800 Jahre Thomanerchor
Glauben – Singen – Lernen
Es ist Sonnabendnachmittag, 15 Uhr: In der Leipziger Thomaskirche haben sich mehrere hundert Menschen versammelt, um den a-cappella-Gesängen des Thomanerchores und der für den folgenden Sonntag bestimmten Bachkantate zu lauschen. Für viele Leipziger, ob bekennende Christen oder Nichtchristen, ist das eine Art Ritual geworden; für zahlreiche Touristen aus dem In- und Ausland ist es die lebendige Begegnung mit Bachs großer Wirkungsstätte. Dabei ist das Wissen um den historischen Ort für jeden Besucher sicherlich genauso bedeutsam wie das Bewusstsein, hier einer Kontinuität zu begegnen, die im scharfen Gegensatz zu der für unsere Zeit charakteristischen Kurzlebigkeit steht. Es ist nur aus der Substanz dieser Tradition heraus zu erklären, dass über acht Jahrhunderte, in denen sich die Welt grundlegend verändert hat, die Aufgabenstellung die gleiche geblieben ist: das Singen zur Ehre Gottes.
Das ist auch die Idee, die uns zu dem Motto für unsere Jubiläumsfeierlichkeiten führte: Glauben – Singen – Lernen. Deshalb musste die Einführung der Reformation in Leipzig im Jahre 1539 nichts an der Aufgabenstellung ändern. Im Gegenteil: Luthers inniges Verhältnis zur Musik und sein Festhalten an der Form der Messe bewirkten a die Blüte der evangelischen Kirchenmusik, lediglich die Trägerschaft der Thomasschule musste sich ändern: Aus der kirchlichen Schule wurde eine städtische, in dem die Stadtväter die Finanzierung übernahmen. Im Gegenzug bekamen sie die riesigen Ländereien, die der Schule gehörten. Selbst in der schweren Zeit des Dreißigjährigen Krieges gab es keine Unterbrechung im Wirken der Thomaner. Allerdings mögen es in manchen Zeiten nur wenige Choristen gewesen sein, die die Pestopfer auf ihrem letzten Gang begleiteten, so dass Heinrich Schützens Widmung der „Geistlichen Chormusik“ 1648 als Mahnung an den Rat der Stadt zu verstehen ist, dieses Juwel zu erhalten.
Das Arbeits- und Lebensmotto der Thomaner änderte sich auch nicht im Zuge der Aufklärung, als andernorts die Kirchenmusik zum Beiwerk verkam. Die Thomaner geleiteten die Leipziger weiter durch das Kirchenjahr, wie auch Freud und Leid ihres Lebenslaufes. So wurde es beispielsweise notwendig, mit Leipziger Kindergärten zu kooperieren, um über die musikalische Früherziehung zu erreichen, was bislang an Anregungen durch die Familien und Kurrenden der Kirchgemeinden geschah. Bereits in eine 1. Klasse der Thomasschule werden Thomaner-Anwärter aufgenommen, die dann in den mehrjährigen Genuss einer qualifizierten Ausbildung kommen. Natürlich steht dieser Ausbildungsweg auch Mädchen offen. Sie können in Zeiten, wo die Thomaner auf Reisen sind, Intensivkurse in ihren Spezialdisziplinen durchführen.
