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Japanischer Teemeister

Frieden durch eine Schale Tee

Japanischer Teemeister - Frieden durch eine Schale Tee
© Minmin Wu (alle Fotos)

Wie ein japanischer Teemeister nach bedrückenden Ereignissen im Zweiten Weltkrieg Tee, Tradition und Rotary verbindet

01.11.2022

Von Go Tamitami und Wen Huang

Im Juli 2011 reiste Genshitsu Sen, der ehemalige Großmeister der Urasenke-Tee-Tradition und Mitglied des Rotary Clubs Kyoto, Japan, nach Hawaii, wo er 60 Jahre zuvor das erste Urasenke-Chapter außerhalb seines Heimatlandes gegründet hatte, um die Praxis des chadō - wörtlich "der Weg des Tees" - zu fördern und dadurch die Botschaft von Frieden, Versöhnung und Brüderlichkeit zu verbreiten.

Auf dieser Reise hatte Sen eine besondere Mission. Er war eingeladen worden, am USS Arizona Memorial in Pearl Harbor eine Teeopferzeremonie durchzuführen, um die Seelen aller Kriegstoten zu trösten. In den Medien wurde dies als Symbol für den Heilungsprozess zwischen den Vereinigten Staaten und Japan gefeiert, deren bittere Feindschaft im Zweiten Weltkrieg so viele Menschenleben gekostet und so viel Zerstörung verursacht hatte.  

Für Sen war diese Teeopferzeremonie auch eine sehr persönliche Angelegenheit. Im Jahr 1943 wurde er zur kaiserlich japanischen Marine eingezogen und wurde Pilot in der Luftwaffendivision. In den letzten Kriegstagen teilte ihn das japanische Marinekommando der Special Attack Force zu, die Selbstmordeinsätze gegen alliierte Marineschiffe fliegen sollte.

Zum Glück für Sen griff eine verborgene Hand ein, um ihn zu retten, aber bevor er herausfinden konnte, wer ihn davon abgehalten hatte, zum letzten Mal in ein Cockpit zu steigen, war das Kriegsende gekommen. Viele seiner Kameraden waren in den Tod gestürzt, wobei schätzungsweise 7.000 amerikanische, britische und australische Seeleute ums Leben kamen. Auch unter den angreifenden Piloten gab es einen hohen Blutzoll - bis zu 3.800 flogen in den sicheren Tod.

Die Gesichter dieser Kameraden sind Sen noch heute im Gedächtnis, ebenso wie die anderen grausamen Folgen des Krieges. Nach Kriegsende widmete er sein Leben dem Ziel, Frieden und Harmonie in der Welt zu schaffen – ein Ideal, das tief in der Teezeremonie verankert ist.  

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An der Gedenkstätte in Pearl Harbor

Am frühen Morgen des 19. Juli 2011 wurde Sen in Pearl Harbor in die strahlend weiße, unter freiem Himmel gelegene Gedenkstätte geführt, die über dem gesunkenen Rumpf der Arizona errichtet wurde. Fast die Hälfte der bei dem Überraschungsangriff der Japaner am 7. Dezember 1941 ums Leben gekommenen Menschen gehörten zur Besatzung der Arizona. Von den 1.177 Todesopfern an Bord des Schiffes liegen die Überreste von 1.102 Besatzungsmitgliedern noch immer im Wrack begraben. Fernsehbilder von Sens Besuch zeigen den Großmeister, der sich zielstrebig bewegt und in einen schwarzen Kimono gekleidet ist, der neben seinem ernsten Gesichtsausdruck und seiner dichten Mähne aus silbernem Haar hervorsticht. Er trug weiße Socken mit gespaltenen Zehen nach der japanischen Tabi-Mode. Das aufwändige Teeservice war auf einem schwarz lackierten Tisch in der Mitte des Versammlungsraums aufgebaut, wo mehr als 200 japanische und amerikanische Gäste, darunter Politiker, Kriegsveteranen, führende Persönlichkeiten der Gesellschaft und Urasenke chadō-Praktizierende, versammelt waren, um dem altehrwürdigen japanischen Ritual beizuwohnen.

