Buch der Woche
Eine neue Wirtschaftsordnung kommt
Christoph Giesa und Lena Schiller Clausen schreiben in »New Business Order“ darüber, wie Start-ups Wirtschaft und Gesellschaft verändern. Hier finden Sie eine Leseprobe aus unserem Buch der Woche.
Die Realität als kontinuierliche Störung
Wir gehen auf eine Reise durch Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Wirtschaft. Dabei werden wir die Ruinen mancher großer Marken besuchen, die vergessen in den Wüsten ausgestorbener Branchen stehen. Danach geht es vorbei an aufblühenden Jungunternehmen in schillernd-bunten Start-up-Biotopen und an zugemauerten Festungen von Großorganisationen, umgeben von den Irrgärten des Internets. Reisen bildet, heißt es – und wir sind überzeugt, dass das für diesen gemeinsamen Trip ganz besonders gilt.
Unsere kleine Reise beginnt in der Vergangenheit. Wenn es in Deutschland seit der Wirtschaftswunderzeit zwei unverrückbare Wahrheiten gab, dann die, dass jeder, der nach Wohlstand strebte, sich auf dem Weg dorthin zunächst ein Auto und später ein Eigenheim zulegte. Letzteres mag vielleicht heute auch noch gelten, aber das Auto als Statussymbol hat seinen Zenit überschritten. Das heißt nicht, dass es in Zukunft keine Autos mehr auf Deutschlands Straßen geben wird. Aber immer mehr deutsche Haushalte werden kein eigenes mehr besitzen und stattdessen die vorhandenen Autos mit anderen Menschen zusammen nutzen. Die Idee dahinter heißt Carsharing.
Ende 2011, als dieses Buchprojekt erste Konturen annahm, war die These, dass Carsharing den Automobilmarkt von Grund auf verändern würde, noch relativ gewagt. Nur zwei Jahre später hat sich der Trend bestätigt. So schnell kann es gehen. Neben den schon vorher etablierten, zumeist regionalen Anbietern mischen nun vor allem große Namen fleißig mit. In vielen Großstädten sind Hunderte oder Tausende Smarts von car2go unterwegs, einer gemeinsamen Tochter der Daimler AG und des Autovermieters Europcar. BMW versucht, zusammen mit Sixt, mit DriveNow und einer breiter differenzierten Fahrzeugflotte nachzuziehen. Und auch Volkswagen versucht sich inzwischen zaghaft auf diesem Gebiet.
In Deutschland waren 2012 fast eine halbe Million Menschen als Carsharing-Nutzer angemeldet. Die Tendenz ist steigend. Schon in den Jahren zuvor lag die Wachstumsrate im deutlich zweistelligen Bereich, wie der Bundesverband Carsharing in seinem Jahresgutachten feststellt. Während es in Deutschland bisher noch ein Miteinander der Automobilfirmen und der Autoverleiher gibt, sieht das in den USA schon anders aus. Dort übernahm 2012 der Autoverleiher Avis Budget den nach eigenen Angaben weltweit führenden Carsharing-Anbieter Zipcar – für eine halbe Milliarde Dollar. Das lässt erahnen, dass nicht nur die Autobauer, sondern auch klassischen Autovermieter die Bedrohung ihres klassischen Geschäftsmodells durch Carsharing erkannt haben. 500 Millionen Dollar scheinen für die späte Erkenntnis aber eine hohe Strafe.
Das Wettbewerbsumfeld hat sich verschoben. Früher trugen die Wettbewerber von Daimler, BMW und Volkswagen alleine die Namen anderer Automobilproduzenten. Mit dem Carsharing kommen nun aber neue Anbieter auf den Markt rund um die Mobilität, die zumindest von den Herstellern lange nicht als direkte Konkurrenz wahrgenommen wurden. Vielleicht auch, weil man sie eher als Kunden kannte. Mit der Veränderung der Bedürfnisse der Menschen verändert sich auch der Gesamtmarkt. Inzwischen kann sich jeder Konsument seinen ganz eigenen Mobilitätsmix gestalten. Für die Hersteller erweitert sich so zwangsläufig ihr Wettbewerbsumfeld.