Auch diese Strukturveränderungen, mit denen wir auf die Gegebenheiten unserer Zeit reagieren, ändern wiederum nichts an dem zentralen Anliegen – dem Singen zur Ehre Gottes. Nicht einmal die perspektivlos erscheinende Abwicklungsstrategie der Kirche, mit der auf die katastrophale Finanzlage reagiert wird, macht uns unsicher! Vielmehr scheint das Wirken der Thomaner gegenwärtig immer noch mehr vom Wesen der Kirche zu verkörpern, als es manche Kirchenleitung angesichts der bevorstehenden Sparmaßnahmen vermag. Somit wird das anachronistisch wirkende Arbeitsmotto des Chores auch im 21. Jahrhundert aktuell sein, wenn die Kirche als
Institut sich auf das Wesentlichste beschränken muss! Die Menschen werden andererseits vielmehr nach religiösen Oasen ohne organisierte Zugehörigkeit suchen. Für die Bewältigung dieser neuen und alten Aufgabenstellung wird uns die Tradition wie in der Vergangenheit Hilfe sein, das Richtige zu tun. Sie soll uns jedoch nicht daran hindern, neue Wege zu beschreiten, wenn sie sich als gangbar erweisen.
Dieses Wirken, das den Lobpreis Gottes gleichermaßen im Gottesdienst wie auch im Alltag anstimmt, ist uns heute leider fremd geworden. Johann Sebastian Bachs unvergängliche Werke künden in exemplarischer Weise von dieser Verbindung zwischen Frömmigkeit und irdischer Vitalität.
Wirken doch der herrschenden Ideologie. Zwar musste aus taktischen Gründen das Singen in der Nikolaikirche aufgegeben werden, das bis 1940 im traditionellen Wechsel mit der Thomaskirche gepflegt worden war.
Doch die alles überragende Größe Bachs bewahrte wie ein Schutzpatron den Chor vor tiefgreifenden Veränderungen.
Ganz ähnlich verhielt es sich während der Zeit der „Diktatur des Proletariats“: Im Nachhinein lastet den jahrelangen Versuchen der Funktionäre, den Chor ideologisch gleichzuschalten, ohne die Authentizität als Bachs
Klangkörper aufgeben zu müssen, etwas Hilfloses an. Allerdings erweist sich heute die teilweise durch die Genossen gesteuerte Aufnahme von Knaben aus nichtkirchlichem Elternhaus als Vorwegnahme der Situation der
Nachwendezeit: Wir können die Frage nach der Konfessionszugehörigkeit der Eltern auch heute nicht zur Bedingung machen, selbst wenn wir das unbedingt wollten, weil wir so unseren Chornachwuchs überhaupt nicht mehr sichern könnten.
Damit sind wir in der Gegenwart: Wieder ist der kurzsichtige Fortschrittsglaube in der Gesellschaft eher ein Problem für dieses altehrwürdige, zugleich aber jugendliche Institut, als die gewonnene Freizügigkeit. Die erbarmungslose Dominanz des Geldes, die auch den kopflosen Kampf der Medien um Einschaltquoten und Auflagenhöhen entfacht, führt zu einer nie gekannten Verflachung der geistigen Ansprüche der Menschen. Das geistig-musische Umfeld in Familie, Kindergarten, Schule und letztlich auch in der Kirche, die bisherige Basis für die Nachwuchsgewinnung des Thomanerchores, ist nur noch in Bruchstücken vorhanden. Noch nicht abzusehen sind die Auswirkungen, die die flächendeckend radikalen Streichungen der Kirchmusikerstellen innerhalb der Landeskirchen nach sich ziehen werden. Das Erziehungsideal der Thomaner, was in der Verbindung zwischen humanistischer Bildung und dem Aufwachsen in der Welt der musica sacra mit zugleich frühzeitiger Übernahme von Eigenverantwortung besteht, scheint überdies unzeitgemäß. Viele Eltern erschrecken schon wegen der Internatspflicht! Angesichts dieser Herausforderungen könnten wir verzagen, wäre da nicht die Gewissheit, die uns jahrhundertelange Kontinuität gibt, andererseits das Bewusstsein, dass dieses Ideal eher Modellcharakter für eine bessere bildungspolitische Zukunft besitzt, als es auf überlebte Strukturen hinweist. Dabei sind wir
uns im Klaren, dass die Thomanererziehung auch immer wieder reformiert werden muss – nicht jedoch mit Experimenten, sondern durch Verbesserung der gewachsenen Strukturen.
