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Buch der Woche

»Grenzland Europa«

Osteuropa stet mit der Ukraine derzeit im Fokus der Medien. Der Autor unseres Buches der Woche, Karl Schlögel, ist als Chronist der osteuropäischen Länder und ihrer Rückkehr nach Europa berühmt geworden. Inzwischen hat sich der Kontinent neu formiert. In seinen Reden und Essays vermisst Karl Schlögel dieses neue Europa, das immer weiter wegrückt von den Jahrzehnten der Teilung.

13.12.2013

Von Karl Schlögel

Die Wiederkehr des Raumes im postsowjetischen Russland

Es gibt keinen gründlicheren Anschauungsunterricht als die Geschichte selbst. Historiker, die sich von Berufs wegen mit der Erforschung der Vergangenheit befassen, kommen manchmal in die Lage des Augen- und Ohrenzeugen. Sie hören dann für einen Moment auf, nur Historiker zu sein, und sind, was sie immer schon sind – Zeitgenossen, aber mit Bewusstsein. Zeitgenossenschaft ist ein zweifelhaftes Privileg, denn für die einen ist es Teilhabe am kairós, für andere vielleicht ein großes Unglück. Der Untergang eines Imperiums ist ein Anschauungsunterricht sui generis, wie er nur einmal in Jahrhunderten vorkommt. Alles, fast alles ändert sich.

Ein solches Ende war die Auflösung der Sowjetunion und des Ostblocks. Und dieses Ende wurde zu einem Lehrstück für die Auflösung eines Raumes, der sich über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte aufgebaut hatte und an dessen Stelle nun etwas trat, was seither – etwas ratlos – »postsowjetischer Raum« genannt wird. Wladimir Putin hat im Jahre 2004 die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Auch wenn man diesen Superlativ nicht übernimmt, auch wenn aus einem anderen Blickwinkel das Ende der UdSSR das Ende von Herrschaft, Unterwerfung, Unfreiheit war, so bleibt doch, dass es sich um weit mehr als nur eine politische Reform oder einen »Systemwechsel« gehandelt hat – um einen solchen vielleicht sogar am wenigsten. Aber dass es sich um eine radikale Transformation fast aller Aspekte der bis dahin sowjetischen Lebenswelt gehandelt hat, kann nicht bezweifelt werden. Das Ende der Sowjetunion – das war: Ende eines Staatsgebildes und einer Herrschaft, Auflösung eines einheitlichen staatlichen Territoriums, Verwandlung von Millionen von sowjetischen Staatsbürgern in Minderheitengruppen und Menschen zweiter Klasse jenseits der Grenzen, das war Zerfall eines zentralistisch integrierten Wirtschaftsraums, neue Grenzziehung, ein ideologisch-moralischer Kollaps, oder kürzer: die Auflösung eines Lebenszusammenhangs und Lebenshorizonts, in dem Abermillionen von Menschen, oft über Generationen hinweg, zusammengelebt hatten. Die Auflösung von Imperien zieht neue Grenz- und Demarkationslinien, schafft neue Nachbarschaften und neue Feindschaften, verschiebt die Relation von Zentrum und Peripherie, sie geht mitten durch Landschaften, Familien und die Köpfe von Menschen. Die Landkarten werden neu gezeichnet, erst die der wirklichen Grenzverläufe, dann auch die mental maps.

In solchen Zeiten der Auflösung alter Zustände und Zusammenhänge entstehen Territorien, von denen nicht klar ist, wohin sie gehören: contested areas. Sie können zu Bruchlinien, ja Fronten werden. Der Zerfall von Lebensräumen und Lebenshorizonten, gleichsam über Nacht, ist ein zutiefst verstörender, verunsichernder, desorientierender, an das Selbstgefühl der Betroffenen rührender Vorgang. Es wäre gut, wenn die mit der Analyse dieser Situation Beschäftigten etwas von dieser Verstörung, existentiellen Verunsicherung, Ratlosigkeit sich zu eigen machen würden; sie würden dann nicht nur verstehen, wie überwältigend die Sehnsucht nach einem festen Halt im allgemeinen Chaos ist, sondern sich auch jenen Fragen stellen, die sich ihnen lange nicht gestellt haben. Zu diesen Fragen, die neu und verschärft und unter den denkbar dramatischsten Umständen gestellt werden, gehört ebenjene nach der Kohäsion des alten sowjetischen Raumes, die Frage, wodurch dieser Raum abgelöst werden wird oder ob man von Kräften und Traditionen sprechen kann, die, weit in die vorsowjetische Zeit zurückreichend, auch das Ende der Sowjetunion überdauern werden. Oder noch enger und genauer: ob Russlands Geschicke bestimmt sind durch seine durch die Natur vorgegebene Lage. Damit kehren wir in gewissem Sinne zurück zu Pjotr Tschaadajews bekanntem Satz, der am Anfang russischer Selbstvergewisserung über den Platz Russlands in der Geschichte und in der Welt steht. Pjotr Tschaadajew hatte – ebenfalls in einer Situation der Verunsicherung und Selbstvergewisserung, ausgelöst durch Napoleons Feldzug, durch die Begegnung der russischen Elite mit dem westlichen Europa, die gescheiterte Revolte der Dekabristen und die ungelösten Probleme im Inneren – 1837 formuliert: »Es gibt ein Faktum, das unseren Gang durch Jahrhunderte hindurch beherrscht, unsere ganze Geschichte durchzieht, in gewissem Sinne ihre ganze Philosophie in sich enthält, in allen Epochen unseres sozialen Lebens sich zeigt und ihren Charakter bestimmt; ein Faktum, das gleichzeitig das Wesenselement unserer politischen Größe und die wahre Ursache unserer geistigen Ohnmacht ist: das geographische Faktum …«

