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Buch der Woche

Gesellschaftssatire auf Finnisch

Schräg und jenseits aller politischen Korrektheit erzählt Kyrö in seinem neuen Roman aus dem (fiktiven) Leben des letzten Königs von Finnland und schreibt nebenbei die Geschichte des 20. Jahrhunderts um. Changierend zwischen Philosophie und Nonsens spottet der Autor genüsslich über Monarchie, Demokratie und Weltgeschehen. Eine großartige Gesellschaftssatire.

10.10.2014

Pena Penttinen

 

Ich bin ein Freund großer Brüste. Das hat mir ein bisschen Ärger eingebracht: Rausschmiss und Scheidung. Mein eigenes Zuhause musste ich deswegen räumen, das Schloss auf dem wertvollsten Grundstück der Hauptstadt.

Heute bin ich allerdings glücklicher als je zuvor. Aus meinem früheren Leben vermisse ich lediglich mein Auto und meine Familie, die wegen meiner Dummheiten auseinandergebrochen ist. Ohne Auto kann man leben, aber die Bestandteile meiner Familie will ich versuchen, wieder zusammenzusetzen.

 

Das Schloss ist gestern eingestürzt. Sie haben es im Fernsehen gezeigt, und ein Experte hat die Gründe erläutert: altes Gebäude mit schlechtem Pfahlwerk, dazu schwere Feuchtigkeitsschäden im Gemäuer.

Ich bin hingegangen, um mir den Ort, den ich so gut kenne, ein letztes Mal anzusehen, denn morgen wird dort bereits etwas Neues gebaut.

In dem Elektrogeschäft, wo ich als Aushilfe im Lager arbeite, habe ich mir einen Tag freigenommen und meine jüngere Tochter Irma gebeten, mich zu begleiten. Sie hat mehr als zwei Jahrzehnte in Schlössern und auf Gütern gelebt, bevor wir in einen Wohnblock zogen. Jetzt fühlt sie sich diskriminiert. Sie hat gesagt: Interessiert mich nicht, das zeigen sie auch im Fernsehen. Und: Bring auf dem Rückweg Paprikachips mit.

Auf dem Platz standen so viele Menschen, dass ihre Schultern sich berührten. Alle griffen nach Steinbrocken, die vom Schloss herunterrollten, bis vor die umliegenden Häuser und zwischen die geparkten Autos auf den Parkplätzen. Touristen filmten die Szenerie mit ihren Handykameras. Übertragungswagen mehrerer TV-Stationen waren vor Ort.

Es war befremdlich, dass sich das Schloss nicht mehr über allem erhob, sondern bloß noch ein Felshügel übrig war.

Ich hätte meinen ehemaligen Besitz gern noch einmal betreten, aber der Zaun und die Arbeiter verhinderten es. Nur Lastwagen durften hinein, um den Schutt über provisorische Brücken abzutransportieren.

Die Mauer war komplett verschwunden, ein paar Schornsteine standen noch, aber auch die wurden von einem Bagger zermalmt. Der Wassergraben wurde mit langen, dicken Schläuchen ausgepumpt, die an Feuerwehrautos angeschlossen waren. Man hörte das Dröhnen großer Motoren der Marke Sisu-Verrari. Zu meinem Zwanzigsten hatte ich vom Geschäftsführer dieses Unternehmens das beste Geburtstagsgeschenk meines Lebens bekommen.

Ich sah mir alles in Ruhe an.

Ich hatte es nicht eilig, mich erkannte keiner mehr. Auch früher hatte mich niemand erkannt, wenn ich allein war. Es mussten immer meine Frau oder die Kinder dabei sein.

Zwei Arbeiter hoben ein altes Sofa an und warfen es in einen Container. Auf diesem Sofa hatte meine ältere Tochter Valma ihre Bücher gelesen. Sie liest sie noch immer; sie liegt mir sehr am Herzen.