mit überregionalem Charakter, die gleichermaßen anspruchsvolle Elternhäuser ansprechen könnte und damit die Nachwuchssituation des Chores verbessern helfen würde, wie sie auch eine Art Pilotprojekt für die Bildungspolitik der Zukunft sein könnte. Weiterhin wird das Leben im Internat umgestaltet, vor allem durch den derzeitigen Umbau. Die Vorzüge des gemeinsamen Lebens und Lernens sollten auch außerhalb des Unterrichts einer breiten Öffentlichkeit nachgebracht werden, so dass es in Zukunft eher als erstrebenswert gilt, dort einen Platz zu ergattern, als sich dagegen zu wehren.
Wir scheuen den Begriff „Elite“ nicht, weil wir ihn nicht als Benachteiligung für andere missdeuten, ihn als Bekenntnis zur besonderen Leistungsbereitschaft Einzelner verstehen. Dieses Verständnis von Elite, dass im Sport jedem Amateur plausibel ist, ist für die Zukunft unseres Institutes genauso wichtig, wie es für die progressive Entwicklung unseres vereinigten Vaterlands notwendig ist.
Zu den neuen Herausforderungen, die an der Existenz des Thomanerchors rütteln, gehört auch die immer zeitiger einsetzende Mutation der Knaben. Während bis zum Beginn der sechziger Jahre es als durchaus normal galt, wenn Fünfzehnjährige noch im Sopran sangen, ist es heute nicht mehr überraschend, wenn manche schon mit zwölf Jahren in den Stimmwechsel kommen. Dieser biologischen Frühreife, deren Ursachen nicht wirklich bekannt sind, geht leider keine zeitigere stimmliche und geistige Entwicklung voraus. Das wiederum hält uns davon ab, das Aufnahmealter herabzusetzen. Andererseits zwingt uns diese Tatsache, neue Konzepte zu entwickeln, mit denen die Präsenz des Chores auch in der Zukunft gesichert werden kann.
Als ich am 2. November 1992 meine Tätigkeit als Thomaskantor begann, trat ich zum zweiten Mal in das Haus in der Hillerstraße ein, nachdem ich schon von September 1965 bis Juli 1974 hier als Thomaner mitgewirkt hatte. Ich fand eine äußerst verletzbare Situation vor: Neben den Identitätsproblemen war auch eine neue Konkurrenzsituation entstanden, d.h. der traditionsreiche Knabenchor Ost musste sich plötzlich mit dem Knabenchor West messenlassen. Der von Bach „der DDR überlassene Chor“ stellte sich auf einmal neben die Profi-Ensembles der ganzen Welt, wo sich jeder nach jahrelanger Berufsausbildung auf sein Werk spezialisiert hat. Angesichts dieser Herausforderungen glaube ich, meinen Beitrag zur großen Geschichte damit leisten zu können, dass ich dafür Sorge trage, das unsere Bachinterpretation wirklich progressiv ist. Das bedeutet, sich von überlebten Traditionen zu trennen, ohne damit Modetrends nachzulaufen. Weiterhin hat die umfassende Ausbildung und Erziehung der Thomaner einen so hohen Standard erhalten, dass er für die anspruchsvollen Elternhäuser als erstrebenswert gelten kann. Der Thomanerchor soll trotz der schwierigen Nachwuchssituation
sein hohes Leistungsniveau halten.
Ich selbst wünsche mir, dass ich als komponierender Thomaskantor irgendwann einmal einen Beitrag für die Musik zu leisten vermag, mit dem ich zwischen avantgardistischem Streben und dem Lebensgefühl des heutigen Menschen vermitteln kann. Erst dann fühlte ich mich endlich aufgenommen in die große Ahnengalerie meiner Vorgänger.
