https://rotary.de/kultur/exlibris/schule-und-religion-a-17433.html
Titelthema

Schule und Religion

Titelthema - Schule und Religion
© llustrationen: Thomas Fuchs (3)

Das Schulwesen muss sich den Fragen öffnen, die seine real existierende Schülerschaft stellt, auch wenn sie bisher vielleicht nicht im Curriculum vorkamen.

Kurt Edler01.02.2021

Einige Wochen vor der US-Präsidentenwahl brachte ich per Facebook ein kleines Gedankenexperiment in Umlauf. Es lautete: Stellt euch vor, es ist der 4. November. Trump hat die Wahl verloren. Kurz darauf schiffen sich an der Ostküste der USA 5000 deutschstämmige Evangelikale ein. Sie wollen in die Heimat ihrer Väter übersiedeln und hoffen, dort die Todesstrafe wiedereinführen und Abtreibungen verbieten lassen zu können. Ihr Schiff heißt „QAnon“, und es nimmt Kurs auf Bremerhaven. Wollen wir sie reinlassen?

Die Anfrage provozierte diverse höchst originelle Antworten, die hier aus Platz- und Diskretionsgründen leider nicht wiedergegeben werden können. Auf jeden Fall war der Zweck erreicht; ich hatte die Toleranz meiner weltoffenen Kommunikationspartner auf die Probe gestellt, indem ich sie mit einer fiktiven Migrantengruppe konfrontierte, an die sie überhaupt noch nicht gedacht hatten.

Erbe des 20. Jahrhunderts

Der satirische Facebook-Impuls spielte auf zwei epochale Phänomene an: die Politisierung von Religion und die kulturelle Migration. Beide haben die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges verändert. Im Gefolge der Globalisierung betreffen sie auch die öffentlichen Bildungseinrichtungen des demokratischen Verfassungsstaats. Also stellt sich drängender als früher die Frage: Wie gehen seine Schulen mit der Religion um?

Mit dem Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung (Absatz 1: „Es besteht keine Staatskirche“) wurde die Trennung von Kirche und Staat unterstrichen und im Weiteren die Freiheit der Religionsgesellschaften gewährleistet, ohne dabei eine bestimmte Religion zu privilegieren. Der Geist dieses Artikels ist in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eingeflossen, dessen föderale Verfassung sich jedoch 1949 der Tatsache gegenübersah, dass Bundesländer wie Bremen die Frage des Religionsunterrichts bereits für sich geregelt hatten. Artikel 7 GG besagt zwar in Absatz 1, dass „das gesamte Schulwesen (...) unter der Aufsicht des Staates“ stehe, bestimmt jedoch in Absatz 3, dass „der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach“ sei und „unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes ... in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ werde. Weiter heißt es dann: „Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.“

Autonomie und Pluralismus

Vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes hatte die soeben zitierte Regelung auch den Sinn, den Zugriff des Staates auf Dinge, die ihn nichts angehen, zu zügeln. Der Staat der „nationalsozialistischen Weltanschauung“ hatte die Religionsfreiheit de facto nicht respektiert. Wer kein Konkordat mit dem Deutschen Reich geschlossen hatte, sondern die Freiheit eines Christenmenschen mutig verteidigte, hat dafür mit dem Leben bezahlt. Nach dieser Erfahrung sollte der liberale, religionsneutrale Verfassungsstaat nicht das Recht haben, durch seine Unterrichtsbeamten den Kindern der Gläubigen erklären zu lassen, was die Botschaft ihrer heiligen Bücher ist.

Doch blicken wir noch ein wenig weiter zurück. In der schlichten, kleinen Welt der alten Bundesrepublik lag die Befugnis, Religion zu unterrichten, entweder bei den Vertretern der beiden großen christlichen Kirchen oder bei vorgebildeten Lehrkräften mit entsprechender Konfessionszugehörigkeit. Da der Unterricht freiwillig war und auf dem Zeugnis häufig nur „teilgenommen“ stand, hat ihn die Nachkriegsgeneration meistens in relativ milder Erinnerung. Einige meiner Klassenkameraden im protestantischen Nordwesten Deutschlands wurden allerdings während der Religionsstunden separiert. Sie waren katholisch. Was in ihrem Unterricht gelehrt wurde, erfuhren wir nicht. Erteilt wurde er von einem Kirchenbediensteten.

