und in welche Richtung es sich drehen möchte. Es gibt große Rädchen, es gibt kleine Rädchen, und es gibt jemanden, der das Uhrwerk
aufzieht, ölt, entstaubt und gelegentlich ein defektes Teil repariert oder austauscht. Aus konfuzianischer Sicht ist es daher in einer Gesellschaft wichtig, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern klar und ihre Beziehungen geregelt sind.
Die Familie diente Konfuzius als Mikrokosmos und Vorbild der gesamten idealen Staatsgemeinschaft. Der Vater ist das unangefochtene Oberhaupt; ihm folgt in dieser Funktion der älteste Sohn nach. Die Verhältnisse untereinander sind unter anderem gemäß den sogenannten fünf menschlichen Elementarbeziehungen geregelt. Respekt schuldet ein Mann dem Vater, dem Herrscher und dem älteren Bruder. Respekt erwarten kann er vom Sohn, dem Untertan, der Ehefrau und dem jüngeren Bruder. Gleichberechtigte Beziehungen wie unter Freunden können nur dann existieren, wenn keine der vier hierarchischen Konstellationen vorliegt.
Der Kaiser hatte in diesem System eine zentrale Rolle: Er empfing das Mandat des Himmels und gab der Gesellschaft ihre in Harmonie mit der himmlischen Ordnung stehende Richtung. Im Fall einer Verfehlung konnte der Kaiser seines Mandates verlustig gehen und abgelöst werden, was in der Tat einige Male geschehen ist.
Verwirklichung und einen Lebenssinn fand der Einzelne als Teil der Gemeinschaft. Es gibt die interessante These, dass solche Vorstellungen damit zu tun hatten, dass Reis als Hauptnahrungsmittel im alten China nur im perfekt organisierten Kollektiv produziert werden konnte. Anders als in Europa, wo Getreidefelder auch von wenigen Menschen angelegt und bewirtschaftet werden konnten, verlangte und verlangt der Reisanbau ein hohes Maß an Koordination, insbesondere für die Bewässerung. Karl Marx und später vor allem Karl August Wittfogel haben sich mit dieser sogenannten »asiatischen Produktionsweise« auseinandergesetzt. Auch der »orientalische Despotismus« wurde als pauschale Erklärung für das Verhalten der »Asiaten« bemüht.
Kulturellen Determinismus sollte man nicht zu weit treiben. Auch in anderen Kulturen wird das Alter geachtet, werden Frauen unterdrückt und gibt es autoritäre Machtansprüche; auch anderswo wurde die Idee propagiert, dass der Einzelne sein Glück nur in der Gruppe finden könne. Es wäre allerdings falsch, so zu tun, als wären die Jahrhunderte des Lebens unter dem Einfluss konfuzianischen Gedankengutes völlig folgenlos geblieben. Auch
wenn sich nicht immer jedermann daran hält: Gesellschaften haben Spielregeln, die oft erstaunlich beharrlich sind und sich nur langsam ändern.
Im heutigen Alltag stellen wir in beiden Teilen Koreas eine besondere Affinität zu klar geregelten zwischenmenschlichen Beziehungen fest. Zum typischen Ritual des Kennenlernens gehört es, neben dem in der Regel offensichtlichen Geschlecht auch das Alter, den Familienstand und die berufliche Position des Gegenübers zu erfragen. Danach richten sich dann die Form der Anrede, die in der Sprache verwendete Höflichkeitsform und
andere Dinge, anhand derer sich Hierarchie ausdrücken lässt. Dem Besucher Nordkoreas fällt sofort die sehr formelle Kleidung der Menschen dort auf. Der westliche Anzug mit Hemd und Krawatte scheint die Standardkleidung der Männer zu sein. Das ist nicht nur Ausdruck einer gewissen Uniformisierung und des staatlichen Wunsches nach Unterdrückung der Individualität, wie sie Diktaturen zu eigen ist. Nach konfuzianischem Ideal soll das Äußere das Innere wiederspiegeln. In der Realität bedeutet das: Kleider machen Leute. Im Jahr 2004 bereiste ich Nordkorea als Teil einer EU-Delegation. Zwei europäische Diplomaten
aus unserer Gruppe begaben sich in ausgewaschenen Jeans und T-Shirt, und ohne ihre Pässe, auf Erkundungstour in Pjöngjang und wurden prompt verhaftet, als sie »verdächtige« Fotos am Bahnhof machten. In korrekter Kleidung wäre ihnen das nicht passiert. Ich selbst bin am gleichen Tag zu Fuß und mit auf Dauerfeuer eingestellter Kamera durch die halbe Hauptstadt gewandert – im dunklen Anzug und völlig unbehelligt.
Neben der konfuzianischen Tradition gehören zum geistigen Erbe Nordkoreas die Erfahrung einer japanischen Militärdiktatur in den Jahren von 1910 bis 1945 und die Allianzen mit Stalins Sowjetunion und Maos China nach 1945. Dies sollte bedenken, wer auf demokratische Reformen von unten in Nordkorea hofft. Das Fehlen demokratischer Erfahrungen ist keine Entschuldigung für eine Diktatur, hilft aber, ihr Fortbestehen zu verstehen – und die ideologische Gefahr für das Regime, die durch das Eindringen von Informationen aus der Außenwelt entsteht.
Der seinerzeit moderne, fortschrittliche Konfuzianismus mit seiner Betonung der individuellen, durch Bildung optimierbaren Leistung erschien Ende des 14. Jahrhunderts vielen Koreanern als attraktive Alternative zum Buddhismus, der als Staatsreligion seinen Zenit längst überschritten hatte. Vor allem für jene Teile der Oberschicht, die im etablierten System von der Macht ausgeschlossen waren, war die neue Ideologie auch eine Chance für den Aufstieg.
Eine in Korea sehr bekannte Anekdote aus dieser Zeit illustriert ein interessantes Dilemma. Ch?ng Mong-ju, ein von konfuzianischen Idealen geprägter junger Mann aus der Oberschicht Kory?s, war mit den bestehenden Verhältnissen im Land unzufrieden. Er sah die Notwendigkeit einer Reform, verweigerte den Putschisten um Ri S?ng-gye jedoch trotzdem die Gefolgschaft, da er als Konfuzianer seinem König unter jeglichen Umständen
die Treue schuldete. Daraufhin wurde er ermordet.
Den Ort dieses Geschehens, die steinerne S?njuk-Brücke, kann man noch heute in Kaes?ng besuchen. Die Geschichte des Ch?ng Mong-ju und seines Dilemmas – sich für eine gute Sache einsetzen oder einem schlechten Herrscher die Treue halten – ist in Nordkorea Schulstoff und allgemein bekannt. Auf meine nicht ganz unschuldige Frage, wie sie sich denn entscheiden würden, wollten meine offiziell bestellten nordkoreanischen Begleiter, mit denen ich in Kaes?ng unterwegs war, nicht antworten.
Tradition der Machtpolitik
Ri S?ng-gye stürzte den König und etablierte 1392 die neue, konfuzianische Chos?n-Dynastie. Bereits 24 Jahre zuvor war in China die Yuan-Dynastie beseitigt und die ebenfalls konfuzianische Ming-Dynastie gegründet worden. Es entstand eine Partnerschaft, die später als goldenes Zeitalter gelten würde. Ganz im Sinne konfuzianischen Denkens war von Gleichheit keine Rede; in China herrschte der Kaiser, in Korea »nur« ein König, der erst nach Bestätigung durch den in Beijing residierenden Sohn des Himmels wirklich legitimer Herrscher seines Landes war. Jährlich zogen Tributgesandtschaften die Westküste Koreas entlang, um Ginseng und andere Waren nach China zu bringen. Sie kannten das nötige Zeremoniell, sprachen Chinesisch, waren
in den konfuzianischen Klassikern ausgebildet und wurden entsprechend mit Respekt am Hof empfangen. Beladen mit kostbaren Gegengeschenken kehrten sie zurück.
Sadaejüi, »dem Großen zu dienen«, war keine Schande – es war eine Ehre, die nur zivilisierten Völkern zukam. Japan wurde dieses Privileg nicht zuteil, wie in beiden Koreas nicht ohne Häme noch immer gern festgestellt wird. Wenn man heute in Nordkorea diesen Begriff nur mehr verächtlich gebraucht, dann ist damit vor allem die angebliche Speichelleckerei Südkoreas bei seinem »Meister« USA gemeint; mit etwas historischem Bewusstsein
kann man allerdings auch eine versteckte Unabhängigkeitserklärung in Richtung Beijing vermuten.