Das ist auch die Idee, die uns zu dem Motto für unsere Jubiläumsfeierlichkeiten führte: Glauben – Singen – Lernen. Deshalb musste die Einführung der Reformation in Leipzig im Jahre 1539 nichts an der Aufgabenstellung ändern. Im Gegenteil: Luthers inniges Verhältnis zur Musik und sein Festhalten an der Form der Messe bewirkten a die Blüte der evangelischen Kirchenmusik, lediglich die Trägerschaft der Thomasschule musste sich ändern: Aus der kirchlichen Schule wurde eine städtische, in dem die Stadtväter die Finanzierung übernahmen. Im Gegenzug bekamen sie die riesigen Ländereien, die der Schule gehörten. Selbst in der schweren Zeit des Dreißigjährigen Krieges gab es keine Unterbrechung im Wirken der Thomaner. Allerdings mögen es in manchen Zeiten nur wenige Choristen gewesen sein, die die Pestopfer auf ihrem letzten Gang begleiteten, so dass Heinrich Schützens Widmung der „Geistlichen Chormusik“ 1648 als Mahnung an den Rat der Stadt zu verstehen ist, dieses Juwel zu erhalten.
Das Arbeits- und Lebensmotto der Thomaner änderte sich auch nicht im Zuge der Aufklärung, als andernorts die Kirchenmusik zum Beiwerk verkam. Die Thomaner geleiteten die Leipziger weiter durch das Kirchenjahr, wie auch Freud und Leid ihres Lebenslaufes. So wurde es beispielsweise notwendig, mit Leipziger Kindergärten zu kooperieren, um über die musikalische Früherziehung zu erreichen, was bislang an Anregungen durch die Familien und Kurrenden der Kirchgemeinden geschah. Bereits in eine 1. Klasse der Thomasschule werden Thomaner-Anwärter aufgenommen, die dann in den mehrjährigen Genuss einer qualifizierten Ausbildung kommen. Natürlich steht dieser Ausbildungsweg auch Mädchen offen. Sie können in Zeiten, wo die Thomaner auf Reisen sind, Intensivkurse in ihren Spezialdisziplinen durchführen.
Auch diese Strukturveränderungen, mit denen wir auf die Gegebenheiten unserer Zeit reagieren, ändern wiederum nichts an dem zentralen Anliegen – dem Singen zur Ehre Gottes. Nicht einmal die perspektivlos erscheinende Abwicklungsstrategie der Kirche, mit der auf die katastrophale Finanzlage reagiert wird, macht uns unsicher! Vielmehr scheint das Wirken der Thomaner gegenwärtig immer noch mehr vom Wesen der Kirche zu verkörpern, als es manche Kirchenleitung angesichts der bevorstehenden Sparmaßnahmen vermag. Somit wird das anachronistisch wirkende Arbeitsmotto des Chores auch im 21. Jahrhundert aktuell sein, wenn die Kirche als
Institut sich auf das Wesentlichste beschränken muss! Die Menschen werden andererseits vielmehr nach religiösen Oasen ohne organisierte Zugehörigkeit suchen. Für die Bewältigung dieser neuen und alten Aufgabenstellung wird uns die Tradition wie in der Vergangenheit Hilfe sein, das Richtige zu tun. Sie soll uns jedoch nicht daran hindern, neue Wege zu beschreiten, wenn sie sich als gangbar erweisen.
Dieses Wirken, das den Lobpreis Gottes gleichermaßen im Gottesdienst wie auch im Alltag anstimmt, ist uns heute leider fremd geworden. Johann Sebastian Bachs unvergängliche Werke künden in exemplarischer Weise von dieser Verbindung zwischen Frömmigkeit und irdischer Vitalität.