Mit einem quadratischen Seidentuch, dem so genannten fukusa, reinigte er die Teegeräte, bevor er das Grünteepulver in eine Zeremonienschale gab und heißes Wasser aus einem dampfenden Kessel aufgoss. Mit einem Bambusbesen bereitete Sen zwei heilige Portionen zu - einen Koicha, den "dicken Tee", und einen Usucha, den "dünnen Tee".

Sobald jede Schale zubereitet war, trug er sie zum inneren Schrein der Gedenkstätte, wo die Namen der amerikanischen Matrosen, die während des Angriffs ums Leben kamen, in eine hoch aufragende Gedenkwand eingemeißelt sind. Dort hob er seinen Kopf zum Himmel und hob die Schale mit ausgestreckten Armen als Opfergabe für diese verlorenen Seelen. Nach einiger Zeit senkte er die Schale auf einen hölzernen Opfertisch. Dann faltete Sen seine Hände zum Gebet und sprach eine letzte stille Bitte aus. Er rief den Geist des Friedens und der Versöhnung in den Saal und in die Herzen der Versammelten. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und in der Stille war die Symbolik ohrenbetäubend.

"Ich habe 88 Jahre gelebt, und dieses Ereignis hier und heute wird für mich persönlich das denkwürdigste sein", sagte Sen am Ende der Zeremonie und fügte hinzu, dass es die Verantwortung der heute Lebenden sei, sich der Vergangenheit zu stellen und ihre Lehren in die Zukunft zu tragen.

Edwin Futa, ein japanischer Amerikaner, der ursprünglich aus Hawaii stammt, kennt Sen seit mehr als zwei Jahrzehnten. Das Teeangebot in Pearl Harbor fand bei Rotary-Mitgliedern in aller Welt großen Anklang, so Futa, der von 2000 bis 2011 als RI-Generalsekretär diente. "Das Ereignis wurde in 32 Ländern übertragen, und viele Rotarier, darunter auch ich, haben es gesehen oder darüber gelesen", so Futa. "Was Sen tat, verkörpert Rotarys ständiges Streben nach Frieden und unsere Bemühungen, Spaltungen zu überwinden."

Kyoto: Hauptstadt des Friedens und der Beschaulichkeit

Kyoto ist auf drei Seiten von Bergen umgeben und liegt in einem Tal, das als Kyoto-Becken bekannt ist, im Südwesten der japanischen Hauptinsel Honshu. Ursprünglich hieß Kyoto Heian-kyō – wörtlich übersetzt "Hauptstadt des Friedens und der Ruhe" – und war von 794 bis 1868 Sitz des kaiserlichen Hofes, als Kaiser Meiji das politische Zentrum des Landes in die heute als Tokio bekannte Stadt verlegte. Die tiefe Geschichte Kyotos hat die Stadt mit 1.600 klassischen buddhistischen Tempeln, 400 Shinto-Schreinen, Palästen, Gärten und architektonischen Schätzen ausgestattet. Künstlerische Ausdrucksformen wie Kabuki, Geisha und Ikebana (Blumenarrangements) erblühten hier ebenso wie die kriegerischen Traditionen der Samurai-Krieger.   

Während des Zweiten Weltkriegs stand Kyoto Berichten zufolge ganz oben auf der Liste als mögliches Ziel für einen Atombombenangriff. Henry L. Stimson, der amerikanische Kriegsminister, war jedoch der Meinung, dass die Stadt verschont werden sollte.

Aus verschiedenen historischen Berichten geht hervor, dass Stimsons Entscheidung auf zwei Faktoren zurückzuführen war: Erstens fürchtete er eine mögliche Empörung des japanischen Volkes und der internationalen Gemeinschaft über die Zerstörung einer Stadt, die ein Heiligtum der japanischen Kunst und Kultur war. Zweitens hatte Stimson in den 1920er Jahren mit seiner Frau Kyoto besucht und war von der Schönheit der Stadt beeindruckt, auch wenn er diese Motivation nie öffentlich zugab.