Die Hauptstadt von Kory? und damit auch Zentrum des koreanischen buddhistischen Establishments war Kaes?ng; heute kennt man es als Standort der von beiden Koreas gemeinsam betriebenen Industriezone. Der neue Machthaber Ri verlagerte das Zentrum der Macht in seine neue Hauptstadt, das heutige Seoul. In einem zentralistischen Staat wie Korea war Präsenz in der Hauptstadt der Schlüssel zur Teilhabe an der Macht. Gregory
Henderson beschreibt sehr überzeugend, dass im politischen System Koreas traditionell immer um das Zentrum konkurriert wurde, nicht mit ihm. Alternative Machtzentren gab es nicht. Verbannung aus der Hauptstadt bedeutete das Ende der politischen Laufbahn. Noch heute ist es in Nordkorea ein Privileg, in der Hauptstadt Pjöngjang zu leben. Die Umsiedlung in die Provinz ist eine schwere Strafe mit negativen Konsequenzen für
die Versorgung, den Zugang zu Bildung, die Lebensqualität und die Karrierechancen.
Indem also Kaes?ng die Hauptstadtfunktion verlor und der Zuzug nach Seoul streng geregelt wurde, entmachtete man mit einem Schlag und auf sehr effiziente Weise die gesamte Kory?-Elite. Für über 100 Jahre war es ihren Angehörigen sogar verboten, überhaupt an den konfuzianischen Beamtenprüfungen teilzunehmen.
Von direktem politischem Einfluss derart ausgeschlossen, wandten sich die wohlhabenden, gebildeten und gut vernetzten Reste der alten Führungsschicht dem Handel zu. Vorsichtige Vergleiche mit den in Europa diskriminierten Juden drängen sich auf. Die sogenannten Kaes?nger Händler waren im konfuzianischen
Korea eine Besonderheit. Um 1900 waren ganze 80 Prozent der Bevölkerung von Kaes?ng kommerziell tätig, insbesondere im lukrativen Ginseng-Handel. Sie entwickelten ein eigenes Banksystem und erschlossen Handelsrouten im Inland und bis nach China. Es ist schon ein bemerkenswerter Zufall, dass eines der bekanntesten aktuellen Experimente Nordkoreas mit marktwischaftlich orientierter internationaler Wirtschaftskooperation ausgerechnet mit Kaes?ng verbunden ist.
Das Beispiel der Händler von Kaes?ng unterstreicht, dass Kommerz in der konfuzianischen Welt einen äußerst niedrigen Stellenwert einnahm; eine Bewertung, die in beiden Teilen Koreas bis heute Gültigkeit besitzt – auch im ultramaterialistischen Südkorea. Ansehen und Ehre waren nur im Staatsdienst zu erringen. Selbst die Bauern wurden höher geachtet als die Händler. Spezialisierte Handwerker gab es nur am Hof; überall sonst im Lande produzierten die Bauern ihre Güter des täglichen Bedarfs weitgehend selbst. Das, was wir in Europa mit Bürgertum verbinden, war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Korea relativ unterentwickelt: städtisches Selbstbewusstsein, dezentrale Führung, Skepsis gegenüber dem Staat und bürgerlicher Stolz. Die Herausbildung eines Mittelstandes, ein Prozess, den wir gegenwärtig in Nordkorea beobachten können, ist vor diesem Hintergrund eine besonders bemerkenswerte Entwicklung.
Quelle: Rüdiger Frank: Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates. DVA Sachbuch, München 2014. 432 Seiten, 19,99 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 15 bis 26.
Um zu begreifen, wo ein Land steht, und um abschätzen zu können, wohin es sich entwickeln wird, hilft die Kenntnis seiner Vergangenheit.1 Nordkorea ist da keine Ausnahme. Welches sind also diese prägenden Ereignisse, Erfahrungen und Traditionen?
Es erscheint zweckmäßig, hier eine Zweiteilung vorzunehmen. Ein Teil des historischen Erbes ist koreanisch, ein anderer ist spezifisch nordkoreanisch. Zwischen beiden Traditionslinien kommt es zu gewissen Überschneidungen. Nicht zuletzt im Hinblick auf eine Wiedervereinigung und das Verhältnis zwischen den zwei koreanischen Staaten ist es interessant, sich die geschichtlich bedingten Gemeinsamkeiten bewusst zu machen, von denen es erstaunlich viele gibt. Der Stolz auf gemeinsame historische Errungenschaften wie die koreanische Schrift, die Trauer über erlittene Unbill und die Antipathie gegenüber Feinden der Nation haben das Potential, nach einer Vereinigung bei der Überwindung ideologischer Gräben zu helfen – schlimmstenfalls auf dem Wege der Schaffung eines gemeinsamen Feindbildes.
Darüber hinaus gibt es einige historische Wurzeln, die in Nordkorea gänzlich anders als im Süden interpretiert werden; dazu gehören der Widerstand gegen die Japaner und der Koreakrieg. Und es gibt eigene nordkoreanische Erfahrungen, etwa die der Auseinandersetzung mit den zwei großen sozialistischen Verbündeten China und Sowjetunion.