Was mir damals als Heranwachsender sonderbar vorkam, mag aber dennoch seinen Sinn gehabt haben. Ich würde mich heute vor einer zu simplen Bewertung hüten. Denn in der Abwägung der tangierten Verfassungsgüter geht es um die individuelle Glaubensfreiheit nach Artikel 4 GG, mithin auch um das Recht auf religiöse Bildung und die Möglichkeit eines Austausches mit den Angehörigen der eigenen Religion. Der Biologielehrer soll die unbefleckte Empfängnis nicht kommentieren. Doch schaue ich auf die Verwirklichung dieses Rechtes in der Schule, dann beginnen sich in mir der Liberale, der Demokrat und der Republikaner zu streiten. Der Liberale sagt: „Nun lass sie doch!“ Der Demokrat sagt: „Aber dann alle anderen auch, und nicht nur die Religiösen!“ Und der Republikaner kontert: „Vorsicht, Leute, denkt doch mal als Ganze!“

Wer heute auf den gesamtdeutschen Flickenteppich der Regelungen zum Religionsunterricht schaut, wird feststellen, dass er so bunt und unübersichtlich ist wie nie zuvor. Mangelnder Pluralismus ist hier wirklich nicht das Problem. Unzählige Sondervereinbarungen zwischen Bundesland und Religionsgemeinschaften regeln, wer wann wo das Schulfach unterrichten darf. Die Idee der interreligiösen Zusammenarbeit ist hingegen sehr gering entwickelt. Und das macht dem Republikaner in mir Unbehagen. Denn ich sehe ja, wie unsere Gesellschaft sich ohnehin zerlegt. Das sollte durch ein schulisches Nebeneinander nicht noch begünstigt werden.

Weihnachten statt Ramadan

Bekenntnisbindung ist also, für sich genommen, gar nicht das eigentliche Problem. Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht konnte gar nicht anders, als sich im Laufe der Jahrzehnte zu modernisieren und den Ansprüchen einer aufgeklärteren Öffentlichkeit und einer dialogorientierten Pädagogik zu genügen. Gerade die Konkurrenz mit Fächern wie Ethik und Philosophie dürfte dies vorangetrieben haben. Selbstverständlich wird unter dem Schutz der Religionsfreiheit jesuitische Dialektik ihre Wirkung nicht verfehlen, besonders dann, wenn die pädagogische Beziehung stimmt. Aber warum soll uns das stören? Selbst in einer demokratiepädagogischen Lehrerfortbildung frage ich die Seminarmitglieder manchmal: Kann ich mir eigentlich wünschen, dass mein Schüler mir nur aus Sympathie weltanschaulich folgt? Das ist unser ständiges professionelles Dilemma, und es betrifft keineswegs nur die Gefahr der religiösen Überwältigung.

2021, titelthema, februar, religion

In unserer multikulturellen Gegenwart tut sich jedoch ein ganz anderes Problem für den Religionsunterricht auf. Es ist das Problem monopolisierter Zuständigkeit. Die beiden großen christlichen Kirchen verlieren jährlich Hunderttausende von Mitgliedern. Mit den fünf neuen Bundesländern hatten wir zudem 1990 ein „heidnisch verkarstetes“ Terrain geerbt (so einst der beißende Ausspruch eines brandenburgischen Ministerpräsidenten); womit sollte sich dort also ein christliches Monopol rechtfertigen? Hier in Hamburg-Altona, wo ich sitze und diese Zeilen schreibe, gibt es eine starke türkische Community, die es alle Jahre klaglos hinnimmt, dass selbst in einer Schule mit 80 Prozent Schülern kulturmuslimischen Hintergrunds nur Weihnachten gefeiert wird, aber nie Ramadan. Und dabei sind die geduldigen Eltern und Großeltern noch nicht einmal das Problem; sie kamen zu uns aus einer kemalistischen Türkei.