Das Thema des russischen Raumes ist auf eine unerwartete Weise wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden. In diesem Diskurs geht es, wie bei derartigen Diskussionen um Territorial- und Abgrenzungsfragen, aber auch – und vielleicht primär – um, wie man so sagt: Identitätsfragen, um Fragen der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit, um die Begründung eines spezifischen russischen Weges in der Welt, letztlich auch um das Bild von einem zukünftigen Russland, das in der Gestalt der Russländischen Föderation der Haupterbe, wenn nicht Fortsetzer des Imperiums in seiner geschrumpften Form ist. Kurz: Es geht nicht um eine antiquarische Fragestellung in einer antiquarischen Geschichte, sondern um eine existentielle Selbstvergewisserung – die entsprechend anfällig ist für Dramatisierungen, Ideologisierungen und alle Arten von neuer Mythenbildung.

Der sinnfälligste Hinweis auf die Re-Aktualisierung des »geographischen Faktums« ist der Boom von Geopolitik und Geokultur. Unüberschaubar groß ist die Zahl der in den Moskauer Buchläden ausliegenden Titel zu geokulturellen und geopolitischen Fragen, darunter auch Lehrbücher für Kulturologie für Schulen und Universitäten. Die Kulturologie ist in vielerlei Hinsicht nur das neue Gewand für das, was einmal im marxistisch-leninistischen Weltanschauungsunterricht vermittelt wurde. Die Texte von Geographen, lange nur Sache eines kleinen Kreises von Spezialisten, erreichen jetzt ein größeres Publikum. Klassische Arbeiten wie Fernand Braudels Mittelmeerbuch sind endlich übersetzt. Konferenzen und Sonderhefte zum Thema Raum werden organisiert. Die Texte der Eurasier, jener Gruppe von russischen Historikern, Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Geographen, die im Exil in Sofia, Prag, Berlin, Paris zu der Überzeugung gekommen waren, dass Russland der Kern einer ganz eigenen, eben der eurasischen Welt sei, die weder dem Westen noch dem Osten angehöre, und die, obgleich in schärfstem Gegensatz zum Bolschewismus in der russischen Revolution den Durchbruch zum eigenen Weg und zur Erneuerung des Imperiums sahen. Die Texte von Prinz Nikolai Trubezkoi, Georgi Florowski, Petr Sawizki und Petr Suwtschinski – auch Roman Jakobson kann man dazuzählen – werden heute neu ediert. Klassische Texte der Geopolitik werden neu aufgelegt oder übersetzt und in gar nicht so geringen Auflagen verbreitet: darunter Autoren wie Sir Halford Mackinder, der 1904 mit seiner Theorie vom »pivot of history« (Drehzapfen der Geschichte) und vom »Heartland Eurasia«, das er in Zentralasien lokalisierte, bekannt geworden war; in Sammelbänden findet man auch Karl Haushofer, den Geopolitiker, den manche für »the man behind Hitler« hielten, oder Carl Schmitt und dessen Großraumtheorie. Eine besondere Rolle – und besonders lautstark vorgetragen – spielen die sogenannten »Neo-Eurasier «, die im Anschluss an die »Eurasier«, eine Gruppe von Gelehrten und Intellektuellen in der Emigration der 1920er Jahre, ihr Programm vom besonderen – Dritten Weg – Russlands zwischen Europa und Asien vorbringen und dabei vor einer Mischung aus militantem Antiliberalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus nicht zurückschrecken. Dies zeigte sich schon bei Nikolai Gumiljow, dem Sohn Anna Achmatowas, der als langjähriger Lagerhäftling und dann als Zentral- und Kultfigur der sowjetischen Dissidentenszene die Kontinuität zu den alten Eurasiern hergestellt und deren Thesen auf abenteuerliche Weise »weiterentwickelt « hatte. Es ist nützlich, sich diese Wortmeldungen anzuhören, weil in der Schärfe und im Ton deutlich wird, dass es um mehr als nur eine akademische Frage geht. Freilich gibt es eine Vielzahl von Abstufungen zwischen Konservativen, Nationalpatrioten, Neostalinisten, Faschisten, Radikal-Eurasisten, die hier nicht analysiert werden können – das hat Stefan Wiederkehr in seiner ausgezeichneten Studie getan –, aber selbst für einen Neokonservativen wie den verstorbenen Alexander S. Panarin, der für Gewaltverzicht und gegen die Verharmlosung des Rechtsextremismus auftrat, ist klar, dass – wie er 1994 konstatierte – das postsowjetische Russland eine »geistige Wende vom Maßstab … der Reformation oder der Aufklärung in Europa« benötigt, um die »Demoralisierung der Massen … von Familie bis Armee zu überwinden«; er forderte einen neuen »großen Text«, die »Vereinigung der nationalen Kulturen und Ethnien in einer ›neuen historischen Gemeinschaft‹ auf dem Wege der Bewusstmachung der supranationalen Prioritäten der eurasischen Ganzheit«.