Neue Zeiten
Schon eher bedrohlich wurde es für die Existenz des Chores, als im Jahre 1877 die Thomasschule, den Reformbestrebungen folgend, ins Grüne verlegt werden sollte. Nur die Weitsicht einzelner Persönlichkeiten verhinderte, dass das Alumnat dem kurzatmigen Fortschrittsideen zum Opfer fiel. In der Zeit der Weimarer Republik kam es zu einer neuen Dimension in der Chorgeschichte: Mit der schnellen Entwicklung der modernen Transportmittel begann die ausgedehnte Reisetätigkeit des Chores. Auch die neuen Medien Rundfunk und Schallplatte läuteten das Zeitalter der weltweiten Verbreitung, insbesondere der Bachinterpretationen der Thomaner ein. Der Nationalsozialismus bedeutete eine erneute Herausforderung, widersprach das liturgischeWirken doch der herrschenden Ideologie. Zwar musste aus taktischen Gründen das Singen in der Nikolaikirche aufgegeben werden, das bis 1940 im traditionellen Wechsel mit der Thomaskirche gepflegt worden war.
Doch die alles überragende Größe Bachs bewahrte wie ein Schutzpatron den Chor vor tiefgreifenden Veränderungen.
Ganz ähnlich verhielt es sich während der Zeit der „Diktatur des Proletariats“: Im Nachhinein lastet den jahrelangen Versuchen der Funktionäre, den Chor ideologisch gleichzuschalten, ohne die Authentizität als Bachs
Klangkörper aufgeben zu müssen, etwas Hilfloses an. Allerdings erweist sich heute die teilweise durch die Genossen gesteuerte Aufnahme von Knaben aus nichtkirchlichem Elternhaus als Vorwegnahme der Situation der
Nachwendezeit: Wir können die Frage nach der Konfessionszugehörigkeit der Eltern auch heute nicht zur Bedingung machen, selbst wenn wir das unbedingt wollten, weil wir so unseren Chornachwuchs überhaupt nicht mehr sichern könnten.
Damit sind wir in der Gegenwart: Wieder ist der kurzsichtige Fortschrittsglaube in der Gesellschaft eher ein Problem für dieses altehrwürdige, zugleich aber jugendliche Institut, als die gewonnene Freizügigkeit. Die erbarmungslose Dominanz des Geldes, die auch den kopflosen Kampf der Medien um Einschaltquoten und Auflagenhöhen entfacht, führt zu einer nie gekannten Verflachung der geistigen Ansprüche der Menschen. Das geistig-musische Umfeld in Familie, Kindergarten, Schule und letztlich auch in der Kirche, die bisherige Basis für die Nachwuchsgewinnung des Thomanerchores, ist nur noch in Bruchstücken vorhanden. Noch nicht abzusehen sind die Auswirkungen, die die flächendeckend radikalen Streichungen der Kirchmusikerstellen innerhalb der Landeskirchen nach sich ziehen werden. Das Erziehungsideal der Thomaner, was in der Verbindung zwischen humanistischer Bildung und dem Aufwachsen in der Welt der musica sacra mit zugleich frühzeitiger Übernahme von Eigenverantwortung besteht, scheint überdies unzeitgemäß. Viele Eltern erschrecken schon wegen der Internatspflicht! Angesichts dieser Herausforderungen könnten wir verzagen, wäre da nicht die Gewissheit, die uns jahrhundertelange Kontinuität gibt, andererseits das Bewusstsein, dass dieses Ideal eher Modellcharakter für eine bessere bildungspolitische Zukunft besitzt, als es auf überlebte Strukturen hinweist. Dabei sind wir
uns im Klaren, dass die Thomanererziehung auch immer wieder reformiert werden muss – nicht jedoch mit Experimenten, sondern durch Verbesserung der gewachsenen Strukturen.