Nennen Sie es Realpolitik oder nennen Sie es Gefühl – wie auch immer, die ersten Atombomben, die im Krieg eingesetzt wurden, ließen ihre massive Zerstörung auf Hiroshima und Nagasaki niederregnen, und die Pracht Kyotos blieb erhalten. Als kulturelles und spirituelles Zentrum ist Kyoto heute ein lebendiges Museum japanischer Traditionen, zu denen auch die alte Teezeremonie gehört. Die Stadt beherbergt die drei bedeutendsten Chadō-Schulen Japans, darunter die als Urasenke bekannte Institution.

Konnichian: "Die Hütte des heutigen Tages"

Ein leichter Frühlingsregen fällt auf Kyotos traditionelle Holzhäuser mit ihren geschwungenen, langgestreckten Dächern, und das üppige Bambusdickicht ist in Nebel gehüllt, was der ruhigen, grauen Umgebung eine mystische Note verleiht.  

Sen wohnt in dem historischen Teehaus Urasenke Konnichian (Hütte dieses Tages) in der Ogawa-Straße in Kyoto. Das 1646 gegründete Anwesen ist die Heimat der Urasenke chadō-Tradition.

Das mit Zedernholz überdachte Eingangstor ähnelt einem Samurai-Helm. Vom Tor aus folgt der Besucher einem steinernen Weg, der sich durch einen grünen Garten unter einem Dach aus gepflegten Kiefern schlängelt. Es wird erwartet, dass die chadō-Teilnehmer all ihre weltlichen Gedanken und Wünsche hinter sich lassen, wenn sie den Garten durchschreiten – um den Übergang von der stressigen materialistischen Welt zur erhabenen Ruhe einer chadō-Versammlung zu vollziehen.   

Am Ende des Weges liegt die Veranda des Hauptgebäudes, in dem sich eine Vielzahl rustikaler Teeräume mit schlichten Lehmwänden befindet. Die schnörkellose Architektur vermittelt die Würde der Familie, die aus Teemeistern hervorgegangen ist. Die Gesamtästhetik des Gebäudes spiegelt die des japanischen chadō wider – Einfachheit, Subtilität und ein tiefer Sinn für die Natur und die menschliche Gemeinschaft.

Im Inneren eines kleinen Teeraums lassen Schiebetüren aus Holzgittern, die mit einem durchsichtigen japanischen Papier bespannt sind, natürliches Licht aus den dahinter liegenden Gärten eindringen. Im hinteren Teil des Raumes steht ein schwarz lackierter, niedriger Tisch, auf dem Teezubehör steht. In der Mitte des Raums befindet sich eine Feuerstelle, in der glühende Holzkohle die Kälte des Märzmorgens in Schach hält. Eine einzelne Glühbirne taucht den Raum in sanftes Licht und schafft eine feierliche und geheimnisvolle Atmosphäre.

Schließlich betritt Sen, in ein graues Gewand gekleidet, den Raum, steht aufrecht und beruhigt seinen Besucher mit seinem fröhlichen und sonoren Lachen. Mit einer Größe von fast 1,80 m strahlt er die Würde seines Charakters aus, für die er bekannt ist. Sein dichtes graues Haar ist ordentlich nach hinten gekämmt, was seine langen Augenbrauen noch mehr zur Geltung bringt. Seine Augen strahlen Sanftmut und Wärme aus. Man ist sich bewusst, dass Sen, der im April 99 Jahre alt geworden ist, viele turbulente Ereignisse des 20. Jahrhunderts miterlebt hat.  Er ist ein Orakel der Geschichte. Man kann nicht umhin, sich vor seiner Weisheit, Vision und Menschlichkeit zu verneigen.