Eine Gruppe von vier Männern trug einen enorm langen Esstisch zum Container. Sie mussten ihn mit einer Motorsäge zerlegen, weil er sonst nicht hineingepasst hätte. Früher saß ich am einen Kopfende dieses Tisches und meine Mutter am anderen. Wir hätten Riesenarme gebraucht, um uns das Salz zu reichen. Deshalb waren wir auf so viele Diener angewiesen. Heutzutage muss ich alles selbst machen, keiner öffnet mir die Tür oder das Marmeladenglas.

Wie gesagt, ich bin so glücklich wie nie zuvor.

Nun nahmen die Abrissarbeiter einen Stuhl mit abnehmbaren und verstellbaren Armlehnen in Augenschein. Ich hätte ihnen sagen können, was das war. Das war der Stillstuhl. Auf dem saß einmal ein wunderbarer Mensch namens Marjatta. Über sie und mich standen vor langer Zeit, nach einer ganz bestimmten Olympiade, viele Geschichten in den Zeitungen. Auch meine Frau hat auf dem Stillstuhl gesessen, damals, als sie Veikko, unseren Jüngsten, stillte. Die beiden anderen Kinder hat sie nicht gestillt. Sie hatte einen Dickkopf und wusste genau, was sie wollte.

Wo mein Sohn Veikko heute ist – keine Ahnung. Nach meinem Rausschmiss ist er verschwunden. Ich weiß, wo sich meine älteste Tochter Valma aufhält, und meine Tochter Irma ist die ganze Zeit bei mir, aber Veikko kann überall sein. Und einem Jungen in seinem Alter, der überall sein kann, dem kann alles Mögliche passieren.

 

Neben mir standen zwei alte Männer, die wussten, was mit den alten Steinen des Schlosses geschehen würde. Man wollte sie versteigern und den Gewinn für einen guten Zweck stiften. Sie fanden, bei dem Geschäft bekäme man nicht mal ein Promille der Steuergelder zurück, die für das Königshaus ausgegeben worden waren. Aus den Worten der Männer ging hervor, dass auf dem Schlossgrundstück das höchste Hotel Finnlands errichtet werden sollte, und zwar durch die W.B.C. – die Watte-Bomull-Building-Company.

Den Eigentümer kenne ich. Er war mein Freund, einer aus unserem Trio, einer der Kings.

Ich ging näher heran und kletterte rasch über den Zaun, um an den Wassergraben zu kommen. Er war jetzt leer; auf dem Grund lagen Fahrräder und ein Autowrack, aber kein Alligator und auch kein Drache, so wie ich als Kind geglaubt hatte.

Dann war da ein großer, gelblicher Klumpen, den der Bagger mit spitzer Schaufel anhob und in den Container fallen ließ.

Das Publikum vermutete, dass es sich um Algen oder Plastiktüten handelte. Ich wusste es besser, behielt meine Erinnerung aber für mich.

Der Klumpen war aus den vielen Tennisbällen und mit Wasser gefüllten Luftballons entstanden, die ich mit meinem besten Freund Hessu in den Graben geworfen hatte. Das waren die schönsten Tage meines Lebens gewesen, auch wenn alle Tage schon allein deshalb schön sind, weil man am Leben sein darf.

Zwischen all dem Plunder im Graben blitzte auch mein Fahrradhelm auf. Man hatte verhindern wollen, dass ich mir Wunden und Schrammen zuzog, denn ich war das einzige Kind meiner Eltern, ich wurde im Schloss geboren und musste im Schloss bleiben. So lief das in unserer Familie. Schon vor meiner Geburt hatte man mir die Arbeitsstelle ausgesucht.

In meiner Kindheit trugen außer mir nur Soldaten Helme. Ich schämte mich, einen aufsetzen zu müssen, obwohl ich keineswegs einer bin, der sich schnell schämt oder sich als Opfer fühlt. So etwas kostet einfach zu viel Lebenszeit. Ich bin jetzt über sechzig und habe so manches erlebt. Den Rest meines Lebens möchte ich mit meiner Familie zusammensein.

 

Tuomas Kyrö: Kunkku. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 576 Seiten, 25 Euro.