Rüdiger Frank: Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates.
»Korea ist ein Land mit einer 5000-jährigen Geschichte«, so lautet ein im Norden wie im Süden gebräuchlicher Standardsatz. Die Zahl 5000 ist symbolisch zu verstehen; Korea ordnet sich ganz bewusst zwischen dem offiziell etwas älteren China und dem etwas jüngeren Japan ein. In groben Zügen ist damit auch die koreanische Weltsicht erklärt; ich werde später darauf zurückkommen.
Wie ernst man nationale Legenden in Nordkorea nimmt, zeigt der Umgang mit dem mythischen Urvater aller Koreaner, einem gewissen Tan’gun. Als Sohn eines vom Himmel herabgestiegenen Wesens und einer Mensch gewordenen Bärin herrschte Tan’gun von 2333 v. u. Z. an und wurde nach einem übernatürlich langen Leben zu einem Berggeist. Wie bei vielen Mythen haben Historiker auch hier Elemente entdeckt, die einen realen Hintergrund zu haben scheinen. So könnte das vom Himmel kommende Wesen eine aus dem sibirischen Raum auf die koreanische Halbinsel eingewanderte höher entwickelte Zivilisation verkörpern, die sich mit dem dort bereits ansässigen Bären-Clan gegen den rivalisierenden Tiger-Clan verbündet und später verschmolzen hat.
In Nordkorea hat man derart profane Interpretationen allerdings mit Leichtigkeit übertroffen. Auf direkte Anweisung des Großen Führers Kim Il-sung2 machten sich nordkoreanische Wissenschaftler Anfang der 1990er Jahre auf, um nach den Gebeinen des Urvaters Tan’gun zu suchen. Dank weiser Anleitung durch Kim wurden sie fündig, und zwar praktischerweise in der Nähe von Pjöngjang. Ich kann mich noch gut an die verblüfft-amüsierten Gesichter meiner Kollegen erinnern, als wir bei einer großen internationalen Koreanistentagung in Prag Anfang April 1995 der von der nordkoreanischen Delegation mit großem Ernst vorgetragenen Präsentation der Grabungsresultate lauschten.3 Heute kann man die überdimensionierten Knochen im Inneren einer an das ägyptische Sakkara erinnernden monumentalen Stufenpyramide bewundern.
Mit dem Tan’gun-Mythos verbindet sich ein kaum verborgener Anspruch auf die Führung im gesamten Korea. Wenn die Überreste des übrigens auch im Süden verehrten Gründervaters der Nation in der Nähe der nordkoreanischen Hauptstadt liegen, wo sonst kann dann das Zentrum des dereinst vereinten Landes sein? Der Umgang mit Tan’gun lässt erahnen, welche Rolle die Geschichte in Nordkorea spielt. Die Hauptlegitimation der nordkoreanischen Führung beruht, wie bei Diktaturen üblich, nicht auf regelmäßig wiederkehrenden Prozessen wie Wahlen. Vielmehr sind der Besitz der Vergangenheit und das Monopol, diese zu interpretieren, wesentliche Eckpfeiler des dortigen politischen Systems. Seit wann ein einheitliches koreanisches Staatswesen existiert,
ist umstritten. Sicher ist, dass es mit der Gründung des Reiches Kory? im 10. Jahrhundert einen Staat in etwa auf dem Gebiet des heutigen Korea gab. Von der Bezeichnung Kory? leitet sich auch der Name »Korea« ab, angeblich dank Marco Polo, der von diesem Reich während seiner Zeit am Hofe des Kublai Khan in China erfahren haben soll. Heute ist diese Bezeichnung nur im westlichen Ausland gebräuchlich; im Norden heißt das Land Chos?n, im Süden Han’guk. Man kann sich vorstellen, dass bei einer anstehenden Wiedervereinigung die Wahl eines gemeinsamen Namens ein Problem sein wird.
In Kory? war der Mahayana-Buddhismus, eine der beiden großen Ausprägungen des Buddhismus, Staatsreligion. Das war für die Herrschenden recht praktisch, predigt dieser Glaube doch eine gewisse Duldsamkeit gegenüber schwierigen Lebensumständen und offeriert einen Ausweg, der durch Wohlverhalten
und die Abkehr von materialistischen Wünschen erreicht werden kann. Die buddhistischen Klöster, die während der Kory?-Zeit (918 bis 1392) das Land prägten, waren wirtschaftlich mächtig hinaus und konnten sich aufgrund ihres Wohlstandes auch kleine Privatarmeen leisten, die sie zu einem gefährlich unabhängigen politischen Faktor im Lande machten.