Weitaus schärfer formuliert der rechtsextremistische und eurasistische Schriftsteller Alexander Prochanow im Februar 1993: »Eurasien ist … die Ursuppe, aus der jedes Mal von neuem, mit neuen Konturen der Kontinent als großer Staat wiederersteht.« Alexander Dugin, Vordenker der Neo-Eurasier, der eine erstaunliche Literaturkenntnis, Hitler- Verehrung und Obskurantismus zusammenbringt, gibt eine Deutung für den Boom geopolitischer und eurasistischer Strömungen, wenn er in seinem Manifest der eurasischen Bewegung im Jahre 2001 schreibt: »Nach dem Kollaps der marxistischen Ideologie und dem Sieg des Westens im ›Kalten Krieg‹ … kam als Ablösung des Marxismus keine schlüssige und stabile Ideologie, die fähig war mit dem Liberalismus (der heute von den USA verkörpert wird) zu konkurrieren … In diesem Moment wandten sich die wissbegierigsten Geister, die reinsten Herzen und die glühendsten Seelen dem Erbe der Eurasier zu. Und sie entdeckten darin die Heilsquelle einer vollwertigen Ideologie, die den Erfordernissen des aktuellen historischen Moments in idealer Weise entsprach … Der Neoeurasismus begann sich als soziale, philosophische, wissenschaftliche, geopolitische und kulturelle Strömung Ende der achtziger Jahre zu formieren. Er ging vom Erbe der russischen Eurasier der zwanziger und dreißiger Jahre aus, nahm die geistige Erfahrung der altgläubigen Tradition der russischen Orthodoxie in sich auf, bereicherte sich an der Sozialkritik der russischen Populisten (narodniki) und Sozialisten, begriff die Errungenschaften der sowjetischen Etappe der vaterländischen Geschichte auf neuartige Weise, eignete ich die Philosophie des Traditionalismus und der Konservativen Revolution sowie die geopolitische Methodologie an … und so wurde der Neoeurasismus zur einzigen ernsthaften weltanschaulichen Plattform im heutigen Russland, die sich als wissenschaftliche Schule und als System sozialer und kultureller Initiativen konstituiert.« Alexander Dugin versteht es wie kaum ein anderer, auf der Klaviatur der Medien – vor allem Fernsehen und Internet – zu spielen, und hat tatsächlich Verbindungen zu den höheren Sphären der Macht – zum Generalstab, aber auch zur Präsidialadministration. Wie radikal er ist, zeigt sich in der propagandistischen Begleitmusik für Auftritte der kremltreuen Jugendorganisation der »Naschi«: »›Naschi‹ ist … ein Synonym für den Eurasischen Orden selbst … ›Naschi‹ ist die einheitliche, unsichtbare, eschatologische Front des Kontinents, die Front des Landes, die Front des Absoluten Ostens, dessen westliche Provinz Europa ist, ›unser‹ Europa, ein Europa, das dem ›Westen‹ entgegensteht … Der Orden Eurasiens ist die totale Konservative Revolution, die Große Erweckung des geopolitischen Bewusstseins … Wir müssen die Diener des Ozeans in den Ozean werfen … Wir werden erst dann nachgeben, wenn unser Kontinent frei sein wird, wenn der letzte Atlantiker ins Salzwasser geworfen sein wird … Seid ihr bereit, Soldaten Eurasiens?« Dugin sieht die Russen als die »imperienbildende Nation«, die über die Achsenbildung Moskau-Berlin, Moskau-T okio, Moskau-T eheran die Bildung eines neuen Großraums gegen die amerikanische Weltherrschaft betreiben wird. »Eurasien ist zur geographischen und strategischen Vereinigung prädestiniert. Dies ist eine streng wissenschaftliche, geopolitische Tatsache. Im Zentrum dieser Vereinigung muss unvermeidlich Russland stehen. Die treibende Kraft dieser Vereinigung muss notwendigerweise das russische Volk sein. Mit dieser Mission harmoniert voll und ganz die zivilisatorische Mission der Russen … Das Neue Eurasische Imperium ist in der geographischen und politischen Vorherbestimmung der Weltgeschichte und der globalen Geopolitik festgeschrieben. Über diesen Umstand zu streiten ist sinnlos. « Nur nebenbei: Auf der Karte des eurasischen Imperiums von Dugin sind neben Afghanistan, Nordchina und der Mongolei auch Finnland und Rumänien verzeichnet.