Wenn Avis Budget sich einen Carsharing-Anbieter einverleibt und Daimler mit car2go einen gründet, spielen beide in Zukunft auf dem gleichen Feld. Während das Stammgeschäft beider Branchen unter Druck gerät, machen sich die Unternehmen damit zusätzlich in einem neuen Wachstumsfeld Konkurrenz. Doch darauf beschränken sich die neuen Herausforderungen lange nicht mehr. Im Wettbewerb um den Stadtverkehr gesellen sich inzwischen auch noch die Bikesharing-Anbieter dazu. In Deutschland wurde das Monopol der Bahn auf Langstrecken gekippt, sodass auch hier mit Fernbussen dem Konsumenten eine weitere kostengünstige Option zur Fortbewegung zur Verfügung steht. Dazu kommen noch die schon seit Jahren erfolgreichen Mitfahrzentralen – ebenfalls eine Form des Carsharing. Die Abgrenzung zwischen einst unterschiedlichen Branchen verwischt zunehmend. Doch wie weit kann das gehen?
Hätte jemand vor fünf oder vor zehn Jahren dem Vorstand eines großen Automobilherstellers gesagt, dass er es innerhalb so kurzer Zeit mit einer so großen Zahl unterschiedlichster neuer Mitbewerber aus ursprünglich anderen Märkten zu tun bekommt, er wäre für verrückt erklärt worden. Inzwischen ist es unbestrittene Realität – und vermutlich nur der Anfang eines noch deutlich weiter gehenden Umbruchs. Aber warum ist Carsharing gerade jetzt plötzlich so erfolgreich? Platzmangel in den Städten, teure Parkplätze, hohe Beschaffungs- und Unterhaltskosten für Autos – all das gibt es schon länger, ohne dass frühere Carsharing-Angebote sich besonderer Beliebtheit erfreut hätten.
Klar, der Leidensdruck hat zugenommen. Kaum noch kostenlose Parkflächen in den Großstädten, Umweltzonen, teilweise sogar Verbote, mit Privatautos in die Innenstadt zu fahren – all das hat viele Menschen zum Nachdenken gebracht. Nun führt alleine Nachdenken aber selten zu einem radikalen Wandel im Konsumentenverhalten. Erst in der Kombination mit den neuen Technologien kam die Lawine ins Rollen – mit dem Sprung des Internets von den Desktop-Rechnern auf mobile Endgeräte, vor allem Smartphones. Diese erlauben es den Carsharing-Kunden, ohne vorherige Planung ein Auto in ihrem nächsten Umkreis zu finden und es dann auch – innerhalb definierter Nutzungsgebiete – dort abzustellen, wo es ihnen gerade passt. Früher musste man gemeinsam genutzte Autos reservieren und an derselben Stelle, an der man sie abgeholt hat, auch wieder abgeben. Bei Fahrtunterbrechungen lief die Uhr gnadenlos weiter, sodass der Vorteil gegenüber einem klassischen Mietwagen oder einem eigenen Auto relativ schnell dahin war. Smartphone-Apps sorgen mittlerweile für eine ganz neue Transparenz und ein neues Komfortgefühl und machen Carsharing damit für viele Menschen endgültig zu einer echten Alternative.
Unsere Reise ist noch nicht zu Ende. Wir verlassen den Automobilmarkt und begeben uns auf die Suche nach den Spuren, die die Digitalisierung zuvor auch schon in anderen Industriezweigen hinterlassen hatte. Wenn Konsumenten neue Technologien in die Hände bekommen, geschehen regelmäßig Dinge, die einer Menge Manager Kopfzerbrechen bereiten. Der PC löste die Großrechner ab – und machte nicht nur deren Herstellern, sondern auch denen von Schreibmaschinen Probleme. Ganze Märkte verschwanden und mit ihnen große Namen wie Triumph- Adler, die vorher über Jahrzehnte unantastbar schienen.
Als die PCs sich dann auch noch über das Internet untereinander vernetzten und nach und nach die Bandbreiten stiegen, kam die nächste Branche ins Trudeln. Diesmal traf es die großen Musikkonzerne. Gerade noch hatte man gefeiert, dass die Menschen beim Umstieg von Vinyl auf CDs ihre Musik ein zweites Mal kaufen mussten, was ein veritables Zusatzgeschäft war. Aber nun waren die Unternehmen mit der Herausforderung konfrontiert, dass Menschen das Internet nutzten, um Musik zu tauschen, anstatt sich die CDs wie früher brav im Laden zu kaufen. Die Musikindustrie war hier auch deswegen (traurige) Avantgarde, weil selbst zu Zeiten schwacher Bandbreiten ein paar Megabyte für eine MP3-Datei schnell heruntergeladen waren. Und das war noch nicht alles.