Im heutigen Nordkorea geht man kritisch mit dieser Vergangenheit um. Als Religion bildet der Buddhismus eine direkte Konkurrenz zur herrschenden Ideologie, und auch die feudale Unterdrückung, die man mit dem Buddhismus in Verbindung bringt, wird verurteilt. Allerdings ist der nordkoreanische Staat offenbar bereit, den Buddhismus als Teil des nationalen Erbes anzuerkennen und in einem gewissen Ausmaß zu dulden. Vor allem auf dem Land gibt es heute gut erhaltene buddhistische Klöster, die sowohl Bestandteil von Besuchsprogrammen für westliche Touristen sind, als auch von der Bevölkerung intensiv genutzt werden. Die Kästen für Geldspenden bei den Hauptheiligtümern sind stets gut gefüllt, und junge Paare lassen ihre Hochzeitsfotos vor buddhistischen Pagoden anfertigen.
Im 13. Jahrhundert, also noch während der Kory?-Zeit, erscheint ein Narrativ in der koreanischen Geschichte, das sich seither sehr konstant im Selbstverständnis der Koreaner erhalten hat: die Rolle als Opfer ausländischer Invasionen. Den zwischen 1231 und 1259 von Norden her in sechs Wellen auf die Halbinsel vordringenden Mongolen hatte das militärisch eher schwache Kory? kaum etwas entgegenzusetzen. Es wurde zu einem Satelliten der chinesisch-mongolischen Yuan-Dynastie und blieb es auch bis zu deren Ende 1368. Die Erfahrung der Unterlegenheit und unzureichenden Verteidigungsfähigkeit ist eine der weit zurückreichenden Begründungen der Militär-Zuerst-Politik (s?n’gun ch?ngch’i) in Nordkorea.
Als in China die Yuan-Dynastie im 14. Jahrhundert Anzeichen von Schwäche zeigte, regte sich auch in Kory? Widerstand. Dieser stand ganz im Zeichen des Konfuzianismus, der damals als hochmoderne, um nicht zu sagen progressive Idee angesehen wurde.
Das Erbe des Konfuzianismus
Fachleute sind in der Regel sehr skeptisch, wenn der Begriff des Konfuzianismus bemüht wird, um »Ostasien« zu erklären. In der Tat sind Ostasien als Ganzes und die einzelnen Länder in dieser Region viel zu komplex und vielschichtig, um sie mit wenigen Schlagwörtern einer über Jahrhunderte gewachsenen Morallehre
erfassen zu können. Hinzu kommt, dass es verschiedene Wahrnehmungen des Konfuzianismus gibt: Ein Bauer im Norden der Provinz Hamgy?ng im 19. Jahrhundert wird ein völlig anderes Bild davon gehabt haben als ein Gelehrter am königlichen Hof in Seoul zur Zeit König Sejongs im 15. Jahrhundert.
Ich konzentriere mich hier auf den vereinfachten (Neo-)Konfuzianismus, der oft kaum mehr als solcher wahrgenommen wird. Ebenso wenig, wie man Theologie studiert haben muss, um Christ zu sein, muss man die konfuzianischen Klassiker gelesen haben, um sich zumindest in groben Zügen dieser Lehre gemäß zu verhalten.
Wie stellt sich also dieser alltägliche, die breite Masse erfassende Konfuzianismus dar? Ein Konfuzianer sieht die Welt als eine Art Uhrwerk an. Jedes einzelne Teil dieses Uhrwerks muss seine Aufgabe peinlich genau erfüllen, und zwar eben diese und keine andere, in perfekter Harmonie mit allen anderen Komponenten. Nur dann kann auch die gesamte Uhr funktionieren. Die Menschen in einer Gesellschaft sind solche Rädchen, Zeiger, Federn oder Achsen. Zur Erfüllung ihrer individuellen Obliegenheiten müssen sie selbige kennen und über die Fähigkeiten zu ihrer Ausübung verfügen.
Hier hat nun die Bildung eine entscheidende Aufgabe: Sie soll die Menschen über ihre Rolle aufklären und ihnen die Kenntnisse zu ihrer Erfüllung vermitteln. Dabei geht es nicht um Kreativität, im Gegenteil; jegliche über das vorgezeichnete Maß hinausgehende Handlung würde den gesamten Mechanismus stören. Entsprechend waren die vermittelten Bildungsinhalte relativ starr und statisch. Vereinfacht gesagt bestand viele Jahrhunderte lang
Bildung für einen Konfuzianer darin, klassisches Chinesisch zu erlernen und hernach eine klar definierte Reihe von in dieser Sprache verfassten Büchern zu studieren, was in der Regel das Auswendiglernen bedeutete. Bei Prüfungen musste man dann zeigen, wie souverän man mit Zitaten aus diesen Werken umgehen konnte. Das Bestehen der Prüfungen, die es in mehreren Schwierigkeitsstufen gab, war die Voraussetzung für die Übernahme eines Amtes. Ein möglichst hohes Amt zu erringen war das ultimative Ziel eines Konfuzianers.