Urasenke-Traditionen treffen auf rotarische Werte

Unser Gespräch beginnt mit Rotary. "Ich sage Ihnen, Rotary ist ein großer Teil meines Lebens", sagt er und seine Augen leuchten. "Mein Vater führte mich 1954 in Rotary ein, als ich 31 Jahre alt war. Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Leben ohne Rotary nicht mehr leben könnte. Die Werte von Rotary passen perfekt zu den Grundsätzen unserer Urasenke-chadō-Tradition, wie Wa (Harmonie), Kei (Respekt), Sei (Reinheit) und Jaku (Ruhe). Daher betrachtete ich mich bereits als Mitglied, als mein Vater mir von der Philosophie von Rotary erzählte. Nicht lange danach trat ich dem Rotary Club Kyoto bei. Ich erinnere mich, wie mir einige ältere Mitglieder sagten, dass Rotary nicht nur ein Ort der Freude und des Vergnügens sein sollte, sondern ein Ort der Selbstkultivierung, des Lernens und des Dienstes an der Gemeinschaft. Diese Worte klingen mir bis heute in den Ohren und motivieren mich, mein Leben dem Dienst zu widmen, ins Unbekannte vorzustoßen und mich Herausforderungen zu stellen."

Manchmal scheint Sen in Erinnerungen zu schwelgen, besonders wenn er sich an wichtige Rotary-Veranstaltungen erinnert, an denen er teilgenommen hat. Seine Stimme erhebt sich, während er sich nach vorne beugt und von seinen Erfahrungen erzählt, als würde er einen Familienschatz auspacken.  

"1954 half ich, einen neuen Club in Kyoto zu gründen – den Rotary Club Kyoto-Süd", sagt er. "Viele prominente Menschen aus der Stadt traten bei. Ich erkannte, dass wir etwas für unsere Stadt tun mussten, um Rotary wachsen zu lassen. Unsere Errungenschaften mussten auch von der Community anerkannt werden. Das war sehr wichtig. Die Gründung unseres Clubs fiel in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs Japans.  Das ungezügelte Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung drohte unsere Stadt zu bedrohen. Viele historische Denkmäler und Kulturstätten waren vom Abriss bedroht, und unsere Umwelt wurde schwer geschädigt".

Sen und seine Rotary-Kollegen wandten sich an die Medien, um die Öffentlichkeit und Unternehmen über die Bedeutung des Schutzes historischer Stätten und der Umwelt aufzuklären. Sein Club veranstaltete Symposien und lud Politiker, Unternehmen und führende Persönlichkeiten aus der Gesellschaft zu politischen Diskussionen ein. So gelang es ihnen, Bauprojekte zu stoppen oder umzuleiten, die den historischen Charakter Kyotos hätten beschädigen oder sogar auslöschen können. "Wir wurden zu einer starken Stimme in der Stadt, und der Rotary Club Kyoto-Süd gewann schnell das Vertrauen und die Unterstützung der Bevölkerung", sagt er.  

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Bei einer Teezerenonie

1964, nach dem Tod seines Vaters, übernahm Sen das Amt des Urasenke-Großmeisters und repräsentierte damit die 15. Generation der Urasenke-Linie. Trotz seiner neuen Aufgaben blieb er ein aktives Mitglied von Rotary und wurde zum Präsidenten des Rotary Clubs Kyoto gewählt.

"Wir vergrößerten den Einfluss von Rotary in der Region Kansai in Japan", erinnert er sich. "Auf unseren Meetings sammelten wir Spenden für bedürftige Menschen in Japan und in anderen Teilen der Welt. Wir hatten kulturelle Austauschprogramme und gemeinsame Projekte mit Clubs in anderen Ländern. Unser Club richtete ein Stipendienprogramm mit dem Namen 'Winds of Hope' für internationale Studenten ein, die zum Studium nach Japan kommen. Gleichzeitig reiste ich mit Gruppen junger Japaner in Länder auf der ganzen Welt und traf mich mit Regierungsvertretern, Mitgliedern der königlichen Familie und führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft. Ganz gleich, wohin wir reisten, ob es dort Rotary Clubs gab oder nicht, wir warben stets für die rotarische Philosophie und vermittelten unsere Botschaft von Frieden und Harmonie."

Sens Arbeit brachte ihm große Anerkennung in der rotarischen Welt ein. Er diente von 1988 bis 1990 als Director von Rotary International und von 1998 bis 2002 als Trustee der Rotary Foundation. In den Jahren 2003/04 leitete er den Ausschuss für die diesjährige RI-Convention in Osaka. Die Convention zog mehr als 45.000 Menschen aus der ganzen Welt an und stellte damit einen Teilnehmerrekord auf. Frieden war ein dominierender Schwerpunkt bei der Veranstaltung, auf der Sadako Ogata, ehemalige Rotary Ambassadorial Scholar und Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, zum Beispiel dem Publikum erzählte, dass ihre Erfahrungen als Stipendiatin ihr geholfen hätten, die Ursachen und Folgen von Konflikten zu verstehen.