Es handelt sich zweifellos um extreme und minoritäre, sicher auch verworrene Ansichten, aber sie sind in vielem symptomatisch. Im Übrigen hat die Auflösung der UdSSR auch die etablierte Forschung durcheinandergebracht. Fast unmittelbar nach dem Ende der UdSSR kam es zu einem großen institutionellen Revirement und Namenswechsel. Institute, die bisher Soviet oder East European and Russian Studies betrieben, heißen nun fast durchgehend Institutes for Russian and Eurasian Studies und bringen so einen Wandel des Gegenstandsbereichs und der Forschungsperspektive zum Ausdruck: Der bisherige sowjetisch geprägte Raum wird nun als europäischer, russischer und asiatischer zur Kenntnis genommen und entsprechend bearbeitet. Dass damit ganz neue Forschungsperspektiven aufgehen können, zeigt sich etwa daran, dass ein führender amerikanischer Russlandhistoriker der mittleren Generation wie Stephen Kotkin unter dem Titel »Mongol Commonwealth? Exchange and Governance across the Post-Mongol Space« ganz neue Überlegungen über den Zusammenhang eines Raumes anstellen kann, der bisher nur als europäische Randzone und noch dazu unter dem traditionell negativen Vorzeichen des »Mongolenjochs« bearbeitet worden ist.

Diese Verschiebung der Koordinaten ist das Echo der gewaltigen, ja: tektonischen Erschütterungen, die mit dem Ende des Sowjetimperiums verbunden waren und immer noch sind. Es gehört nicht viel Phantasie, sondern nur ein Blick auf die Karte dazu, um eine Vorstellung von der Wucht der Veränderungen zu gewinnen.

Russland ist 1991, im Jahre der Auflösung der UdSSR, stellenweise auf den Umfang des vorpetrinischen Russlands zurückgeschnitten worden. Die Ostseeprovinzen bzw. die baltischen Republiken haben ihre Selbständigkeit zurückgewonnen, und Russlands Zugang zur Ostsee ist auf Sankt Petersburg und Kaliningrad beschränkt. Die Erweiterungen des Reichs im Südwesten unter Katharina II. sind hinfällig. Die Ukraine ist selbständig. Kiew, die »Mutter der russischen Städte«, liegt außerhalb, ebenso wie Odessa oder die Krim. Nur an einer schmalen Stelle hat Russland noch Zugang zum Schwarzen Meer. Der Kaukasus und Zentralasien, mehr als ein Jahrhundert unter russischer Herrschaft, sind selbständige und unterschiedlich potente Staaten. Der gesamte Grenzverlauf im Westen, im Süden und Südosten hat sich verschoben. Städte, die einmal mitten im europäischen Teil der Sowjetunion lagen – Rostow am Don, Astrachan –, sind fast Grenzstädte des Südens geworden. Orte russischer Geschichte liegen nun auf »fremdem Territorium« – man denke nur an die Krim, Sewastopol oder Odessa. Was einmal sowjetischer Orient war, liegt außerhalb. Die Grenze in Fernost ist formell unangefochten, aber jeder weiß, dass an dieser Linie ein menschenarmes riesiges Gebiet an das hochdynamische, überbevölkerte Territorium der Volksrepublik China stößt und eine stumme Migration im Gange ist, die auf Dauer die demographischen Verhältnisse grundlegend verändern wird.