Wenn man sich die heutigen Stärken und Schwächen von Bildungssystemen in Ostasien ansieht, erkennt man gewisse Parallelen. Die Lehrpläne sind von einer enormen Masse an zu erlernendem faktischem Wissen geprägt. Die in Südkorea im Zusammenhang mit den Aufnahmeprüfungen für die Universität gebräuchliche Redewendung sadang orak (wörtlich: Vier-Bestehen, Fünf-Durchfallen) gibt die Ansicht wieder, dass man mit vier Stunden Schlaf auskommen muss, um erfolgreich zu sein; wer sich fünf Stunden Ruhe gönnt, wird das Ziel nicht erreichen. Das in Nordkorea übliche Auswendiglernen von offiziellen Dokumenten und von Zitaten der Führer erscheint vor diesem Hintergrund weniger eigentümlich.
Neben der Bildung spielt die strikt hierarchische Gliederung eine wichtige Rolle in der konfuzianischen Vorstellung von einer Gesellschaft. Auch hier hilft das Bild vom Uhrwerk, um die zugrunde liegende Logik zu verstehen. Es wäre undenkbar, wenn jedes Rädchen selbst entscheiden könnte, ob und in welche Richtung es sich drehen möchte. Es gibt große Rädchen, es gibt kleine Rädchen, und es gibt jemanden, der das Uhrwerk
aufzieht, ölt, entstaubt und gelegentlich ein defektes Teil repariert oder austauscht. Aus konfuzianischer Sicht ist es daher in einer Gesellschaft wichtig, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern klar und ihre Beziehungen geregelt sind.
Die Familie diente Konfuzius als Mikrokosmos und Vorbild der gesamten idealen Staatsgemeinschaft. Der Vater ist das unangefochtene Oberhaupt; ihm folgt in dieser Funktion der älteste Sohn nach. Die Verhältnisse untereinander sind unter anderem gemäß den sogenannten fünf menschlichen Elementarbeziehungen geregelt. Respekt schuldet ein Mann dem Vater, dem Herrscher und dem älteren Bruder. Respekt erwarten kann er vom Sohn, dem Untertan, der Ehefrau und dem jüngeren Bruder. Gleichberechtigte Beziehungen wie unter Freunden können nur dann existieren, wenn keine der vier hierarchischen Konstellationen vorliegt.
Der Kaiser hatte in diesem System eine zentrale Rolle: Er empfing das Mandat des Himmels und gab der Gesellschaft ihre in Harmonie mit der himmlischen Ordnung stehende Richtung. Im Fall einer Verfehlung konnte der Kaiser seines Mandates verlustig gehen und abgelöst werden, was in der Tat einige Male geschehen ist.
Verwirklichung und einen Lebenssinn fand der Einzelne als Teil der Gemeinschaft. Es gibt die interessante These, dass solche Vorstellungen damit zu tun hatten, dass Reis als Hauptnahrungsmittel im alten China nur im perfekt organisierten Kollektiv produziert werden konnte. Anders als in Europa, wo Getreidefelder auch von wenigen Menschen angelegt und bewirtschaftet werden konnten, verlangte und verlangt der Reisanbau ein hohes Maß an Koordination, insbesondere für die Bewässerung. Karl Marx und später vor allem Karl August Wittfogel haben sich mit dieser sogenannten »asiatischen Produktionsweise« auseinandergesetzt. Auch der »orientalische Despotismus« wurde als pauschale Erklärung für das Verhalten der »Asiaten« bemüht.
Kulturellen Determinismus sollte man nicht zu weit treiben. Auch in anderen Kulturen wird das Alter geachtet, werden Frauen unterdrückt und gibt es autoritäre Machtansprüche; auch anderswo wurde die Idee propagiert, dass der Einzelne sein Glück nur in der Gruppe finden könne. Es wäre allerdings falsch, so zu tun, als wären die Jahrhunderte des Lebens unter dem Einfluss konfuzianischen Gedankengutes völlig folgenlos geblieben. Auch
wenn sich nicht immer jedermann daran hält: Gesellschaften haben Spielregeln, die oft erstaunlich beharrlich sind und sich nur langsam ändern.