Die Digitalisierung veränderte nicht nur die Möglichkeiten der Nachfrageseite, sondern sorgte darüber hinaus für eine radikale Demokratisierung der Produktionsmittel. Wer in der Vergangenheit über den Flaschenhals Plattenfirma versuchen musste, seine Musik zu produzieren und zu vertreiben, braucht plötzlich nicht einmal mehr ein professionelles Studio und einen Tontechniker, sondern kann am Heimcomputer eigene Songs zusammenmixen – ohne Qualitätsverlust. Und auch Vermarktung und Vertrieb lassen sich mittlerweile mit wenigen Klicks selbst gestalten – über das Internet.
Erst wollte man all das nicht glauben. Dann versuchte die alte Musikindustrie, es zu verhindern, anstatt sich eine Strategie zurechtzulegen, wie man diesen neu entstehenden Vertriebskanal selbst bespielen könnte. Das sollte sich rächen, und am Ende lachten die Protagonisten der neuen Welt. Mahatma Gandhi hat für deren Situation in einem anderen Kontext die richtigen Worte gefunden: »Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich – und dann gewinnst du.« Die Entwicklung der Musikindustrie seit Beginn der Digitalisierung ist der Beweis für diese Aussage. 2011 konnte sie in Deutschland inzwischen das erste Mal seit 1997 einen weiteren Umsatzverlust vermeiden, im Vergleich hat sie aber seitdem deutlich mehr als ein Drittel ihres Gesamtumsatzvolumens eingebüßt. Im Rückblick überrascht es wohl keinen mehr, dass Software, Filme und Bücher als Nächstes dran waren. Doch wie geht es weiter?
Die Liste lässt sich durchaus auch mit aktuelleren Beispielen fortsetzen. Als die New-Economy-Blase Anfang des neuen Jahrtausends platzte, schlugen sich Unternehmensführer noch reihenweise vor Schadenfreude auf die Schenkel. Besonders groß dürfte der Applaus in Fürth, Frankfurt und Hamburg bei den alteingesessenen Versandhändlern gewesen sein. Denn obwohl Firmen wie boo.com bestens finanziert zum Angriff auf die alten Geschäftsmodelle geblasen hatten, scheiterten sie am Ende an einer zu kleinen Zahl von Onlinekäufern, fehlender Erfahrung und vor allem an mangelnden Bandbreiten.
Auch wenn der Knall groß war, setzten sich die Prinzipien der Herausforderer mit der Zeit und auf leisen Sohlen trotzdem durch. Inzwischen ist von den ehemaligen Platzhirschen im Versandhandel nur noch die Otto Group am Markt. Quelle und Neckermann haben nacheinander die Segel streichen müssen. Alle drei fanden zunächst auf eBay, dann auf Amazon, später dann auf Zalando und heute auf die vielen verschiedenen kleinen Onlineshops und deren erweitertes Serviceangebot keine Antwort. Obwohl sie selbst mit ihren Onlineauftritten natürlich auch vom explodierenden E-Commerce-Anteil profitierten, reichte es nicht, um die Verluste im klassischen Kataloggeschäft zu kompensieren. Die Erkenntnis, dass mit kleineren Justierungen die Zukunft nicht zu gestalten ist, kam für zwei der drei Großen schon zu spät.
Ähnliches gilt für den Zeitungsmarkt. Alleine in Deutschland verschwand innerhalb kürzester Zeit die Financial Times Deutschland komplett vom Markt, und die altehrwürdige Frankfurter Rundschau wird inzwischen nur noch mit einem kleinen Kernteam unter Beteiligung der FAZ-Verlagsgruppe weitergeführt. Warnende Stimmen hatten diese Entwicklung schon in der New-Economy-Zeit vorhergesagt, aber sie wurden bestenfalls ignoriert, meistens belächelt und im schlimmsten Fall sogar verhöhnt. Immerhin schrieb die Zeitungsbranche weltweit rund um das Jahr 2000 gerade einen Rekord nach dem anderen. Heute lacht bei den Verlagen kaum noch einer.