Ein Leben zu Ehren der Verstorbenen

Sens friedensfördernde Mission wurde durch seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geboren. Im Jahr 1943 trat er als Student der Doshisha-Universität in Kyoto in die Luftwaffe der kaiserlichen japanischen Marine ein. Ein Jahr später, im Oktober 1944, als Japan den Krieg verlor, begann die Marine mit der Bildung der Special Attack Force.  
Laut der japanischen Zeitung Mainichi Shimbun trainierte Sen zusammen mit 200 Kameraden für Selbstmordeinsätze, bei denen feindliche Schiffe durch mit Sprengstoff gefüllte Flugzeuge versenkt werden sollten. Sen befürchtete, dass ihn bald das gleiche tragische Schicksal ereilen würde wie einen seiner Vorfahren, Sen no Rikyū, der im 16. Jahrhundert von einem Feudalherrn den Befehl erhielt, das Samurai-Ritual des Seppuku zu vollziehen, den rituellen Selbstmord.

An dem Tag, der für seinen Selbstmordversuch vorgesehen war, strich ein vorgesetzter Offizier aus heiterem Himmel Sens Namen von der Einsatzliste, obwohl er sich auf den Tod vorbereitet hatte. Der Offizier befahl ihm, sich zurückzuziehen, obwohl er wiederholt darum gebeten hatte, sich seinen Kameraden anzuschließen. Stattdessen wurde Sen zu einer Militäreinheit im Westen Japans geschickt. Nach dem Krieg traf Sen einen ehemaligen hohen Offizier und fragte ihn, warum er verschont worden war. Der Offizier antwortete: "Betrachten Sie es als Ihr Schicksal". Diese Last trägt Sen heute mit Würde.

"Es war ein schreckliches Gefühl, überlebt zu haben", sagt er. "Meine Offizierskollegen und Freunde starben, und auch meine Frau starb 1999 und ließ mich allein zurück. Aus diesem Grund habe ich oft das unerklärliche Gefühl, dass ich die Zeit meiner Kameraden und derer, die hätten leben sollen, geerbt habe. Sie haben ihr Leben auf mich übertragen. Ihnen zuliebe muss ich ausharren, gut leben und lange genug leben, um mein Schicksal zu erfüllen."

Sen neigt den Kopf nach oben und schließt die Augen. Eine Aura der Traurigkeit ersetzt seine gute Laune, während die Freude dem Gefühl des Verlustes und der Isolation des Alters weicht.

Nach einem kurzen Moment endet die Stille. Die Wolke lichtet sich. Sen öffnet seine Arme mit einem Lächeln und sagt mit dem Enthusiasmus eines jungen Mannes: "Durch den Verlust fühle ich, dass Rotary meine Familie ist. Es befreit mich von meiner Einsamkeit und gibt mir das Gefühl, wertgeschätzt zu werden. Wann immer ich an Clubaktivitäten teilnehme und junge Rotary-Mitglieder treffe, fühle ich mich ihnen besonders nahe, als wäre ich mit meinen Kindern zu Hause. Ich danke Rotary und dem chadō, dass sie mich jung machen und mir Liebe und Energie geben."

Teetrinken mit dem Meister

Was das Geheimnis seines langen Lebens angeht, so sagt Sen, dass er weder raucht noch trinkt. In seiner Jugend beschäftigte er sich mit Kampfsport (Judo) und trainierte viele Jahre lang als Reiter. Im Jahr 1967 wurde er als Ersatzreiter in die japanische Reiternationalmannschaft berufen und war lange Zeit Präsident des japanischen Reitverbandes. Im Jahr 2008 begleitete er die japanischen Reiter zu den Olympischen Sommerspielen in Peking.
Bei all diesen Unternehmungen "beruhigt das Teetrinken meinen Geist", sagt er, während er den Urasenke-Stil der Teezubereitung demonstriert. "Wenn mein Geist ruhig ist, lese ich Bücher, was mein Wissen bereichert und mir hilft, mich zu konzentrieren.    

Als wir unseren Tee zubereitet haben, fragt Sen: "Wie schmeckt er?"

Das glänzende Gebräu besteht aus einem dicken Schaum über der dunklen Mischung aus pulverisiertem Grüntee darunter. In der Herbheit liegt eine gewisse Süße. Jeder Schluck bringt eine neue Empfindung, der Geschmack ist luxuriös, aber mit einem ausgeprägten Aroma der Jahreszeit verfeinert.

Das Gespräch dreht sich nun um den Einmarsch Russlands in der Ukrain. Sen war eingeladen worden, vor einer Gruppe von 200 jungen Rotary-Mitgliedern im Hotel Okura in Kyoto über die humanitären Hilfsaktionen der japanischen Clubs und Distrikte zu sprechen. "Die Tragödie meiner frühen Jahre wiederholt sich", seufzt er. "Die politische Führung in Russland hat einen unprovozierten Krieg gegen die Ukraine begonnen, trotz der Verurteilung durch die internationale Gemeinschaft. Ich frage mich immer, was Rotary in solch schwierigen Zeiten tun kann und sollte. Wir müssen etwas tun, um einen weiteren globalen Krieg zu verhindern."

Sen hält einen Moment lang inne, tief in Gedanken versunken. Er hebt sein Teegeschirr, als würde er die Welt mit einem Schild vor Krieg schützen. Was kann man tun, um den Frieden für die Zukunft zu sichern? Er sagt, die Frage liege ihm immer schwer auf dem Herzen. Sein Vertrauen liegt bei der jungen Generation.

"In der Vergangenheit habe ich mir am meisten Sorgen um unsere Umwelt und den Klimawandel gemacht", sagt er. "Ich bin herumgelaufen und habe die Koexistenz von Mensch und Natur gefordert. Jetzt aber ist die Situation noch schlimmer. Zuerst war es Covid-19. Dann der Krieg in der Ukraine. Einige fehlgeleitete Führer bedrohen die Welt sogar mit Atomwaffen. Dies sollte jeden Bürger beunruhigen, insbesondere junge Menschen. Diese schwierige Zeit bietet Rotary die Gelegenheit, stärker zu werden und die Unterstützung der Städt und Gemeinden zu gewinnen. Wir müssen mehr junge Menschen für Rotary und unsere Friedensmission gewinnen."

Spenden zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine sind zwar wichtig, doch Sen ist der Meinung, dass moralische und geistige Unterstützung ebenso notwendig ist. "Junge Menschen müssen sich stärker gegen Kriege aussprechen", sagt er. "Wir dürfen diejenigen nicht vergessen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Wir sind heute hier, weil sie sich geopfert haben".

Es geht auf die Mittagszeit zu. Der Morgennebel hat sich aufgelöst. Ein Sonnenstrahl kündigt sich an und beleuchtet das Shoji-Papier der Schiebetüren. Die feuchte Luft und der anhaltende Duft von frischer Erde und neuen Pflanzen im Garten verstärken das Gefühl der Ruhe und Gelassenheit, das diesen Ort umhüllt.

Mit Rotary und seinem Beruf als Teemeister scheint Sen die perfekte Berufung gefunden zu haben – er setzt sich unermüdlich für Frieden und Verständigung ein und versucht gleichzeitig, jeden Konflikt zu vermeiden, der zu den Schrecken eines neuen Weltkriegs führen könnte.

"Er ist nicht nur ein Meister der Urasenke-Tee-Tradition, sondern auch ein geistiger Führer von Rotary in Japan", sagt Futa. "Seine Existenz ist ein Wunder an sich, und sein Leben erinnert uns an die unendlichen Möglichkeiten des Lebens."

Autor Go Tamitami ist ein in Tokio lebender Schriftsteller und Fernsehproduzent. Autor Wen Huang ist Chefredakteur des amerikanischen Rotary Magazines.

Eine englische Fassung dieses Textes finden Sie im Rotary Magazine (USA) vom August 2022.