Im heutigen Alltag stellen wir in beiden Teilen Koreas eine besondere Affinität zu klar geregelten zwischenmenschlichen Beziehungen fest. Zum typischen Ritual des Kennenlernens gehört es, neben dem in der Regel offensichtlichen Geschlecht auch das Alter, den Familienstand und die berufliche Position des Gegenübers zu erfragen. Danach richten sich dann die Form der Anrede, die in der Sprache verwendete Höflichkeitsform und
andere Dinge, anhand derer sich Hierarchie ausdrücken lässt. Dem Besucher Nordkoreas fällt sofort die sehr formelle Kleidung der Menschen dort auf. Der westliche Anzug mit Hemd und Krawatte scheint die Standardkleidung der Männer zu sein. Das ist nicht nur Ausdruck einer gewissen Uniformisierung und des staatlichen Wunsches nach Unterdrückung der Individualität, wie sie Diktaturen zu eigen ist. Nach konfuzianischem Ideal soll das Äußere das Innere wiederspiegeln. In der Realität bedeutet das: Kleider machen Leute. Im Jahr 2004 bereiste ich Nordkorea als Teil einer EU-Delegation. Zwei europäische Diplomaten
aus unserer Gruppe begaben sich in ausgewaschenen Jeans und T-Shirt, und ohne ihre Pässe, auf Erkundungstour in Pjöngjang und wurden prompt verhaftet, als sie »verdächtige« Fotos am Bahnhof machten. In korrekter Kleidung wäre ihnen das nicht passiert. Ich selbst bin am gleichen Tag zu Fuß und mit auf Dauerfeuer eingestellter Kamera durch die halbe Hauptstadt gewandert – im dunklen Anzug und völlig unbehelligt.
Neben der konfuzianischen Tradition gehören zum geistigen Erbe Nordkoreas die Erfahrung einer japanischen Militärdiktatur in den Jahren von 1910 bis 1945 und die Allianzen mit Stalins Sowjetunion und Maos China nach 1945. Dies sollte bedenken, wer auf demokratische Reformen von unten in Nordkorea hofft. Das Fehlen demokratischer Erfahrungen ist keine Entschuldigung für eine Diktatur, hilft aber, ihr Fortbestehen zu verstehen – und die ideologische Gefahr für das Regime, die durch das Eindringen von Informationen aus der Außenwelt entsteht.
Der seinerzeit moderne, fortschrittliche Konfuzianismus mit seiner Betonung der individuellen, durch Bildung optimierbaren Leistung erschien Ende des 14. Jahrhunderts vielen Koreanern als attraktive Alternative zum Buddhismus, der als Staatsreligion seinen Zenit längst überschritten hatte. Vor allem für jene Teile der Oberschicht, die im etablierten System von der Macht ausgeschlossen waren, war die neue Ideologie auch eine Chance für den Aufstieg.
Eine in Korea sehr bekannte Anekdote aus dieser Zeit illustriert ein interessantes Dilemma. Ch?ng Mong-ju, ein von konfuzianischen Idealen geprägter junger Mann aus der Oberschicht Kory?s, war mit den bestehenden Verhältnissen im Land unzufrieden. Er sah die Notwendigkeit einer Reform, verweigerte den Putschisten um Ri S?ng-gye jedoch trotzdem die Gefolgschaft, da er als Konfuzianer seinem König unter jeglichen Umständen
die Treue schuldete. Daraufhin wurde er ermordet.
Den Ort dieses Geschehens, die steinerne S?njuk-Brücke, kann man noch heute in Kaes?ng besuchen. Die Geschichte des Ch?ng Mong-ju und seines Dilemmas – sich für eine gute Sache einsetzen oder einem schlechten Herrscher die Treue halten – ist in Nordkorea Schulstoff und allgemein bekannt. Auf meine nicht ganz unschuldige Frage, wie sie sich denn entscheiden würden, wollten meine offiziell bestellten nordkoreanischen Begleiter, mit denen ich in Kaes?ng unterwegs war, nicht antworten.
Tradition der Machtpolitik
Ri S?ng-gye stürzte den König und etablierte 1392 die neue, konfuzianische Chos?n-Dynastie. Bereits 24 Jahre zuvor war in China die Yuan-Dynastie beseitigt und die ebenfalls konfuzianische Ming-Dynastie gegründet worden. Es entstand eine Partnerschaft, die später als goldenes Zeitalter gelten würde. Ganz im Sinne konfuzianischen Denkens war von Gleichheit keine Rede; in China herrschte der Kaiser, in Korea »nur« ein König, der erst nach Bestätigung durch den in Beijing residierenden Sohn des Himmels wirklich legitimer Herrscher seines Landes war. Jährlich zogen Tributgesandtschaften die Westküste Koreas entlang, um Ginseng und andere Waren nach China zu bringen. Sie kannten das nötige Zeremoniell, sprachen Chinesisch, waren
in den konfuzianischen Klassikern ausgebildet und wurden entsprechend mit Respekt am Hof empfangen. Beladen mit kostbaren Gegengeschenken kehrten sie zurück.