Fredmund Malik, der renommierte Managementvordenker glaubt, dass es schon in wenigen Jahren die Hälfte der heutigen Fortune-Global-500-Unternehmen, also der umsatzstärksten Firmen weltweit, nicht mehr geben wird. So formulierte er es zumindest in einem offenen Brief an junge Ökonomen, der auf Spiegel Online veröffentlicht wurde. Das ist eine mutige Prognose, aber würden wir wirklich Geld dagegensetzen? Welche Firmen wird es als Nächstes erwischen? Welche Branchen stehen heute vielleicht noch dort, wo die Musikkonzerne, Zeitungsmacher und Versandhändler vor einem Jahrzehnt standen?
Mit der Frage im Hinterkopf brechen wir zur nächsten Etappe unserer Reise auf. Schwer wiegen die Versteinerungen einst lebendiger Organismen, die wir als Souvenirs unterwegs einsammeln. Es sind die Werte, Mechanismen und Glaubenssätze, die uns viele Jahre begleiteten, bis sie keine Antworten mehr auf die neuen Fragen liefern konnten. Davon finden sich noch einige bei den klassischen Intermediären, etwa in der Tourismusbranche. Aber auch dort werden sie seltener, weil die Unternehmen unter der zunehmenden Verankerung des Internets in allen Lebensbereichen sehr zu leiden haben. Für Geschäftsmodelle, deren Leistung in einem Markt unvollkommener Information vor allem darin besteht, dem Kunden eine bequeme Anlaufstelle für möglichst viele seiner Bedürfnisse zu bieten, ist zunehmende Transparenz bei gleichzeitiger Zunahme von Optionen und Variationen natürlich Gift. Aber auch für diejenigen, die nicht alleine Dienstleistungen vermakeln, sondern die mit greifbaren Produkten zu tun haben, steht derweil die nächste Herausforderung schon vor der Tür.
Die Rede ist von einem Phänomen, das derzeit noch wie eine Spielerei wirken mag, aber das Potenzial hat, erst unser Denken, dann unsere Möglichkeiten und schließlich ganze Branchen auf den Kopf zu stellen: der 3-D-Druck. Nicht zuletzt der amerikanische Präsident Barack Obama positionierte das Thema als wichtige zukünftige wirtschaftliche Entwicklung, als er es in seiner »State of the Union«-Rede im Februar 2013 erwähnte. Er stellte fest, dass es das Potenzial habe, »den Prozess von fast allem, was wir herstellen, zu revolutionieren«. 1000 Schulen sollen in den USA bis 2015 mit Maker-Laboren ausgestattet sein. Die Zeit von Werkunterricht mit Säge und Feile scheint vorbei.
Dabei ist auch die Idee des 3-D-Drucks, wie die des Carsharing, nicht neu, sondern jahrzehntealt. Erst seit vor einiger Zeit Patente ausliefen, gelang es aber, erste relevante Produkte in zufriedenstellender Qualität und zu akzeptablen Preisen herzustellen. Zunächst sah man in der 3-D-Drucktechnik vor allem Nutzungsmöglichkeiten im Sinne eines Rapid Prototyping, also der Erstellung von ersten Entwürfen und Modellen. Dabei blieb es aber nicht. Zahnfüllungen sind vermutlich eines der bekanntesten Produkte, bei dem die Technik schon tagtäglich eingesetzt wird. Nicht nur in großen staatlichen und privaten Forschungslabors wird nach neuen Anwendungsmöglichkeiten geforscht und die Technik weiterentwickelt. Vor allem in den vielen sogenannten Hackerspaces arbeiten weltweit Hobbyforscher, Bastler und kleine Firmen an ihrer kleinen Revolution, die ihre Spuren in den etablierten Unternehmen hinterlassen wird. Hier gilt, was früher schon einmal für die PCs galt: Die breite Verfügbarkeit einer Technologie ebnet den Weg für ihren Siegeszug. Das notwendige Anwendungswissen wird schon jetzt überall geteilt und mag für nachfolgende Generationen schnell eine Selbstverständlichkeit werden.