Herausforderungen der Zeit

Ironischerweise liefert uns jedoch gerade der Dschihadismus, der die jungen Köpfe der dritten und vierten Generation verwirrt, ein Argument für den Religionsunterricht aus berufenem Mund und persönlicher Überzeugung. Es geht nicht um die Alternative Lehren oder Bekehren. Es geht um Extremismusprävention. In den Jahren, in denen ich im Hamburger Schulwesen hierfür zuständig war, waren wir mit völlig neuen Konfliktkonstellationen konfrontiert. Die Religion kam weder vom Staat noch aus Kirche oder Moschee, sondern aus den Social Media und dem terroristischen Untergrund. Natürlich als „Fake“, als brutal schlichte Lizenz zum Töten – aber äußerst wirksam und vor allem viel wirksamer als die verzweifelt mahnenden Worte aus dem Munde der alten Imame. Es bedurfte also eines Ortes, den Fake-Islam als mentalen Sprengstoff zu entschärfen. Unsere ersten Gesprächsrunden mit Imamen und Vereinsfunktionären fanden sogar in der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes statt. Längst arbeiten ja bei den Sicherheitsbehörden auch ausgebildete Theologen und Kulturwissenschaftler. Von den herben Erkenntnissen, die hier über den Tisch gingen, haben wir für die Aufklärung von Schulleitungen, Lehrerkollegien und vor allem Schülerschaften ungeheuer profitiert. So paradox es klingen mag: Guter Religionsunterricht kommt heute ohne geheimdienstliches Wissen nicht aus – und auch nicht ohne eine rhetorisch gestählte Pädagogik, die cool mit totalitären Mustern umzugehen versteht.

Die Klage einer Hamburger Religionslehrerin geht mir nicht aus dem Sinn: „Früher hat mir der Religionsunterricht so viel Spaß gemacht. Aber jetzt sitzen sie da, blicken mich grimmig an und warten nur auf die Gelegenheit zur Kontroverse.“ In dieser unfriedlichen Gegenwart ist unser Leitbild eine Lehrperson, die mit beiden Beinen auf der demokratischen Verfassung steht, authentisch mit ihren Schülern über die gemeinsame Religion reden kann, theologisch gebildet ist und den Anforderungen an einen Unterricht entspricht, der zur Selbstständigkeit und zum kritischen Denken erzieht.

Hamburg als Bundesland hatte früher einen Religionsunterricht in evangelischer Verantwortung. Als Metropole zählt es 140 Religionsgemeinschaften. Die gute Zusammenarbeit zwischen den größeren unter ihnen ist für Projekte interreligiösen Lernens fruchtbar gemacht worden. Als Landesregierung hat der Senat ein Junktim zwischen Vereinsbeteiligung, Lehrerbildung, akademischer Zuarbeit und der Entwicklung von Unterrichtsmaterial gefördert, das auch von konservativen religiösen Verbänden mitgetragen wird. Leitbild ist ein „Religionsunterricht für alle“. In einem Netzwerk zur Prävention und Deradikalisierung fanden sich Moscheevereine, Sicherheitsbehörden und Nichtregierungsorganisationen gleichberechtigt an einem Tisch zusammen. Dort wird über alle Fragen gesprochen – auch über Radikalisierungsprozesse in den religiösen Milieus. In der stadtteilbezogenen Verständigung sind es nicht selten Religionsvertreter mit Bodenhaftung, die die entscheidenden Informationen über aktuelle Gefahrenlagen liefern.

Fazit

Wenn wir die Stabilität der freiheitlich verfassten Gesellschaftsordnungen nicht nur in Frankreich und Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus bewahren wollen, dann darf sich demokratische Politik nicht in einen Weltanschauungskrieg mit ganzen Milieus stürzen. Die Staatskunst wird darin bestehen, sich von einer Verantwortungsethik leiten zu lassen, die einerseits das Feld der eigentlichen Gefahrenabwehr klar eingrenzt und andererseits in einen souveränen Dialog mit problematischen Strömungen eintritt. In der Demokratie der Weltgesellschaft geht es um das Management kultureller und religiöser Diversität. Dazu muss ein Schulwesen sich den Fragen öffnen, die seine real existierende Schülerschaft stellt, auch wenn sie bisher vielleicht nicht im Curriculum vorkamen.

Im Rückblick auf unseren satirischen Eingangsimpuls lautet also die Antwort auf die dort gestellte Frage: Ja, wir lassen sie rein. Wir schaffen das.

Kurt Edler

Kurt Edler war in Hamburg bis 2015 als Leiter des Referats Gesellschaft am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung tätig und unter anderem für den Religionsunterricht zuständig. Von 2008 bis 2017 war er Bundesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik.