Hoffmeisters Empfehlungen
Entlang luftiger Klänge
Metamorphosen zwischen Halluzination und Wirklichkeit
Selten sind es Gewissheiten, die die Wirklichkeit tragen. Horizonte verschieben sich, Verortung gerät zur zentralen Herausforderung. Orientierung und Fluchtpunkt bieten zunehmend die irrlichternden Zonen des Halbbewussten. In freundlicher Absenz, Tagtraum und Phantasmagorie richtet sich ein, wer Haltung sucht.
Gaito Gasdanows „Nächtliche Wege“ fixieren den Erlebnis- und Erkenntnisraum nächtlicher Taxifahrten im Paris der 20er und 30er Jahre vergangenen Jahrhunderts. Bettler, Huren, Gescheiterte, Alkoholiker und Selbstmörder bilden die Personnage eines Romans, der seine unerbittliche Schönheit aus surrealen Halbwelten und den Abgründen der Existenz bezieht. Der Kanon der literarischen Moderne kennt keinen zweiten Text von vergleichbar existenzieller, formaler und verbaler Konsistenz.
Im Zeichen ausgewählter romantischer Werke steht die aktuelle CD der Münchner Pianistin Sophie Pacini. „In Between“ spürt in der Musik von Clara und Robert Schumann, Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Paar- und Geschwisterbeziehungen nach. Beispielhaft verhandeln die klanglich heterogenen Preziosen das weite Ausdrucks- und Emotionsspektrum der Werke zwischen melancholisch-poetischer Einlassung, mystischer Versenkung, halluzinatorischer Entgrenzung, obsessiver Attacke und Kontemplation. Pacinis jederzeit pointierte, konturierte, reich kolorierte, nach vorne drängende Pianistik, ihre entwaffnende spielerische Brillanz und Strahlkraft lassen plastisch wie idealtypisch die Idee romantischer Klaviermusik erwachsen. Emphatische, überbordende Spiellaune greift Raum, ohne naheliegenden Effekten oder manirierter Eingebung nachzugeben. Eine fulminante Hommage an die Musik des 19. Jahrhunderts!
Gleichermaßen dem zauberischen Moment und märchenhaften Zwischenwelten verpflichtet, zeigt sich die Produktion der Mailänder Scala. Im labyrinthisch angelegten (Hecken-)Garten einer Barockvilla musiziert ein Kammerensemble Mozarts lichtätherisch gestimmte Quartette und Quintette. Entlang der luftigen Klänge inszeniert Choreograf Massimiliano Volpini mit Solisten und Ballett-Ensemble des Teatro alla Scala ein berückendes, mal affirmatives, mal ironisches Vexierspiel um Liebe und Verführung. Variantenreich, suggestiv und getragen von atemberaubender tänzerischer Verve loten die Protagonisten die Grenzbereiche zwischen Traum, Illusion und Wirklichkeit aus.
Das Richard Strauss Festival in Garmisch-Partenkirchen präsentiert in diesem Jahr unter der Überschrift „Metamorphosen“ erstmals die programmatisch-konzeptionelle Handschrift des neuen künstlerischen Leiters Alexander Liebreich.
Der beschauliche Ort vor der magischen Kulisse des Zugspitzmassivs diente dem Komponisten als stete Inspirationsquelle. Die Wandlungen der vielgesichtigen Natur vermochte Strauss wie kein Zweiter in suggestive, farbenreiche und emotional aufgeladene Klangtableaus zu überführen. Für die erste Festival-Ausgabe in seiner Verantwortung setzt Dirigent Liebreich auf Kontraste, unkonventionelle Werke-Kopplungen, ein ausgesuchtes Interpretentableau und neue Spielstätten wie Schloss Elmau, Kloster Ettal oder den imposanten Aussichtsberg Wank. In Festival-Programmatik und -Residenz wie im eminenten Œuvre von Strauss vereinen sich die existenzielle und alpine Dimension zu spannungsgesättigten Metamorphosen.
- Gaito Gasdanow, Nächtliche Wege, Hanser Verlag, 288 S., 23 Euro
- Sophie Pacini, In Between, Schumann & Mendelssohn, Warner Classics 0190295704940, CD
- Teatro alla Scala, The Lovers Garden, Nicoletta Manni, Roberto Bolle, Ballet Company of Teatro alla Scala, Choreography: Massimiliano Volpini, La Scala String Quartet and Soloists of the Orchestra of Teatro alla Scala, C Major 743708, DVD
- Richard Strauss Festival, (22.06.– 01.07.2018) Garmisch-Partenkirchen, richard-strauss-festival.de
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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