Einfache 3-D-Drucker sind inzwischen für unter 1000 Euro zu haben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis jede Community Zugang zu einem 3-D-Drucker hat, bevor er in ein paar Jahren dann in jedem Haushalt zu finden ist. Was man dann damit anstellt? Nun, da sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Vermutlich wird es damit anfangen, dass man sich einfache Plastikteile ausdruckt, etwa Keile, um die Tür offen zu halten, und Ersatzteile für die Spül- oder die Waschmaschine. LEGOSteine haben ebenso gute Chancen, vorne mit dabei zu sein, wie in einem nächsten Schritt einfache Porzellanartikel. Tassen, Teller, Schalen – von da ist der Weg zu Geschirr aus Metall und Glas nicht mehr weit. Brillengestelle sind vielleicht als Nächstes dran, auch Schlüssel können irgendwann zu Hause nachgemacht werden. Und spätestens dann wird es auch Zeit, dass Barbie, Ken und all ihre Freunde nicht mehr in China, sondern im lokalen 3-D-Drucker zum Leben erweckt werden. Vielleicht folgen dann sogar kompliziertere Produkte, zum Beispiel funktionsfähige Uhren und Turnschuhe oder sogar ganz neue Produkte, die mit anderen Fertigungsverfahren gar nicht herstellbar waren. Man könnte meinen oder hoffen, wir Autoren hätten uns nun doch vom Vorsatz verabschiedet, hier keine Utopien zu beschreiben. Aber weit gefehlt: Die Technologie existiert bereits, und viele der beschriebenen Produkte wurden längst erfolgreich ausgedruckt. Es fehlen derzeit noch die in der Breite verfügbaren, massenfähigen und für jedermann bezahlbaren Endgeräte. Aber ihre Entwicklung ist bereits im vollen Gange.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie es Menschen möglich sein soll, derartig komplexe Produkte ohne entsprechendes Know-how herzustellen. Auch darauf gibt es schon die Antwort: 3-D-Drucker werden, wie normale Drucker auch, über den Computer gesteuert. Mit der richtigen CAD-Vorlage ist der Druck eines dreidimensionalen Produkts genauso einfach wie das Bedrucken eines Blattes Papier. Und CAD-Vorlagen sind genauso einfach zu (ver)teilen wie Bilder, digitale Musik oder Videos. Schon heute gibt es genügend Seiten im Internet, auf denen sich Interessierte 3-D-Druckvorlagen kostenlos herunterladen können. Thingiverse ist so ein Beispiel. Die Verbreitung des Anwenderwissens rund um Nutzen und Nutzbarmachung dieser Technologien sichert das Internet, und mit ein bisschen Geschick oder einem CAD-Kurs und etwas Erfindergeist ist man schließlich selbst in der Lage, eigene Vorlagen zu erstellen. Und es geht noch einfacher: Die neue Generation von 3-D-Druckern ist mit 3-D-Scannern ausgestattet, sodass jedes Objekt ganz einfach originalgetreu repliziert werden kann. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Bauanleitungen für Nike-Sportschuhe, Swatch-Uhren oder Bulgari-Ringe kursieren. Das ist dann zwar nicht legal, aber das ist der Tausch von Musik auch nicht, was die Branche trotzdem nicht vor massiven Verwerfungen bewahren konnte.
Wer nun davon ausgeht, dass er schon alleine aufgrund der Größe seiner Produkte auf der sicheren Seite sei, kann sich auf eine böse Überraschung vorbereiten. Sicherlich wird der Fokus der Produkte, die beim Anwender direkt ausgedruckt werden, auf kleinen bis mittelgroßen Artikeln liegen. Aber so wie man in der Vergangenheit auch kein ganzes Buch zu Hause kopiert hat, sondern dafür in den Copyshop ging, so kann es in Zukunft auch noch mehr spezialisierte 3-D-Druckdienstleister geben, die dann den Produktionsprozess größerer Objekte für jedermann übernehmen. Wahrscheinlich werden Autowerkstätten ihren eigenen 3-D-Drucker haben, auf dem sie Plastik-, Gummi- und Metallersatzteile und ganze Schaltkreise drucken oder fräsen, anstatt sie vom Hersteller oder einem Zwischenhändler zu beziehen. Personalisierung wird immer weniger in den Fabriken geschehen (müssen), sondern liegt in der Hand des Einzelnen oder eben in der von spezialisierten Dienstleistern. Die Demokratisierung der Produktionsmittel fördert damit allerdings nicht nur eine Entwicklung vom passiven Konsumenten zum aktiven Produzenten, sondern im nächsten Schritt die Weiterentwicklung des aufgeklärten Konsumenten, der kritisch fragt – und handelt. Spinnt man diesen Gedanken weiter, wird langsam klar: Es geht bei den Verwerfungen, die diese Ent wicklungen hervorrufen, nicht um ein paar wenige Unter nehmen. Sie haben Einfluss auf komplette, oftmals weltweit organisierte Wertschöpfungsketten, die bald neu gedacht werden müssen.