Aber es bleibt nicht bei den äußerlichen Veränderungen des Territoriums, wie sie sich in Grenzverschiebungen niederschlagen. Millionen ethnischer Russen leben jenseits der neuen Grenzen, Millionen sind dabei auszuwandern, sitzen auf ihren Koffern, eine neue Diaspora, Rus eisia on the move. Eine technische, logistische, kommunikative Infrastruktur, die in Jahrzehnten des sowjetischen Aufbaus gewachsen ist – und oft noch älter ist –, ist von der Desintegration des Territoriums überholt worden. Die Linien, die Industriekombinate, Häfen, Städte verbunden haben, sind zerschnitten. Auch innerhalb der verbleibenden Russischen Föderation hat eine spontane, der wirtschaftlichen Entwicklung folgende Migration eingesetzt, eine Abwanderung aus den Städten des Nordens, die vom staatlichen Budget nicht mehr gehalten werden können, in die Städte des Südens. Der Norden, bisher schon wenig besiedelt, wird durch die Abwanderung noch mehr von Menschen entleert. Dem stehen ganz wenige Zonen der Verdichtung von Bevölkerung, Kapital, Investitionen – wie im »Planeten Moskau« oder im Korridor Moskau- Sankt Petersburg – gegenüber. Aber auch damit ist das irritierende Puzzle noch nicht vollständig. Die Russische Föderation hat die längste Außengrenze der Welt. Diese Außengrenzen sind mitunter auch Grenzen zu Militär- und Wirtschaftsbündnissen. Sankt Petersburg liegt kurz hinter der Grenze der Europäischen Union und der Nato, Kaliningrad liegt exterritorial inmitten von Nato und EU-T erritorium. Die USA führen Manöver auf der Krim durch und bilden Streitkräfte in Georgien aus. Amerikanische Basen sind in den zentralasiatischen Staaten angelegt worden. Am Kaspischen Meer fördern internationale und USamerikanische Gesellschaften Öl und Gas. Es ist daher zutreffend, vom »Archipel Russland« (Leslie Dienes) zu sprechen. Russland ist, genauer besehen, ein fragmentierter Staat, Patchwork, ein Komplex aus einigen städtischen Agglomerationen, die wie Inseln im Landozean liegen. Jedenfalls gibt dies eine realistischere Vorstellung vom Stand der Dinge als das Homogenität suggerierende Kartenbild. Die Frage ist – in meinen Augen –, wie ein Volk, eine Regierung, eine Gesellschaft oder Nation mit einem derart fragmentierten Territorium, mit einem solchen »Archipel « fertig wird, wie es seinen Zusammenhalt, seine Integration und Integrität bewahren kann.

Unter diesen Bedingungen stellen sich alle alten Fragen russischer Staatlichkeit und Identität wiederum neu: Wie definieren wir uns in dieser veränderten Situation? Wo verlaufen unsere Grenzen? Isolation oder Öffnung zur Welt hin? Zentralisierung oder Dezentralisierung? Hierarchie oder horizontale Vernetzung? Entwicklung des Landes durch andauernde Abhängigkeit von den Rohstoffen und von den rohstoff reichen Naturräumen oder Minderung dieser Abhängigkeit durch die Entwicklung der produktiven Zweige der Wirtschaft? Ist Russland nicht zum Anhängsel, ja zur Geisel des Naturraums Sibirien und seiner außerordentlich reichen Ressourcen geworden? Entwicklung des Landes nach Westen hin oder nach Osten oder als Brücke, die zwischen beiden vermittelt? Um diese Fragen wird gerungen, leidenschaftlich, demagogisch, ideologisch, auch ernsthaft. Sie sind hier nur genannt, um die historische Situation für die Neuverhandlung des russischen Falles, die Temperatur des Diskurses anzugeben. Alle Debatten um die Identität sind ernst zu nehmen und keine Inszenierungen, obwohl es auch diese gibt. (Anm. d. Red.: Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden die Fußnoten, die im orginal erscheinen, für diese Publikation entfernt)

Der Autor: Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Sankt Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Bei Hanser erschien zuletzt: Moskau lesen (2011).

Quelle: Karl Schlögel: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. Carl Hanser V erlag, München 2013. ca. 345 Seiten, 19,90 Euro. Der Auszug erschien auf den Seiten 203 bis 211. Mehr zum Buch.