Profil einer herausragenden Schule
Eine wichtige Entscheidung ist die Profilierung der Thomasschule zu einer herausragenden Kulturschulemit überregionalem Charakter, die gleichermaßen anspruchsvolle Elternhäuser ansprechen könnte und damit die Nachwuchssituation des Chores verbessern helfen würde, wie sie auch eine Art Pilotprojekt für die Bildungspolitik der Zukunft sein könnte. Weiterhin wird das Leben im Internat umgestaltet, vor allem durch den derzeitigen Umbau. Die Vorzüge des gemeinsamen Lebens und Lernens sollten auch außerhalb des Unterrichts einer breiten Öffentlichkeit nachgebracht werden, so dass es in Zukunft eher als erstrebenswert gilt, dort einen Platz zu ergattern, als sich dagegen zu wehren.
Wir scheuen den Begriff „Elite“ nicht, weil wir ihn nicht als Benachteiligung für andere missdeuten, ihn als Bekenntnis zur besonderen Leistungsbereitschaft Einzelner verstehen. Dieses Verständnis von Elite, dass im Sport jedem Amateur plausibel ist, ist für die Zukunft unseres Institutes genauso wichtig, wie es für die progressive Entwicklung unseres vereinigten Vaterlands notwendig ist.
Zu den neuen Herausforderungen, die an der Existenz des Thomanerchors rütteln, gehört auch die immer zeitiger einsetzende Mutation der Knaben. Während bis zum Beginn der sechziger Jahre es als durchaus normal galt, wenn Fünfzehnjährige noch im Sopran sangen, ist es heute nicht mehr überraschend, wenn manche schon mit zwölf Jahren in den Stimmwechsel kommen. Dieser biologischen Frühreife, deren Ursachen nicht wirklich bekannt sind, geht leider keine zeitigere stimmliche und geistige Entwicklung voraus. Das wiederum hält uns davon ab, das Aufnahmealter herabzusetzen. Andererseits zwingt uns diese Tatsache, neue Konzepte zu entwickeln, mit denen die Präsenz des Chores auch in der Zukunft gesichert werden kann.
Als ich am 2. November 1992 meine Tätigkeit als Thomaskantor begann, trat ich zum zweiten Mal in das Haus in der Hillerstraße ein, nachdem ich schon von September 1965 bis Juli 1974 hier als Thomaner mitgewirkt hatte. Ich fand eine äußerst verletzbare Situation vor: Neben den Identitätsproblemen war auch eine neue Konkurrenzsituation entstanden, d.h. der traditionsreiche Knabenchor Ost musste sich plötzlich mit dem Knabenchor West messenlassen. Der von Bach „der DDR überlassene Chor“ stellte sich auf einmal neben die Profi-Ensembles der ganzen Welt, wo sich jeder nach jahrelanger Berufsausbildung auf sein Werk spezialisiert hat. Angesichts dieser Herausforderungen glaube ich, meinen Beitrag zur großen Geschichte damit leisten zu können, dass ich dafür Sorge trage, das unsere Bachinterpretation wirklich progressiv ist. Das bedeutet, sich von überlebten Traditionen zu trennen, ohne damit Modetrends nachzulaufen. Weiterhin hat die umfassende Ausbildung und Erziehung der Thomaner einen so hohen Standard erhalten, dass er für die anspruchsvollen Elternhäuser als erstrebenswert gelten kann. Der Thomanerchor soll trotz der schwierigen Nachwuchssituation
sein hohes Leistungsniveau halten.
Ich selbst wünsche mir, dass ich als komponierender Thomaskantor irgendwann einmal einen Beitrag für die Musik zu leisten vermag, mit dem ich zwischen avantgardistischem Streben und dem Lebensgefühl des heutigen Menschen vermitteln kann. Erst dann fühlte ich mich endlich aufgenommen in die große Ahnengalerie meiner Vorgänger.
Georg Christop Biller war von 1992 bis Ende Januar 2015 Thomaskantor zu Leipzig. Biller ist außerdem Schirmherr des Schönberger Musiksommers und des Bachfestes Leipzig sowie Ehrenmitglied der Richard-Wagner-Gesellschaft Leipzig 2013. Website des Thomanerchors