Wenn Produkte immer seltener in Asien massenproduziert, sondern in Deutschland nach Bedarf und individuell gedruckt werden, betrifft das nicht nur den Produzenten, der sich fragen muss, welche Rolle er in diesem Wertschöpfungsprozess noch spielt. Es betrifft genauso den Händler, egal ob stationär oder online. Es betrifft außerdem die Unternehmen, die heute per See- oder Luftfracht die Logistik für die Warenlieferungen koordinieren und ausführen, und schließlich die Logistikfirmen, die in Deutschland die Lagerung und die sogenannte letzte Meile – den Weg zum Endkunden – bedienen. All das wird ganz bestimmt nicht auf null reduziert werden. Wahrscheinlich werden sogar große Teile bekannter Marktstrukturen bestehen bleiben. Aber das ändert nichts daran, dass die anstehenden Veränderungen eine extrem große Herausforderung für die Verantwortlichen darstellen. Denn wenn schon eine kurze Rezession für viele Unternehmen zum Problem wird, was hat es dann für eine Wirkung, wenn zehn, 20 oder 30 Prozent des Marktes wegbrechen oder sich zumindest neu verteilen?
Immer wenn wir auf unserer Reise unseren Souvenirkoffer öffnen, die Fundstücke fein säuberlich nebeneinander aufreihen und ihre Geschichten erzählen, beginnen selbst die Unternehmen, die aufgrund ihres Forschungsaufwandes oder des großen Platzbedarfs fast unangreifbar erscheinen, sich hektisch umzuschauen: Was kommt auf ihre Branche zu? Die Pharmaindustrie wird mit Argusaugen auf ein Phänomen namens Biohacking schauen, das immer weitere Kreise zieht. Biohacker sind private Forscher, die sich entweder alleine oder aber gemeinsam mit Gleichgesinnten Labors ausstatten und dort ihre ganz eigenen Versuche und Studien anstellen. Ihnen kommt entgegen, dass man inzwischen Labortechnik, die früher den Wert eines Kleinwagens oder sogar eines Einfamilienhauses hatte, zu relativ kleinen Preisen bekommt. Ein Genkopierer kostet um die 500 Euro, ein komplettes Labor kann man sich für weniger als 4000 Euro einrichten, wie die Autoren Hanno Charisius, Sascha Karberg und Richard Friebe in einem Selbstversuch festgestellt haben, den sie in ihrem Buch Biohacking beschreiben.
Es ist zwar nicht zu erwarten, dass plötzlich nur noch Privatleute am Wochenende Medikamente oder Testverfahren entwickeln, an denen die großen staatlichen oder privaten Labors scheitern. Noch ist es so, dass die meisten Menschen, die sich mit Biohacking beschäftigen, eher spielerisch-experimentell mit dem Thema umgehen. Da wird die eigene DNA analysiert, und es werden Gene so umprogrammiert, dass sie im Dunkeln leuchten. Aber wenn man an den Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgeht, dann beschränkten sich damals auch viele Hobbyprogrammierer zunächst darauf, einfache Spiele zu programmieren oder Tannenbäume aus grünen Zahlen auf den Bildschirm zu zaubern. Der Schritt von spaßigen hin zu nützlichen und weitreichenden Anwendungen war da allerdings schon nicht mehr weit.
Quelle: Christopg Giesa/Lena Schiller Clausen: New Business Order. Wie Start-ups Wirtschaft und gesellschaft verändern. Carl Hanser Verlag, München 2014. 316 Seiten, 19,90 Euro. Mehr zum Buch.