Sadaejüi, »dem Großen zu dienen«, war keine Schande – es war eine Ehre, die nur zivilisierten Völkern zukam. Japan wurde dieses Privileg nicht zuteil, wie in beiden Koreas nicht ohne Häme noch immer gern festgestellt wird. Wenn man heute in Nordkorea diesen Begriff nur mehr verächtlich gebraucht, dann ist damit vor allem die angebliche Speichelleckerei Südkoreas bei seinem »Meister« USA gemeint; mit etwas historischem Bewusstsein
kann man allerdings auch eine versteckte Unabhängigkeitserklärung in Richtung Beijing vermuten.
Die Hauptstadt von Kory? und damit auch Zentrum des koreanischen buddhistischen Establishments war Kaes?ng; heute kennt man es als Standort der von beiden Koreas gemeinsam betriebenen Industriezone. Der neue Machthaber Ri verlagerte das Zentrum der Macht in seine neue Hauptstadt, das heutige Seoul. In einem zentralistischen Staat wie Korea war Präsenz in der Hauptstadt der Schlüssel zur Teilhabe an der Macht. Gregory
Henderson beschreibt sehr überzeugend, dass im politischen System Koreas traditionell immer um das Zentrum konkurriert wurde, nicht mit ihm. Alternative Machtzentren gab es nicht. Verbannung aus der Hauptstadt bedeutete das Ende der politischen Laufbahn. Noch heute ist es in Nordkorea ein Privileg, in der Hauptstadt Pjöngjang zu leben. Die Umsiedlung in die Provinz ist eine schwere Strafe mit negativen Konsequenzen für
die Versorgung, den Zugang zu Bildung, die Lebensqualität und die Karrierechancen.
Indem also Kaes?ng die Hauptstadtfunktion verlor und der Zuzug nach Seoul streng geregelt wurde, entmachtete man mit einem Schlag und auf sehr effiziente Weise die gesamte Kory?-Elite. Für über 100 Jahre war es ihren Angehörigen sogar verboten, überhaupt an den konfuzianischen Beamtenprüfungen teilzunehmen.
Von direktem politischem Einfluss derart ausgeschlossen, wandten sich die wohlhabenden, gebildeten und gut vernetzten Reste der alten Führungsschicht dem Handel zu. Vorsichtige Vergleiche mit den in Europa diskriminierten Juden drängen sich auf. Die sogenannten Kaes?nger Händler waren im konfuzianischen
Korea eine Besonderheit. Um 1900 waren ganze 80 Prozent der Bevölkerung von Kaes?ng kommerziell tätig, insbesondere im lukrativen Ginseng-Handel. Sie entwickelten ein eigenes Banksystem und erschlossen Handelsrouten im Inland und bis nach China. Es ist schon ein bemerkenswerter Zufall, dass eines der bekanntesten aktuellen Experimente Nordkoreas mit marktwischaftlich orientierter internationaler Wirtschaftskooperation ausgerechnet mit Kaes?ng verbunden ist.
Das Beispiel der Händler von Kaes?ng unterstreicht, dass Kommerz in der konfuzianischen Welt einen äußerst niedrigen Stellenwert einnahm; eine Bewertung, die in beiden Teilen Koreas bis heute Gültigkeit besitzt – auch im ultramaterialistischen Südkorea. Ansehen und Ehre waren nur im Staatsdienst zu erringen. Selbst die Bauern wurden höher geachtet als die Händler. Spezialisierte Handwerker gab es nur am Hof; überall sonst im Lande produzierten die Bauern ihre Güter des täglichen Bedarfs weitgehend selbst. Das, was wir in Europa mit Bürgertum verbinden, war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Korea relativ unterentwickelt: städtisches Selbstbewusstsein, dezentrale Führung, Skepsis gegenüber dem Staat und bürgerlicher Stolz. Die Herausbildung eines Mittelstandes, ein Prozess, den wir gegenwärtig in Nordkorea beobachten können, ist vor diesem Hintergrund eine besonders bemerkenswerte Entwicklung.
Quelle: Rüdiger Frank: Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates. DVA Sachbuch, München 2014. 432 Seiten, 19,99 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 15 bis 26.