Rotary Aktuell
Im Schicksal vereint
Der Schlamm der Muren hat die letzten Vorurteile unter sich begraben, den Weg zueinander geebnet – und die Grenzen nichtig gemacht.
Apokalyptische Szenen. Rauschen. Es wächst an, von nirgendwo. Der Tag verdunkelt sich, nimmt den Blick. Die Bäume ächzen, schütteln, drehen sich, möchten den angestammten, verwurzelten Platz nicht verlassen, widersetzen sich dem Zerren, kämpfen mit dem Wind, der sie zwirbelt, schraubt, an ihnen zerrt, sie reißt, sie zu bisher nicht gewohnten Pirouetten treibt, entblättert, sie kahl macht und die Straßen zentimeterdick bedeckt, wie die Streu des Bauern, der den Tieren frische Einstreu bringt. Der blitzartige Hagel hämmert auf die Häuser, die gemarterten Autodächer ächzen wie ein Kontrabass, die erste Violine spielt der Blitz, dem der alles erzitternde Donner seine Reverenz erweist. Man starrt durchs Fenster, harrt gelähmt, sich fragend, was als Nächstes kommen wird, wohin sich die Aggression des Himmels nun wenden wird, wo sie sich festfressen, was sie hinwegfegen möchte, das nicht niet- und nagelfest ist. Im Nu wird gelockert und ausgehebelt, was für Ewigkeiten gebaut.
Die Zukunft existenziell infrage gestellt
Ziegel fliegen wie Papier, altehrwürdige Baumstämme bersten wie Zündhölzer, und der Sturm greift an, von allen Seiten zugleich, als ob sich unsichtbare japanische Ringer verschworen hätten, die Dächer und die Häuser im nächsten Moment auf den Rücken zu werfen, und nicht aufgeben, bevor sich nicht das bisher Ungeahnte als Gegebenheit in diesen Breiten im Hirn festgekrallt hat.
Bäche stürzen von Hängen, alles mit sich tragend, wälzend, brechend. Unterspülen in Sekunden Fundamente, Gebäude aus Stein kommen als Pappkonstruktionen daher, denen sogar die Würde eines einzigen Aufbäumens genommen wird, um dann von den Wassermassen zermalmt im Wirbel des geisterhaften Stroms unterzugehen. Was bleibt, ist die Hilflosigkeit, die Ohnmacht. Erschlagen und gerädert starrt man in die zur Nacht gewordene Umgebung und folgt ungläubig und apathisch den Bildern, die in den Nachrichten gezeigt werden.
Grenzen fallen. Die der Wahrnehmung und die historischen territorialen. Erst langsam dringt ins Bewusstsein, dass wir mit den Tagen der Unwetter zu Zeugen humanitärer Katastrophen unvorstellbarer Dimension geworden sind. Zu reißenden Flüssen angeschwollene Bäche haben einige Gegenden auf immer verändert, Bauernhöfe verschwanden vom Erdboden, Siedlungsgebiete wurden zu unbewohnbaren Gegenden. Mithilfe der Einheimischen, der Feuerwehren, der Milizsoldaten, der Freiwilligen wurde das Überleben in notdürftiger Weise ermöglicht. Noch Tage und Wochen nach der Tausend-JahrKatastrophe im Norden Sloweniens sind Helikopter zu Nahversorgern geworden, in einigen Gegenden wird es noch Wochen dauern, bis die weggerissenen Zugangsstraßen wieder befahrbar sind. Es gibt wohl keine menschliche Kraft, die dieses Toben der Natur aufhalten hätte können. In manchen Gebieten leben die Menschen in ihren engen Tälern seit tausend und mehr Jahren, die bei solchen in einem Jahrtausend sich ein einziges Mal wiederholenden Katastrophen einen hohen Preis fürs Dasein zahlen. Črna im Kärntner Teil Sloweniens, Globasnitz/Globasnica im österreichischen Teil und Luče im Savinja-Tal hinterm Paulitschsattel über Eisenkappel/Železna Kapla in Kärnten wurden besonders mitgenommen, und man fragt sich, wie die Menschen diesen Herausforderungen gewachsen sein können. Egal, was sie an Übermenschlichem taten, der Schaden bleibt enorm und die Zukunft ihres Zuhauses in einigen Gegenden existenziell infrage gestellt.
Auch stellen sich mittlerweile die Menschen die Frage, ob man zum Teil vergessen habe, wie mit hereinbrechenden Wässern zu leben ist, insbesondere in Orten, wo in den vergangenen Jahrzehnten dem Wasserschutz, aus Kurzsichtigkeit, geringe Bedeutung beigemessen wurde – oder ob die dafür bestimmten Gelder in den Kanälen von politischen Interessen und Korruptionsgier versickert seien, worüber man derzeit in Slowenien immer lauter tuschelt.
Das Leid entlang der Grenze ist grenzenlos
Wasser-Marshallpläne werden vom Staat gefordert, um demografische Katastrophen abzuwenden, um Ersatzhäuser aufzustellen, den Unterricht zu garantieren und den Tourismus aufs Neue zu beleben. Diesseits und jenseits der Grenze ist das Leid grenzenlos, es gibt zahlreiche gegenseitige Solidaritätsbekundungen und materielle Hilfen, um den im Schicksal vereinten Menschen allmählich die Normalität wiederzubringen. Man kommt sich im Leid näher und sieht über die kurzfristigen Ausgrenzungen an den staatlichen Grenzen hinweg, auch wenn diese Jahrzehnte währten. Denn die Jahrtausend-Wasser haben eine andere, tiefere Dimension. Der Schlamm der Muren hat vielleicht die letzten Vorurteile unter sich begraben und den Weg zueinander geebnet. Er hat die Grenzen nichtig gemacht.
Lojze Wieser ist Verleger aus Klagenfurt/Celovec. Schwerpunkt seines Programms ist die südosteuropäische Literatur. Er veröffentlichte zuletzt „Geschmackshochzeit 3: Die Vermählung von Alpen und Adria“.
© Karlheinz Fessl
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